Angemessen? Leben mit Hartz IV
Immer wieder kommt eine Debatte auf, ob die staatliche Unterstützung für arbeitslose Menschen in Deutschland angemessen ist. Ermöglicht der Hartz IV-Satz ein angemessenes Leben in Deutschland? Eine persönliche Reportage über das Aufwachsen mit Hartz IV
Als Kind war es für mich völlig normal, sich nicht alles leisten zu können - Ich habe schon früh gelernt, dass ich mir nur das wünschen kann, was im Angebot ist. Und so scannte ich die Kühlregale ab nach roten Rabatt-Etiketten und studierte Werbeeinlagen nach besonderen Angeboten. Für mich war das damals nicht weiter schlimm, denn ich kannte es nicht anders, für mich waren meine Klassenkameraden, die in Einfamilienhäusern wohnten einfach reich. Und wir waren arm. Wenn ich heute allerdings darüber nachdenke, wird mir bewusst, was diese Kindheit in mir ausgelöst hat, und vor allem: Dass ich mich sehr glücklich schätzen kann, dass ich auch noch eine andere Seite des Lebens kennengelernt habe.
In Deutschland herrscht relative Armut - Das heißt, dass hier niemand unter existenzieller Armut leidet/leiden muss und Hunger leidet. Innerhalb unserer wohlhabenden Gesellschaft gibt es aber Menschen, die viel weniger als durchschnittlich besitzen und verdienen, das wachsende Prekariat. Problematisch ist vor allem, dass gewisse Gruppen von dieser Verarmung stärker bedroht sind als andere: Das betrifft Migrantinnen und Migranten, Rentner*innen aber auch zum Beispiel die Kinder von armen Menschen. Und ich war beides: Meine Eltern wanderten in den frühen 90er Jahren aus der Mongolei aus, auf der Suche nach einem besseren Leben. So einfach war das dann aber leider doch nicht, und mein Vater verließ schließlich unsere Familie.
Wenn man arm ist, dreht sich plötzlich alles um Geld: Jede Aktivität, jeder Einkauf und jede Beschäftigung wird in ihren finanziellen Wert aufgewogen und auf dieser Basis überlegt. Diese Einschränkung der individuellen Freiheit ist mitunter eine der schlimmsten Folgen von relativer Armut; sie ist Teil einer Deprivationserfahrung, die das Leben der betroffenen Menschen nachhaltig beeinflussen kann. Mit dieser Einschränkung hängen häufig geringere Bildungs- und Entwichklungschancen zusammen, so konnte sich meine Familie beispielsweise keinen Musikunterricht leisten, keinen Sportverein oder Theaterbesuche. Darüber hinaus bedeutet es auch soziale Exklusion und nur eine geringe Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: Nur mit viel Mühe konnte es mir meine Mutter ermöglichen, an Aktivitäten teilzunehmen, an Klassenfahrten oder an kostenlosen Angeboten sozialer Einrichtungen. Und dazu sind in der Regel lange Anträge auf staatliche Förderung notwendig, viele Stunden auf dem Sozialamt und jede Menge Engagement. Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass meine Mutter diese Mühe auf sich nahm. Denn Aufgeben ist häufig die einfachere Option.
Und das ist das, was ich häufig an den Kindern in meiner Nachbarschaft sah: Mit oftmals überforderten, deprimierten und kraftlosen Eltern spielten sie tagtäglich auf der Straße, ohne große Beachtung oder Förderung. Wenn ich heute in meine alte Nachbarschaft zurückkehre, meine alte Heimatstadt besuche, sehe ich viele bekannte Gesichter hinter den Kassen oder im Service. Und das sind die, die nicht auf die schiefe Bahn gerieten. Das zu sehen tut mir manchmal Leid, und es kommt mir so vor als würde sich diese Situation noch weiter verschärfen: Was wir in Deutschland beobachten ist die Spaltung der Mittelschicht. Und dies geschieht nicht nur in Deutschland, sondern in vielen modernen, sozial-kapitalistischen Gesellschaften in Europa: Die Digitalisierung wird zu einer weiteren Revolution der Arbeit und der Gesellschaft als Ganzes führen, aller Voraussicht wird sie viele Jobs des Mittelstandes obsolet machen. Und es wird noch schwieriger werden, da raus zu kommen.
Ausgehend von meiner eigenen Erfahrung schließe ich, dass es absolut notwendig ist, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen. Wir müssen uns essentielle Fragen stellen: Wie können wir ein ökonomisches System schaffen, welches Wohlstand und Sozialstruktur vereint? Wie schaffen wir flexiblere Arbeitsmodelle, die den Arbeitsmarkt für alle Bürger*Innen zugänglich macht? Wie können wir das sozialstaatliche Modell ausbauen, sodass es wirklich jeden auffängt?
Dieser Ansatz mag idealistisch wirken, tatsächlich müssen wir aber damit rechnen, dass wenn wir diese Fragen nicht freiwillig diskutieren, sie eines Tages nicht mehr zur Auswahl stehen. Wenn wir den Wandel nicht gestalten, werden wir nicht aufhalten, aber müssen ihn dann so ertragen, wie er kommt.
Quelle: http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/125771/jeder-sechste-von-armut-bedroht-28-03-2012