Alltag
Der Höhepunkt für Johannson war das Internationale Oktoberfest. Außerdem läuft zur Zeit auch das Wratislavia Cantans Festival, bei dem die ganze Region die Puppen tanzen lässt.
Ich hab einige Zeit nicht geschrieben, weil nichts Besonderes passiert. Es passiert nicht viel Besonderes weil ich endlich diese letzte, sinnloseste Hausarbeit schreiben muss und darum nichts ist mit Spaß und Verreisen. Nieder mit den Kulturstudien.
1. Magdeburg hat es nie gegeben!
Trotz der Arbeit und dem Praktikum hatte ich seit Studienbeginn kein so entspanntes und an der eigenen Freude orientiertes Leben.
Nach Dienstschluss einfach mal nichts zu tun zu haben, nichts vorbereiten zu müssen, nur durch die Stadt laufen, eine Ausstellung zu besuchen, wirkt immer noch irreal. Wie übrigens auch die Zeit davor.
Ich beobachte das alte Zeitparadox im Ausland. Es fühlt sich an, als wäre ich erst zwei Tage hier, andererseits scheint Magdeburg so fern, dass man sich fragt, ob es überhaupt statt gefunden hat. Eher wie ein Abstecher zwischen Torun und Wroclaw. Gleichzeitig scheint es ausgemacht, nicht mehr dorthin zurück zu müssen, dass man ohne Probleme einfach hier bleibt, wie damals in England, bevor einem das Gegenteil eingeprügelt wurde.
2. The Empire strikes back
Damals in England, das ist das große Thema zur Zeit. Hat man bisher alles in ungesundem Maße daran gemessen, haben die sentimentalen Vergleiche jetzt inflationäre Dimensionen angenommen. Das Wetter ist wie in England, die Integration in den Alltag, das beginnende Sprachgefühl, die bizarren Alltagsworte, die jetzt einfach hängen bleiben...Stellt Euch nur mal vor ich hatte von damals einen Komplex mitgenommen.
3. Easington Officials' Club
Passend dazu ist am 13.09. Rebekka für ein paar Tage vorbei gekommen. Ich habe ihr Stadt & Land aus meiner Sicht gezeigt, auch wenn es leider gerade sehr kalt war. Sie hat sogar eine Tour durch die Synagoge bekommen, mehr als ich. Ich war letztens auch im jüdischen Informationszentrum, wo man über das Interesse sehr irritiert war.
Immerhin erfuhr ich, dass die gesamte Synagoge für zwei Mio. Euro renoviert werden soll. Und das bei Gemeinemitgliedern, die Trabbis fahren.
4. Schöner waschen
Beim letzten Mal Wäsche waschen bei Freunden wurde gerade Essen gemacht: natürlich blieb ich viel länger. Ein junger deutsche Architekt und seine französisch-polnische Freundin. Getroffen in Spanien, studiert in Karlsruhe, jetzt in Wroclaw. Zuerst war es nur belgisches Bier, als das alle war wurde furchtbarer Grappa rausgeholt, als der alle war kam eine Flasche Vodka aus dem Schrank. Bis elf wurde in der wundervollen, immer verrauchteren Küche diskutiert, was für ein Verbrechen die 80er waren.
5. Schöner wohnen
Bei mir zu Haus hab ich mein Zimmer wieder allein. Bisher wohnte ich nur mit Mariusz, dem fernsehabhängigen Kuchenbäcker. Letzten Freitag zog Magda in sein Zimmer und er zu mir. Aber jetzt hat er neue Arbeit und neue Wohnung und ist darum heute raus.
Unter Zurücklassung einiger Kuchenreste und Mitnahme des Modems. Daher Internet nur drahtlos und unregelmäßig durch die Wand von unwissenden Nachbarn.
Magda wurde gleich von ihrer Familie eine Ladung Schnitzel geliefert und ich selbstverständlich eingeladen.
Danach: Kuchen. Dabei haben wir mal richtig gesprochen, endlich vernünftige Übung jeden Tag. Neben der Sprachpraxis ist es schön, nette und interessante Mitbewohner zu haben. Man muss nicht mehr das Abendprogramm zu durchforsten, um unter Menschen zu kommen. So kriege ich ohne Mühe genau was ich will, leben mit den Einheimischen, Kontakt zu ihrem Alltag.
Darum schaue ich nebenbei doch, ob es in Lodz keine hübsche WG gibt, statt mit den Erasmuskindern und ihren nationalen Cliquen zu wohnen und vielleicht am Ende noch einen Deutschen auf der Bude zu haben.
6. Schöner lernen
Zur Sprache bekomme ich jetzt auch reihenweise Antworten auf meine Tandemplakate. Die Studenten kommen wohl zum neuen Semester zurück. Gestern hatte ich das erste Treffen, was dann gleich so nett war, dass wir vier Stunden in der Kneipe blieben. So bessere ich auch meine bisher so beschämende Ausgehbilanz auf.
Als wir gerade gehen wollten, haben Sie im Pub den Hippiefilm "Hair" gezeigt, das Abschlusslied sangen alle mit. Eine vollkommen betrunkene Spanierin mit Rastas gab hilfreiche Kommentare, bis sie von ihrem grinsenden Begleiter rausgeführt wurde.
7. Tandem: am besten mit Fahrrad
Jeden solchen Abend ist man über sein Fahrrad froh, weil man sich nicht mehr auf die Straßenbahn verlassen muss. Von dem ist mir am ersten Tag zwar gleich ein Pedal und der Ständer abgefallen. Soviel zu schneller und freier. Das wurde mir dann aber vorbildlich repariert und jetzt genieße ich einen halbierten Arbeitsweg, morgens eine halbe Stunde mehr Schlaf und bin an fast jedem der so zahlreichen lohnenden Orte in maximal 20 Minuten.
Das Schloss ist zwar auch kaputt und noch in Reparatur, aber die Pförtner auf der Arbeit lassen mich das Rad im Heizraum abstellen, wo es keiner sieht. Putzfrauen und Pförtner, sollte man immer gut mit stehen, denn sie haben die Schlüssel.
8. Ultraschall
Kulturell entschädige ich mich weiter für Magdeburg. Manchmal hatte ich ja gedacht ich glorifiziere andere Orte nur. Aber dann kommt man hierher und es ist wirklich ein Geist und ein Leben in der Stadt, das man zwar noch von früher kannte, aber inzwischen dem eigenen Gedächtnis nicht mehr abnahm.
Zur Zeit läuft das große und großartige Wratislavia Cantans Festival, wo man ein paar wirklich heftige Stimmen rangeholt hat und zwei Wochen lang in der ganzen Region die Puppen tanzen lässt. Begleitet von erstklassigen Orchestern singen die dann in den schönsten Räumen der Stadt klassische Musik, vor allem Barock.
Das kostet dann zwar auch was, aber ich nach zwei Jahren Wüste wollt ich mir mindestens ein Konzert anhören. Darum am 10.09. Händel in einem der Barocksäle der alten Uni, ausverkauft bis auf den letzten Platz.
Der englische Kontratenor trällerte, dass der Marmor von den Wänden schepperte. Dann las er seine drei Sätze Polnisch vom Papier und der Saal stand Kopf. Das Fahrrad konnte ich bei der Pförtnerin im Nebengebäude unterstellen.
9. Bake Friends
Wann ich in einer Stadt ankomme, erkennt man, wenn ich meine Bäckerei gefunden habe. Hier in Wroclaw ist es ein kleiner Laden nicht weit von der Arbeit. Die Bäckerin ist etwas älter, freut sich jedes Mal, wenn ich reinschaue und empfiehlt die frischesten Sachen.
10. Im Schafspelz
Hier in Polen gehe ich oft in die Kirche. Das katholische Kollektive, die Rituale mit Weihrauchschwenken und vielen Liedern mit Text auf Leinwand und Wechselrede und der Sing-Sang des Pfarrers machen Spaß.
Vor allem abends, wenn es jetzt schon früher dunkel und kalt wird, auf dem Weg zur Kirche oder beim Spazieren, Kinder es hat sowas heimeliges an sich, ich hole bald meine Laterne raus.
11. Das Oktoberfest
Höhepunkt war natürlich das International Oktoberfest, das die fünf großen, bilateralen Handelskammern der Stadt organisiert haben. Für Chefin und Kollegin war das Riesenstress, aber mir hat das trotz Anzugpflicht bisher am meisten Spaß gemacht. Vielleicht weil man mal draußen war und etwas größeres zu tun hatte als die normale Büroarbeit. Kalt war es immer noch sehr, aber nach einem Januar ohne Heizung an der englischen Nordostküste hatte ich die Erfahrung, die den Kollegen fehlte.
Knapp tausend Manager, Diplomaten und Offizielle bedankten sich auf der Bühne bei allem und jedem. Dann plünderten sie das Bufet, als würden sie zu Hause nichts kriegen. Und ich stand zwei Fuß neben Steffen Möller leibhaftig! Sein Standardprogramm war etwas abgegriffen, aber die spontanen Einlagen später richtig gut.