Allein, allein - Einsamkeit als neue Volkskrankheit?
Immer mehr Ratgeber und Online-Foren widmen sich einem besonderen Leiden, der Einsamkeit- Leben wir also in einer vereinsamten Gesellschaft? Woran liegt das und was löst das in uns aus?
In meiner Arbeit in einem Sozialzentrum in einem sozialen Brennpunkt von Frankreich, aber auch in meinem vorherigen Engagement in deutschen Flüchtlingsheimen ist mir eine Sache immer wieder aufgefallen: Die Einsamkeit vieler Menschen. Gerade wenn sie aus Kulturen kommen, die normalerweise sehr familiär sind, in denen Nachbarschaft viel zählt und man häufig in Vereinen oder in religiösen Gruppen stark eingebunden ist, erleben sie Europäer häufig als sehr kalt. Ich habe schon häufig versucht, zu erklären, warum man hier jemanden nicht sofort zu sich nach Hause einlädt, warum Familienfeiern in sehr kleinen Rahmen gefeiert werden und warum man hier seine Nachbarn kaum kennt. „Wir legen mehr Wert auf Privatsphäre.“ Ist eine meiner häufigen Antworten. Aber stimmt das wirklich? Und ist das wirklich gut so?
Die Medien quellen über mit Artikeln und Reportagen, die das Thema Einsamkeit erfassen zu versuchen: „Volksproblem Einsamkeit“ (SRF), „Neue Volkskrankheit“ (ORF) oder die „Tödliche Epidemie der Moderne“ (Cicero Online). Alle diese Beiträge sind randvoll mit Statistiken, alarmierenden Botschaften und Selbsthilfe-Anleitungen. Sie klingen, als würde sich Einsamkeit seuchenmäßig ausbreiten, als wäre sie hoch ansteckend. Und tatsächlich kann sich Einsamkeit auch körperlich äußern, mit Entzündungen und Kopfschmerzen zum Beispiel. Den dramatischen Statistiken zufolge leiden Einsame aber auch häufiger an Diabetes, Krebs, Alzheimer, Depressionen und Alkoholsucht. Einsamkeit soll schlimmer sein als Übergewicht, schlimmer als Kettenrauchen. Aber sind wir nicht alle ein bisschen einsam? Sollten wir jetzt alarmiert sein?
Und warum sind wir überhaupt so einsam? Den Begriff kenne ich aus anderen Generationen kaum, weder meine Großeltern noch meine Eltern schienen je längere Zeit richtig einsam gewesen zu sein, sie waren stets fest eingebunden in sozialen Gefügen: Familie, Ehe, Nachbarschaft, Verein, Büro, Schrebergarten. Und wo Soziabilität früher notwendig war und natürlich, ist sie heute eher zur Wahl und fast schon lästig geworden. Wie häufig warte ich vor meiner Tür, wenn ich einen Nachbarn höre, nur um nicht in unangenehmem Smalltalk verwickelt zu werden? Wie selten besuche ich meine Familie, weil ich das einfach nur noch stressig finde? Würde ich mich wirklich in ein volles Büro setzten, wenn ich auch allein in einem Cafe arbeiten kann?
Die Ursachen der Einsamkeit sind vielfältig: Demografischer Wandel, das Verschwinden der traditionellen Familie, immer mehr Single-Haushalte und die fortschreitende Urbanisierung. Manchen Wissenschaftlern zufolge ist es auch das Internet, das uns soziale Kompetenzen raubt, uns vereinsamt und uns auch noch echtem, menschlichen Kontakt raubt. Tatsächlich kann man Einsamkeit wissenschaftlich aber kaum erfassen, und einen allgemeinen Anstieg kann man kaum belegen. Viele Angebote des Internets, Facebook und Tinder zum Beispiel, ermöglichen auch viele soziale Interaktionen, die sich dann nicht nur im Internet abspielen. Gerade für viele sexuellen Minderheiten bietet das Internet viel mehr Spiel-und Freiräume, PartnerInnen zu finden, und generell, über das Sexuelle hinaus lernt man mithilfe der internationalen Vernetzung Menschen mit ähnlichen Interessen und Ideen kennen, die man sonst nicht kennenlernen könnte.
Was ist Einsamkeit denn überhaupt? Die Psychologin Sonia Lippke definiert Einsamkeit als folgend: Einsam ist, wer unglücklich alleine ist. Sind es dann aber wirklich die Menschen, die einem fehlen? Oder ist es eher das Gefühl, beachtet, gebraucht und geliebt zu werden? Daher ist Einsamkeit eine sehr subjektive Krankheit und ist schwer zu messen: Auch jemand, der objektiv stark gesellschaftlich eingebunden ist, der viele Freunde und eine große Familie hat, kann sich subjektiv einsam und allein fühlen. Daher würde ich Einsamkeit eher als Mindset betrachten - Als eines, welches unsere Gesellschaft kultiviert, was aber auch einfach wieder gebrochen werden kann. Wenn man seine Komfortzone verlässt, dem Nachbarn auch einfach mal ein paar Fragen stellt und vielleicht einfach mal Treffen initiiert, wird sich auch weniger einsamen fühlen. Vielleicht müssen wir wieder anfangen, mehr Kompromisse einzugehen, mehr zu verzeihen und weniger individualistisch zu sein - Vielleicht können wir dann auch wieder mehr die Gemeinschaften wertschätzen, in denen wir leben.
Den Menschen, den ich versuche, diese europäischen Gesellschaften zu erklären, sage ich auch immer wieder: Lasst euch nicht entmutigen, haltet eure Gemeinschaften aufrecht und versucht das auch euren deutschen/französischen Mitbewohnern beizubringen ;)
https://www.svz.de/ratgeber/liebe-flirt-partnerschaft/volkskrankheit-einsamkeit-id19451901.html
https://www.stern.de/neon/herz/psyche-gesundheit/einsamkeit--warum-sie-uns-alle-treffen-kann-und-was-dagegen-wirklich-hilft-7985036.html
https://www.stern.de/neon/herz/einsamkeit--warum-leiden-so-viele-jungen-menschen-darunter--7848546.html
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