Äthiopiens Willy Brandt
Fast 50 Jahre nach Willy Brandts Verständigungspolitik durchleben Äthiopien und seine ostafrikanischen Nachbarstaaten unter dem neuen Premier Abiy Ahmed eine unvorhersehbare Entwicklung - erleben wir gerade einen Wandel durch Annäherung 2.0?
Am Ende sind es doch 20.000 geworden, die die Frankfurter Commerzbank-Arena in ein grün-gelb-rotes Meer verwandelten; "Ethiopia-Ethiopia"-Rufe hallen über die Tribünen, wo sonst die Fangruppierungen der Frankfurter Eintracht ihr Team anfeuern. Sie sind aus ganz Europa angereist, in ihren traditionellen Gewändern bekleidet warten die zahlreich erschienenen Exil-Äthiopier nur auf einen Mann, den sie seit Monaten als einen neuen Messias verehren. Friedensschluss mit dem Erzfeind Eritrea, nie für möglich gehaltene innenpolitische Reformen – tatsächlich hat Äthiopiens neuer Ministerpräsident Abiy Ahmed, der an diesem Oktobertag von Hunderten bedruckten T-Shirts lacht, seit seinem Amtsantritt im April 2018 eine Euphorie im zweit bevölkerungsreichsten Staat Afrikas entfachen können wie kaum ein Staatsoberhaupt vor ihm. Die Welt wird Zeuge einer Neuauflage von Glasnost und Perestroika im zehntgrößten Staat Afrikas - kaum zu glauben angesichts einer scheinbar aussichtslosen Situation nur wenige Monate zuvor. Was unterscheidet ihn von den anderen Politikern Afrikas?
አዲስ ጅምር – Neustart auf Äthiopisch
Antworten auf jene Frage kann man nicht ohne Blick auf die bewegte Vergangenheit finden. Nach italienischem Angriffskrieg sowie über einem halben Jahrhundert unter Monarchie und Sozialismus schien auch der Versuch seit 1991, die Demokratisierung im äthiopischen Vielvölkerstaat umzusetzen, kein Garant für dauerhafte Stabilität zu sein. Tatsächlich war seither vielmehr die faktische Aufspaltung des Landes in eine ethnisch strukturierte Föderation Ergebnis als eine pluralistische Antwort auf die große äthiopische Frage, wie die 120 (teils rivalisierenden) ethnischen Gruppen sowie die über 80 gesprochenen Sprachen in einen funktionierenden Gesamtstaat integriert werden können. Debatten und Schlichtungsversuche - sofern überhaupt begonnen - wurden eingestellt und durch die rohe Sprache der Gewalt ersetzt; Bilder von brennenden Autos und Fabrikhallen zeugen von der innenpolitischen Unruhe, die im Sommer 2016 ihren traurigen Höhepunkt erreichte.
"Wachsende Ungleichheit, mangelnde Angebote an Arbeitsplätzen und grassierende Unterernährung wirkten zu stark auf die Perspektivlosigkeit der jungen Generation aus - in einem Land, wo 70% der 108 Millionen Einwohner unter 30 Jahre alt sind"
Seit Abiy Ahmed im April 2018 die Regierungsgeschäfte leitet, bleibt jedoch kein Stein mehr auf dem anderen. In den ersten vier Monaten setzte er nicht nur die Aufhebung des Notstandes durch – der seit den Protesten der Opposition 2016 immer wieder verlängert wurde und staatlicher Willkürlichkeit eine Rechtsgrundlage bot – sondern wirkte durch seinen optimistischen Tatendrang vielmehr als Katalysator für ein vielschichtiges Reformprogramm. "Ein frischer Wind weht durch Äthiopien", war nur eine von vielen Schlagzeilen, die das veränderte Klima am Horn von Afrika zu beschreiben versuchten. Im Gegensatz zu vielen seiner afrikanischen Amtskollegen bleiben die von Ahmed angesprochenen Reformen nämlich nicht nur wage Ansätze: die Befreiung Tausender politischer Gefangener, die Aufhebung der Internetblockade von mehr als 250 regierungskritischen Webseiten oder der Aufruf zur Rückkehr kritischer Medien sind mehr als nur Beweise für jenen "äthiopischen Frühling".
"80 Leute der EPRDF haben mich zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl es weit mehr als 100 Millionen Äthiopier gibt"
Die innenpolitische Metamorphose erscheint umso beachtlicher, wenn man noch in Erwegung zieht, dass Äthiopien vor Abiys Machtantritt auf Rang 150 des Pressefreiheitsindex lag; nur wenige Monate später finden sich führende Oppositionspolitiker in den Vorständen des Staatssenders genauso wieder wie unabhängige Aufseher in den Nachrichtenagenturen. Dabei arbeitet Ahmed auf ein Ziel hin: am Ende seines Demokratie- und Reformprozesses sollen die lang angestrebten freien und fairen Wahlen 2020 stehen, eine Zäsur gegenüber den pseudodemokratischen Abstimmungen vergangener Jahre. Schon während seiner Amtsvereidigung kritisierte er das äthiopische Demokratiedefizit mit der Bemerkung, dass nicht etwa die über 100 Millionen Bewohner Äthiopiens, wohl aber die 80 Mitglieder der seit 1991 allein regierenden Partei EPRDF ihm durch Wahlen das Vertrauen als Ministerpräsidenten schenken konnten.
Der äthiopische Trudeau oder ein Erbe Willy Brandts?
Die von Abiy angestoßenen innenpolitischen Reformen kommen zum richtigen Zeitpunkt und sind in einer dem Populismus immer mehr zugewandten Welt ein Leuchtfeuer für freiheitlich-demokratische Bewegungen. Unlängst erkannte auch Frankfurts Bürgermeister Uwe Beck die Bedeutung des politischen Umschwungs in Äthiopien an, könne doch das Land "ein Ideal für die Zukunft eines ganzen Kontinents" werden. Umgeben von instabilen Nachbarländern wie Somalia oder Südsudan, aus denen uns täglich Nachrichten von terroristisch motivierten Anschlägen und mafiaähnlichen Strukturen erreichen, erscheinen Meldungen über umgesetzte Wirtschaftsreformen, Schlichtungsversuche zwischen verfeindeten Ethnien und bedingungslose Amnestie für verhaftete Oppositionelle als Segen. Nicht nur Äthiopien selbst – eine ganze Region wird Teil einer Tauwetterperiode, die noch nicht absehbare Veränderungen mit sich bringen wird.
Ernsthafte Bemühungen, eine neue Phase einzuleiten, wurden der Öffentlichkeit erstmals bei der Zusammenstellung der neuen Regierung vor Augen geführt: Bestanden die früheren Kabinette des Ministerpräsidenten aus bis zu 30 verschiedenen, vordergründig männlichen Ministern, versteht sich die auf 20 Posten verkleinerte Regierung als deutliches Signal für den Neuanfang und gegen das konservative Gedankengut der alten Herrschaftseliten. So ist die Hälfte der Ministerposten von Frauen besetzt, zentrale Schlüsselpositionen wie das Verteidigungsministerium oder das Präsidentenamt sind nicht länger von männlicher Hand dominiert - Erinnerungen an die zur Hälfte aus Frauen bestehende Regierung unter Kanadas Premier Justin Trudeau werden wach.
"...eine ganze Region wird Teil einer Tauwetterperiode, die noch nicht absehbare Veränderungen mit sich bringen wird"
Gewiss auf alle Zeiten im deutschen Gedächtnis verankert sind noch die Bilder des in Warschau knienden Willy Brandts, sein Besuch 1970 im 'Erfurter Hof', die Menschenmassen am 9. November 1989 in Berlin. Momente, die die deutsche Identität bis heute prägen und in fast 20 Jahren einer ganzen Region neue Hoffnung schenkten. Innerhalb von gerade einmal vier Monaten, von April bis Juli 2018, erlebte Äthiopien in einer nie für möglich gehaltenen Periode sein eigenes Ende des Eisernen Vorhanges.
Vertrat Willy Brandt nach seinem Amtsantritt 1969 den Ausruf, mehr Demokratie zu wagen, und ließ jenem Vorhaben zahlreiche Meilensteine der deutschen Innenpolitik folgen, so appellierte Abiy Ahmed während seiner ersten Rede als Premier an alle verfügbaren Kräfte auf äthiopischem Boden, von Europa lernend das eigene Land neu aufzubauen. Beiden gemeinsam ist ihre Ernsthaftigkeit und der Wille, die Gesellschaft samt den bestehenden politischen sowie sozioökonomischen Verhältnissen von Grund auf zu reformieren, um so langfristig mit den Mitteln der Verständigung eine stabile Basis für Demokratieverständnis und Zusammenarbeit zu schaffen.
"Weder Brandts Ostpolitik, noch Ahmeds Versöhnungsaufrufe hätten zu merklichen Veränderungen geführt ohne Aufarbeitung, Akzeptanz und Annäherung"
So wurde erst unter der Kanzlerschaft Brandts das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt, eine eindeutige Einladung an die junge Generation der Bundesrepublik hinsichtlich der frühzeitigen politischen Partizipation. Um die Bedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern, zögerten weder Brandt noch Ahmed mit der Umsetzung dementsprechender Maßnahmen: einerseits das im Januar 1972 umgesetzte Betriebsverfassungsgesetz, welches die Möglichkeiten zur Mitbestimmung von Arbeitnehmern erheblich verbesserte; andererseits die von Ahmed angestoßene Privatisierung vereinzelter Wirtschaftszweige, um neue Arbeitsplätze für die rasant wachsende Bevölkerung zu schaffen. Auch dass die Politik immer schon von aussagekräftigen Momenten lebte, wussten beide Staatsmänner geschickt zu verbinden: Sowohl Willy Brandts Kniefall am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos, als auch Ahmeds Antrittsrede, in welcher er offiziell um Vergebung für die Gräueltaten der Vorgängerregierungen bat, stehen doch für das vorhandene Bewusstsein, die eigene Reformbewegung nur dann zum Erfolg zu führen, wenn die eigene Vergangenheit aufgearbeitet ist. Bedarf es einer Änderung der politischen Gegenwart, so konnte diese keineswegs ohne den sozialen Ausgleich und der Entschärfung spannungsgeladener Beziehungen umgesetzt werden; weder Willy Brandt mit seinem Konzept der neuen Ostpolitik, noch Abiy Ahmed mit seinen Versöhnungsaufrufen zwischen den Völkern am Horn von Afrika hätte zu merklichen Veränderungen geführt ohne Aufarbeitung, Akzeptanz und Annäherung.
https://www.ft.com/content/abe678b6-346f-11e9-bb0c-42459962a812
https://www.nzz.ch/meinung/frieden-gibt-es-nicht-umsonst-ld.1431566
https://www.bbc.com/news/world-africa-46735703
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afrika/aethiopien-blutige-proteste-gegen-die-regierung-14377891.html