Adieu Bordeaux: Über den letzten Abend an der Garonne
Der letzte Abend in einer Stadt, die bis vor kurzem noch ganz fremd war, ist schmerzhaft und schön zu gleich. Zwischen Bleiben und Gehen, ziehen Momente vorbei und lassen das Geschehen noch einmal ganz neu erleben.
Partir, c'est laisser un peu de soi-même en toute heure et dans tout lieu.
Edmond Haraucourt in Rondel de l'adieu (1890)
Am Freitag Abend stehe ich mitten in vorbeiströmenden Menschen am Place de la Bourse. Der Himmel glüht, die Wolken strahlen und die Nacht ist warm. Die Stadt ist an diesem Abend voller Leben, überall Menschen, die Wein trinken und picknicken, spazieren, tanzen, rauchen und lachen. Auf der seichten Wasserfläche des Mirroir de l´Eau spiegelt sich die herrschaftliche Fassade von Bordeauxs bekanntestem Wahrzeichen und in der Ferne dreht sich langsam ein blau-weiß leuchtende Riesenrad am Himmel. Kurz steht die Zeit still: Ich stehe dort und bin gefangen im Gegenwärtigen, in der Schönheit dieser Stadt, in ihrem kulturellen Reichtum, ihrer Wandelbarkeit und ihrer Geschichte. Es ist mein letzter Abend in Bordeaux, ein Abend der besonderes verlangt, weil er einen Wandel markiert, einen Einschnitt, der Neubeginn und Abschied in sich trägt.
In diesem Moment sehe ich die neun Monate, die ich in Bordeaux verbracht habe an mir vorbeiziehen. Momente blitzten auf, ich erkenne die Orte wieder, Orte an denen alles angefangen hat, meine Orte, Orte meiner Freunde. Ich sehe Gutes und Schlechtes, Zweifel und Sicherheiten, das stetig Neue und all das, was längst alltäglich geworden ist, vertraut.
Das schlimmste an Abschieden ist, dass man sie nicht bezwingen kann. Man kann sich noch so gut darauf vorbereiten, sich noch so lange einreden, dass sie nicht absolut sind, aber irgendwann sind sie dann plötzlich da. Ich spüre meinen Abschied schon lange, so richtig aber erst in der letzten Woche. Es ist dieses Gefühl noch einmal alles machen zu wollen, weil man weiß, dass es das letzte Mal sein wird. Noch einmal bei St. Michel Tee trinken, noch einmal durch die engen Straßen in der Innenstadt streifen, noch einmal mit meinen Freunden am Quai picknicken. Ich will so viel wie möglich mitnehmen, die Momente festhalten, keine Sekunde ungenutzt lassen.
Doch dann ist doch alles anders. Ich kann nicht wirklich genießen, weil ich schon in der Zukunft beim Neuankommen bin und weil ich daran denke, was jetzt alles zu Ende geht. Außerdem gibt es viel zu organisieren: Taschen packen, Sachen verschenken, Kofferkapazitäten überwinden und jede Menge Papiere unterschreiben. So ist meine letzte Woche eine seltsame Mischung aus Traurigkeit und Neugier, aus Nostalgie und Genuss. Ich bin nicht richtig da, aber richtig weg bin ich auch noch nicht. Und dann ist da noch die Aufregung vor dem, was kommen wird.
Schon Monate vor dieser letzten Woche, habe ich keine Uni mehr. Durch die studentische Besetzung sind fast alle Kurse bis zum Ende des Semesters im April gestrichen worden. Was wie ein verlockendes Feriensemester klingt, ist in Wahrheit eine Herausforderung, die ich mir lange nicht eingestehen will. Denn mit der Uni fällt auch jegliche Strukturierung meines Alltags weg. Der Großteil meiner Freund*innen arbeitet, während ich den ganzen Tag so etwas wie selbstverantwortliche Ferien habe. Zwar finde ich immer etwas zu tun, aber zugleich merke ich auch, dass ich wieder einen normalen Alltag brauche und vor allem eine richtige Aufgabe. Und so wird mir am Ende klar, dass es an der Zeit ist weiterzuziehen, denn es wartet bereits ein neuer, spannender Abschnitt auf mich. Auch wenn ich Bordeaux verlasse, geht es noch lange nicht nach Hause, sondern nach Straßburg, wo ich für die nächsten sechs Monate mein Praktikum absolvieren werde.
All das ändert nichts daran, dass es mir fehlen wird, mein Bordeaux. Es ist für einen Moment an diesem letzten Abend, als ich am Quai spaziere, an der Uferpromenade der Garonne, wo ich so viel Zeit verbracht habe, wo ich das, was Bordeaux für mich ist, noch einmal so richtig klar vor Augen sehe: Die Gerüche, das Brot in der Bäckerei, die Kunst, die Musik, die zweistündigen Anthropologiekurse, das Meer, vor allem aber die Menschen. Meine Freunde ohne die, all diese Erfahrungen nicht möglich gewesen wären. Und da erkenne ich, dass ich gar nicht so traurig sein muss, weil ich nichts verloren, sondern vielmehr gewonnen habe.
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