7. Platz: 243 Tage, 5 Stunden, 6 Minuten und 4 Sekunden, alles ist ein gesellschaftliches Konstrukt
Die 20-jährige Maria aus Wiesbaden beschreibt ihre Zeit in Rumänien. Es ist nicht einfach, und oft sind ihre Erlebnisse drastisch. Aber drei Worte schaffen es doch, ihre Sicht auf die Dinge grundlegend zu wandeln.
„Heil Hitler!“, bekam ich zur Begrüßung entgegengeschleudert, als zweites Wort kannte ein anderer „Schlampe“ und später sagten sie nur noch „Ich liebe dich“, während wir zu zehnt in der kleinen Küche saßen, ich begraben unter grinsenden Umarmungen, Wodka und umhüllt von schneller, lauter, russischer Gitarrenmusik.
Das Gefühl, wenn ein 30 Passagierflugzeug nach einer bebenden Anfahrt stufenartig in die Luft hinaufsteigt und unter den Füssen nichts mehr bleibt, das den Körper an die Erde fesselt, ist das eines schwerelosen Traumes, in dem der Strom der Gedanken bunte Landschaften der Fantasie bildet und den Träumenden munter auf ein Abendteuer außerhalb aller leiblichen Begrenzungen schickt.
Der Träumende war ich und mein Abenteuer hieß Rumänien. Von dem Gefühl wieder ein Kind zu sein erfüllt, hineingeboren in ein neues Leben, ohne Furcht und Sorge, behütet und erwartungsvoll all das Neue entdeckend, war ich nach dem Flug und der Fahrt mit dem modernen Auto vor einem verfallenen, stuckbedeckten Haus angekommen. Die mittägliche Feier in der Männer-WG entlockte meiner kaum älteren Betreuerin auf dem Fahrersitz ein ärgerliches Grummeln. Nach der für mich nicht gerade spaßigen Begrüßung, flüchtete ich in das Badezimmer. Kaum den Griff der Tür berührt, fiel dieser auch schon aus dem dünnen Holz, das fehlende Toilettenpapier und der tote Hirschkäfer auf der schiefen Toilette ergänzte das Bild.
Rumänien, die Wildheit, die Freiheit, das Chaos, die ungestüme Jugend mit all ihren Fehlern und Wirrungen in denen das Land verfangen zu sein scheint. Die Moderne ist wie eine Bombe eingefallen, Häuser in knalligen, grellen Farben sprießen wie giftige Pilze aus dem Boden, die Haare werden farblich angepasst, nicht selten wird das herannahende Grau mit rot, orange oder lila überdeckt.
Bereits in den ersten Tagen berieselte uns unser kugelbäuchiger Seminarleiter, mit dem plastikartigen Dauerlächeln, das seine Wangen hinauf zu seiner Brille und seinen kurzen, schwarzen Haaren schob, mit seinem prägenden Motto: „relax, no drama, no tragety, we will see“, während wir von der Straße unser erstes rumänisches Wort „pula“ aufschnappten, es lustig fanden und in unbekümmerter Verrücktheit durch die Gegend liefen und „pulaa“ sangen, bis uns jemand sagte, dass es der Name für das männliche Geschlechtsteil war.
Die Spontanität, sich einfach die Zahnbürste und ein frisches Oberteil zu schnappen und mit ausgestreckten Daumen auf die Straße zu stellen. Dann holpert man auf dem löchrigen Holzanhänger eines Lastwagens, die steinigen Landstraßen hinauf, hört sich unangenehm berührt den Monolog eines Priesters an, der mit zornig funkelnden Augen über die Unverfrorenheit von unverheirateten Paaren, die Sex haben, richtet „Jesus sagt, das darfst du nicht“, und hofft inbrünstig, dass er nicht einen selbst, nach dem eigenen Leben fragt. Oder in weniger glücklichen Fällen halten angetrunkene Männergruppen an, die lediglich Frauen mitnehmen, uns zurufen, unsere Freunde können uns nicht versorgen, wir würden gewiss bald den Hungertod sterben und uns als einen letzten verzweifelten Versuch fragen, wie viel wir für Sex haben wollen. Hat die abenteuerlustige Anhalterin tatsächlich einen gütig gesinnten Autofahrer gefunden, der nicht in allgemeinüblicher Rücksichtslosigkeit vorbeigerast ist, oder lediglich anhält, um sein kaputtes Fenster abzukleben, damit der von bösen Geistern beherrschte „curint“; der Zugwind, keinen Schaden anrichtet, hat sie also einen Fahrer gefunden und sich über seine freundlichen Worte bei einem Telefongespräch mit seiner Familie gefreut, kann es dennoch bei anbrechender Dunkelheit in einem Wald, ohne Batterie im eigenen Mobiltelefon, zu angsterfüllten Schweißausbrüchen kommen. Unser Fahrer war davon überzeugt, dass alle Deutschen mit Reichtum Überhäuft aufwachsen und sich nichts sehnlicher wünschen, als in der nächsten Stadt mit ihm persönlich und der Mitfahrerin die ganze Nacht Sex zu haben, wir lehnten dankend ab und so mussten wir, da wir kein Geld dabei hatten, ihm wenigstens unseren Kugelschreiber als Pfand lassen, für das nachzureichende Geld, denn das ist Rumänien, sagte er, money, money, money.
Der Bus wäre die zweite Möglichkeit, voll gestopft mit älteren Herrschaften, die alle dazu verdammt sind, sich stundenlang laute amerikanische Popmusik anzuhören, oder eine sich wiederholende CD, auf der hauptsächlich traditionelle Melodien mit Techno unterlegt und häufiges „lalala“ zu hören sind, während man die grünen, idyllischen dahinwildernden Hügel betrachtet, die den losgelösten Reisenden zu einem Romanhelden des Mittelalters machen und alle Alltagsdämme niederreißen, den Geist im hellen Sonnenschein auferstehen lassen.
Bleibt noch der Zug, besonders im Sommer ein Vergnügen. Enge Abteile, mit plastikbezogenen Sitzen, die kleinen Dörfer flitzen am Fenster vorbei, die Hitze liegt wie eine Schicht umhüllender Decken über dem Körper, das Herz klopft langsam, als wäre selbst das Blut zu träge zu fließen, die Augen werden zurück in ihre Höhlen gedrängt, wo sie flimmernd an Flüssigkeit verlieren. Ein kleiner Junge steht nackt, mit braunem Haar und fast schwarzem Körper auf der vor Hitze staubig dampfenden Schotterstraße, eine winzige Statur in der Weite der gelb, grünen Landschaft, ein Pferdewagen jagt um die Ecke, getrieben von seinem peitschenden Fahrer in neongelber Warnweste.
Ist man dann doch am Ziel angekommen, hat man meist ganz vergessen, dass man auch irgendwo schlafen muss. Der Ankömmling steht vor der Qual der Wahl zwischen 5 Erotikmassagemöglichkeiten, findet jedoch nur ein Kino, in dem lediglich amerikanisches gespielt wird. Die kleinen Lädchen, haben oft kein Wechselgeld, als Tauschwährung fungieren wahlweise Kaugummi, Schokoladenbällchen oder Streichhölzer. Der Abend endet in einer Bar. Als eine „Zigeunerfrau“ mit einem Strauß Rosen im Arm hereinkommt, kaufe ich eine überteuerte ab, sie geht, auf ihrem neuen Handy telefonierend, in den nächsten Laden, um das Geld zu wechseln, zurück kommt sie nie. Als ich schlafend dasitze, drückt mir jemand auf die Augen und beginnt sein Gespräch mit „and what is Hitler doing?“, während er mit seiner Hand meinen Kopf kratzt. Als ich ihn schließlich los bin, kommt ein Punk auf unseren Tisch zugeschwankt, der seit 3 Jahren wieder einmal deutsch reden möchte und uns von seinem paradiesgleichen Deutschland erzählt, indem es keine Schlägereien gäbe, in das er so furchtbar gerne einmal einen Fuß setzen würde, was er alle 5 Minuten wiederholt und außerdem, dass er Rumänien hasse, keiner ihn erst nehmen würde, er nie zur Schule gegangen wäre, er als Rumäne diskriminiert werden würde und so niemals ins Ausland könne. Eine der anderen Freiwilligen meint begeistert, er wäre die Nummer 6 ihrer Tarokarten, die sie für diesen Abend ausgelegt hatte. Ich wollte nur noch weg. Unser Koordinator, der Tuike, Bier, Wein und aus irgendeinem Grund Olivenöl und Essig getrunken hatte, führt uns in das Appartement eines Freundes, von dem es hieß, dass dort auch andere schlafen würden. Was genauer bedeutete, in einem kleinen Zimmer und einer winzigen Küche 14 Leute. Ich schlief auf einem Meter Boden, ohne Teppich. Nach einer halben Stunde bekam ich heftige Bauchschmerzen und die einzige Toilette war nur durch eine papierartige Wand abgetrennt. Die Aufgabe, sich das erste Mal selbst mit Essen zu versorgen, führte zu einer ächzenden Waage und erhöhter Krankheitsanfälligkeit und so lernte ich eines schrecklichen Tages auch die rumänischen Krankenhäuser kennen. Das klapprige, alte Gebäude war ausgestorben, dunkel, Kindergemälden von fliegenden Katzen mit Glasflaschen, in die eine rote Flüssigkeit hineingemalt war, bedeckten die weißgrauen Wände des als Wartezimmer unfunktionierten Flurs, dessen Möbel wohl vom Sperrmüll zusammengewürfelt waren. Der Arzt küsste mir charmant die Hand, konnte jedoch kaum Englisch und spritzte gleich Antibiotikum, die übliche Willkommensprozedur, die ich jedes Mal über mich ergehen lassen musste. Als er mir versuchte die genaue Anwendung eines der 10 mir verschriebenen Medikamente zu beschreiben, zückte er auf den Zehenspitzen stehend das einzige vorhandene Medizinbuch mit Bildern und blätterte nach einer geeigneten Darstellung. Das Einzige, was wir jedoch sahen, waren grässliche Mutationen und Fehlbildungen. Was zu den unliebsameren Momenten während des Freiwilligendienstes führt.
Der Fluss, der still und grau, vom hässlichen Plastikmüll verschluckt zu denen aus kommunistischer Zeit stammenden Wohnblöcken führt, die wie vergiftende Betonklötze in die romantische Schönheit der Umgebung geschlagen dastehen und ihren Schatten auf die herumlungernden Jugendlichen legen. Das seltsame Schnalzen und Murmeln, das besonders ausländische Frauen regelmäßig von allen Seiten kommend hören. Man kennt es aus dem Zoo von vornehmlich ungeduldigen Menschen, die mit ihren Fingerknochen an das Gehege trommelnd versuchen den Bewohner aus seinen Träumen zu reißen. Die Jungengruppe, die mir auf Rumänisch zuruft „Sie versteht nichts. Blas mir einen.“ Kinder, die sich einen Spaß daraus machen, unsere Stromkabeln alle 3 Minuten herauszuziehen.
Die „Zigeunerviertel“, wir überqueren eine wackelige und löchrige Brücke und sind in einer anderen Welt. Die Einwohner laufen uns nach, die Kinder fragen neugierig was wir machen, zeigen auf unsere Ringe und fragen, wo unsere Männer sind, die Erwachsenen blickten misstrauisch drein, während wir 13 jährige Mütter treffen, die wir bereits am Bahnhof haben betteln sehen. Es sieht aus, wie in einem mittelalterlichen Armenviertel. Die Kinder gehen oft nicht in den Kindergarten oder zur Schule, alle sind schmutzig, bunt angezogen, mit zerzausten, filzigen Haaren, braunen Gesichtern und kleinen nackten Füssen. Kaum zu etwas Geld gekommen, kaufen sie sich die große weite Welt in Form einer kleinen, flimmernden Box mit Antenne. Langsam verstehe ich die Menschen besser, die aus einem armen Land, oder einer begrenzten Zeit, in den Wohlstand wechseln und keine Grenzen mehr kennen.
Irgendwann erlangt man an den Punkt, an dem alle Motivation verschwunden ist und man sich ernsthaft fragt, wie man das so schön all den Büchern und Geschichten nach macht, wo der verdammte Sinn denn stecken mag und wo im Endeffekt der Unterschied ist, ob man sich selbst mit ständigem Ehrgeiz quält oder einfach für immer dümmlich vor dem Fernseher sitzt.
Und dann scheint es doch das Schicksal zu geben und trotz aller guten Vorsätze, keine Beziehung einzugehen, trifft man diesen Mann, aus dem weit entfernten Land, der gerade aus der „Wunschmannumfrage“ heraus gestiegen zu sein scheint, aber er sagt, er wäre noch nie verliebt gewesen. Die gleichen Interessen führten zu Beziehungen und es sei schön, wenn jemand da ist, wenn man nach Hause kommt, man gewöhne sich daran und bleibe zusammen.
Und dann denkt man, was ist das denn für eine fürchterliche Sicht auf Beziehungen? Ist es das, was heute von uns erwartet wird, das wir so unabhängig sind, dass kein Platz oder keine Notwendigkeit für Gefühle mehr herrscht? Das wir einfach alle biologischen Bedürfnisse irgendwie befriedigen und sonst nur noch funktionieren? Konsumiert man nur noch andere Menschen, profitiert von interessanten Gesprächen und befriedigt seine biologischen Instinkte? Wo bleibt das Mysterium, das Unerklärliche, die Gefühle, die Liebe?
Und er sagt, Liebe, das ist ein gesellschaftliches Konstrukt, Liebe ist Pornographie.
Und man ist verzweifelt.
Und dann breitet er eines Tages die Arme aus und sagt lächelnd mit gebrochener Stimme und glänzenden Augen: „Ich liebe dich“.
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