Zwischen zwei Kontinenten - Gehört die Türkei in die EU?
Eine Debatte, in der es um mehr als um eine bloße Mitgliedschaft geht – Um die Frage der europäischen Identität. Die Akteure sind wir, die junge Generation im Prozess der Integration, und müssen uns der Frage stellen: Ist die Türkei ein Teil Europas?
Mein Blick schweift zwischen den zwei Ufern: Rechts von mir befinden sich bunt beleuchtete Cafés, sie sich wie Perlen einer Kette aneinanderreihen und auch an der linken Uferpromenade flanieren junge Leute, essen das typische Balık Ekmek, ein Sandwich mit Fisch belegt – Kein sichtbarer Unterschied. Doch hinter diesen Fassaden erstrecken sich zwei ganze Kontinente, die der Bosporus teil: Asien und Europa.
Und diese geografische Gelegenheit prägt die Geschichte der Türkei maßgeblich: Zwischen den Kontinenten entsteht eine einzigartige kulturelle Melange, hin und her gerissen zwischen dem Westen und Osten, dem Christentum und dem Islam, Modernismus und Konservatismus. Wohin bekennt sich die Türkei? Diese Frage wird immer relevanter, denn auch die Beziehungen zu der Europäischen Union werden enger: Bereits am 10.Oktober 1999 wurde der Türkei der Status als Kandidat für eine Vollmitgliedschaft anerkannt, und seither befindet sie sich im Prozess, sich dem rechtlichen Standard der europäischen Gemeinschaft anzugleichen.
Doch im Westen löst dieser mögliche Beitritt eine Grundsatz-Debatte aus, in der es um Kultur und Religion geht: Passt die moderne Türkei in unsere Wertvorstellungen? Ist eine multikulturelle Gesellschaft möglich? Und wie lässt sich die christliche Tradition mit dem Islam vereinbaren?
Leider verliert sich jeder offene und demokratische gesellschaftlichere Diskurs in Polemik, in der auch die historische Perspektive kaum Beachtung findet: Denn tatsächlich umfasste das Osmanische Reich, der Vorgänger der türkischen Republik, viele europäische Staaten: Makedonien, Bulgarien, Serbien, Griechenland, Ungarn, Rumänien… Die Osmanen herrschten somit seit 1300 n.Chr. über den gesamten Balkan und ihre Eroberungsfeldzüge reichten bis nach Wien und im Süd-Westen wurden Teile Spaniens erobert. Ein gewisser Einfluss auf die abendländische Kultur lässt sich so nicht abstreiten – Die Türkei gehört auch zu unserem geschichtlichen Erbe.
Besonders in Deutschland ist die türkische Kultur omnipräsent: Weder Döner noch Lahmacun lassen sich aus unserem Alltag denken, türkische Musik schallt aus kleinen Cafés und Menschen mit einem Bezug zur Türkei begegnen uns tagtäglich. Diese moderne deutsch-türkische Beziehung beginnt mit dem Anwerbeabkommen in den sechziger Jahren: Im deutschen Wirtschaftswunder wurden Gastarbeiten aus ganz Südeuropa angeworben, so auch aus der Türkei. Mittlerweile leben viele Familien der ehemaligen Gastarbeiter in der dritten Generation in Deutschland und haben sich in der Gesellschaft etabliert.
Und so leben über 10 Millionen Türken über Europa verstreut – Was würde also ein Anschluss der türkischen Republik an Europa noch verändern?
Tatsächlich wäre dieser Beitritt ein neues Kapitel in der Geschichte der Europäischen Union, denn erstmals würde ein islamisch geprägtes Land in den Staatenbund aufgenommen werden – Ein Zugeständnis an die muslimische Welt? Ein Kompromiss, der vielleicht die Integration der Muslime Europas katalysieren würde? Ein Schritt in eine religionstolerante europäische Zukunft?
Auch geostrategisch würde sich die Lage der Europäischen Union ändern: Mit einem potentiellen Anschluss würde sich die EU dem nahem Osten annähern und auch an Einfluss in der Region gewinnen. Damit könnte die Türkei auch eine Vorreiterrolle in Demokratie und Menschenrechten werden, und ihre eigenen Konflikte im Osten mithilfe der EU lösen.
Denn so genauso kann sich ein Beitritt auch auswirken: Als Katalysator für die gesellschaftliche Entwicklung hinsichtlich Demokratie, politischer Partizipation und Grundrechten, und als Garant für innerpolitische Stabilität – Ein aktuelles Thema in der Türkei, vor allem im Konflikt mit den Kurden und in der Zypern-Frage. In diesem Sektor besteht auch noch Nachholbedarf für das Land: Obwohl die gesetzlichen Grundlagen größtenteils bereits bestehen, mangelt es an der praktischen Umsetzung und Minderheiten begegnen immer noch Diskriminierungen.
Ein gewichtiges Gegenargument in der Debatte ist der ökonomische Aspekt: Die Arbeitslosenquote von 9,5% trotz des großen Wirtschaftswachstums demonstriert die große soziale Differenz die in der Türkei herrscht – Die Schere zwischen Arm und Reich weitet sich stetig und lässt eine große Welle Wirtschaftsflüchtling in Richtung Europa bei einem Beitritt der Türkei befürchten. Kann die Europäische Union das auffangen, oder würde es eine wirtschaftliche Überforderung? Oder würden wir vielleicht davon profitieren? Denn nicht nur die boomende Wirtschaft würde den europäischen Markt beleben, die Türkei stellt auch einen riesigen potentiellen Absatzmarkt dar.
Ganz abgesehen von dem demografischen Vorteil gegenüber dem alternden Europa – Über 16% der türkischen Bevölkerung sind jünger als 24 Jahre alt, eine neue Generation, die ein großes Potential darstellt: Sie können die Zukunft der Türkei gestalten.
Die Türkei und Europa – Eine spannungsgeladene Beziehung, die bereits vor langer Zeit begann und noch immer ungeklärte Fragen aufwirft. Letztlich lassen sich die Konsequenzen eines Beitrittes zur Europäischen Union nicht prognostizieren, doch eins lässt sich konstatieren: Eine Annäherung an die Türkei wäre mehr als nur eine kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung, auch ein Schritt im europäischen Integrationsprozess.
Weiterführende Literatur und Links:
http://www.buergerimstaat.de/3_05/eu-beitritt.htm
http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei-und-eu/
http://www.europa-links.eu/fakten/die-eu-und-die-turkei-72/
http://www.mfa.gov.tr/relations-between-turkey-and-the-european-union.en.mfa
http://www.debatingeurope.eu/focus/infobox-arguments-for-and-against-turkeys-eu-membership/#.VupSQFdJnIU