Zwischen Museum und Stadt: Wenn moderne Kunst und der Puls der Stadt eins werden
Das Beste daran, eine neue Stadt kennenzulernen, ist das Gefühl zu wissen, dass es hinter jede Straßenecke etwas neues Aufregendes zu entdecken gibt: Ein kleines Café, einen versteckten Second-hand-Laden oder eine kunstvolle Eingangstür. Meistens sind es die Details, die mir das Gefühl geben, eine Stadt in ihrer ganzen Vielfalt durchdringen zu können. In Bordeaux finde ich genau solche Details in kleinen Galerien und verborgenen Gassen auf einem Kunstspaziergang durch die Stadt.
« La dérive se définit comme une technique du passage hâtif à travers des ambiances variées. »
— Guy Ernest Debord
Weil ich in den letzten Tagen aber mehr im Alltag versunken und damit beschäftigt war Formulare auszufüllen und von einem Ort zu anderen zu kommen, habe ich etwas von diesem Blick auf die Stadt verloren. Am Freitag ändert sich das schlagartig: Morgens sitze ich noch in der Uni und höre einen Monolog über Anthropologie und Religion und am Mittag lernen ich Bordeaux auf eine ganz neue Weise kennen. Zum ersten Mal findet an diesem Wochenende nämlich Le Week-end de l`Art Contemporain (kurz WAC), ein Wochenende der zeitgenössischen Kunst statt: Mit drei verschieden Touren durch ganz Bordeaux sollen die Besucher*innen Bordeauxs Kunstszene mit ihren kleinen Galerien und Künstler*innen besser kennenlernen. Vorher habe ich mich online für einen Parcours eingeschrieben - eine dreistündige Tour queer durch Bordeaux - bei der es um den Kontrast von Stadt, Landschaft und moderner Kunst gehen soll.
Der Parcours ist keine normale Kunstführung, bei der es darum geht von einem Museum ins andere zu hetzten und sich von Kunsthistoriker*innen berieseln zu lassen. WAG ist vielmehr ein Austausch zwischen den Besucher*innen und den Künstler*innen, der es ermöglichen soll die moderne Kunst ganz bewusst und subjektiv zu erleben und in den Alltag mitzunehmen. Kunst ist etwas, das es auch außerhalb des geschützten Raumes eines Museums gibt und dessen Erleben unmittelbar mit dem Drumherum -mit unseren Eindrücken und Erlebnissen - verbunden ist. Elise, die unsere Tour leitet, führt uns von einer versteckten Galerie zur nächsten und bittet uns gleich zu Beginn, die Wege zu den Ausstellungsorten als Teil der Kunsterfahrung zu sehen. Deshalb laufen wir im Stillen ganz ohne zu reden, allein darauf bedacht, die einzelnen Teile der Stadt in ihrer Vielfältigkeit wahrzunehmen.
Wir beginnen im Multi-Kult Viertel St. Michel von wo aus uns Elise durch kleine Straßen mit bunte Läden und gemütlichen Cafés führt. In den Fenstern sehe ich einen Schuhmacher bei der Arbeit, höre Studenten bei lauter Musik, daneben die Straße mit Autos und Fahrrädern, die vorbeirauschen. Ich rieche den Duft von frischem Brot als wir durch eine enge Gasse mit vielen Bistrots und kleinen Ateliers und Kunstläden gehen und spüre die warme Sonne auf der Haut. Ich sehe, wie das Licht an Baumblättern bricht und als Schatten auf dem dunklen Betonboden wiederaufkommt. Es ist als ob ich mich von der Stadt treiben lasse und dieses Gefühl mit in die Kunstwerke nehme, die ich anschaue. Wir machen bei einem alten Haus in einer unscheinbaren halt, in dem sich die Galerie Anne-Laure Jalouneix befindet. Das Haus allein ist unglaublich mit dem großen Torbogen und den alten steinernen Treppenaufgang, der auf eine große Terrasse im Innenhof führt, wo uns die Künstlerin Elissa Marchal persönlich ihre Werke erklärt: Minimalistische Streifen und Rechtecke in knalligen Farben, die einen so schönen Kontrast zu dem bürgerlichen Wohnhaus bilden. Als wir weiterlaufen fühle mich wie in einer anderen Welt, auf eine gewisse Art und Weise distanziert von all dem, was um mich herum passiert. Aber nicht, weil mein Kopf voller Gedanken und To-Do-Lists ist, sondern weil ich jetzt eine Beobachterin bin, die ganz bewusst wahrnimmt, was um sie herum passiert.
Als wir die Hektik der Innenstadt und der großen Einkaufsstraße Rue St. Cathrine hinter uns gelassen haben, stehen wir plötzlich im Garten des Musée de Beaux-Arts. Dort hat der Künstler Franck Tallon Kopien klassischer Werke aufgehängt, die sonst im Museum in schweren Bilderrahmen ausgestellt sind. Jetzt hängen dort im Garten des Museums Werke, die man wortwörtlich durchschreiten kann, weil Tallon einen Durchgang in die Bilder geschnitten hat. Als ich so durch die Bildergalerie laufe, wird mir klar: Es ist unsere Umgebung und wir selbst, die die Kunst zu dem machen, was sie ist. Vor einem Kunstwerk bleiben wir nicht nur passive Betrachter*innen, sondern werden zu Akteur*innen, die erst durch ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen die Kunstwerke durchdringen können.
Als ich nach der letzten Station, Rezdechaussée, einem Raum mit Ateliers, Galerie und Hotelzimmern im Viertel Chartrons an der Promenade zurücklaufe, merke ich, wie ich die Stadt an diesem Nachmittag zum ersten Mal wirklich wahrgenommen und erlebt habe. Und ich muss lächeln, weil das genau das ist, wieso ich hier bin.
Für alle, die sich in Bordeauxs Kunstszene verlieren wollen, gibt es hier die Tour zum nachlaufen.
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