Zwei Wochen, keine Meinung
Johannson ist seit zwei Wochen in Lodz und wird aus der Stadt nicht schlau. Die hässlichen Seiten der Stadt sprechen gegen sie - aber was ist mit den schönen Momenten und den vielen Dingen, die es hier zu entdecken gibt?
Steine im Weg
Ha, Slowake, von wegen. Der Morgen nach der Ankunft brach um sieben Uhr herein. Klopf klopf, ich wirr aus dem Bett, rat mal wer draußen steht: ein Deutscher aus Halberstadt. Bepackt wie auf Weltreise... fünf Jacken! Seitdem hockt er den ganzen (!) Tag im Zimmer, guckt Filme, sieht von der Stadt in etwa die Pizzerien und ist jetzt bis Vorlesungsbeginn wieder nach Hause gefahren, „weil hier nichts geschieht“.
Was wohl passiert ist: meine Pförtnerin hatte Schluss, und die neue am Morgen vermutete, dass ich wie jeder Erasmusler mit Landsleuten wohnen will. Wozu macht man sich die Mühe dieses Programms, wenn die Unis uns aus administrativer Bequemlichkeit sowieso zusammen stecken? Und wozu gehen Leute in ein anderes Land, wenn die allermeisten drauf bestehen, bitte nicht mit Ausländern leben zu müssen? Das Erasmus für 95% ein Partyprogramm ist, ok, Party ist gut. Aber warum muss mir die ohnehin kurze Zeit verdorben werden, nachdem ich zwei Jahre auf die Ausreise gewartet habe? Zeit für Wohnungsangebote.
Verzögerungen
Davon gibt es allerdings wenig. In Wroclaw war ich nach drei Tagen unterwegs. Gut, hier ist etwas Uni zu tun, aber Vorlesungen für Erasmusler gehen nur langsam los. Erst ein Kurs läuft, aber ich mache mit mittlerem Erfolg Stichproben in polnischen Vorlesungen. Ansonsten war anfangs natürlich viel zu organisieren, man wird den ganzen Tag durch diverse Bürokratien gemahlen. Dazwischen war das mittelmäßige 'Integrationswochenende' in Sulejow und die klassische Erasmus Kneipentour, aber eine verschleppte Erkältung ließ mich kürzer treten.
Die schlechte Seite
Außerdem versuchte ich, einen kleinen Verein zum Motyka-Gedenken zu finden. In einem habe ich vorbeigeguckt, aber die wussten mit einem Freiwilligen nicht viel anzufangen. Auch der Studentenorganisation AEISEC ist das Konzept von freiwilliger Arbeit unbekannt. Da gibt’s neben traurigen, gestressten Mädchen nur schöne Werbefilmchen und „tolle Angebote für die Karriere“. Wenn die Sonne nicht scheint, sind das die frustrierenderen Tage in Lodz. Dann ist es ein zusammengewürfelter Moloch verfallener Scheußlichkeiten voller obdachloser Freaks und kalter, ideenloser Zombies.
Was mir auffällt: Lodz ist die erste polnische Stadt, in der ich keine einzige Milchbar entdecken kann. Das sind Restaurants für Studenten, Praktikanten und andere Arme, und eigentlich sieht man hier genug potentielle Kunden.
Soziales Netz
Bisher hatte ich nur ein Tandem. Interesse gibt es viel, aber mal einen Termin zu finden... Dafür treffe ich Bekannte, allesamt auf Erasmus in Magdeburg gewesen. Ania kenne ich seit dem zweiten Semester, ich hatte ihre deutsche Magisterarbeit kontrolliert und wir haben uns gleich am zweiten Abend getroffen. Die kleine Monika lebt direkt im gleichen Wohnheim, wir gingen einige Kneipen ausprobieren. Freitag dann kam die große Monika in die Stadt und nahm mich auf eine Geburtstagfeier von Bekannten. Da fiel mir zuerst vor Entsetzen die Kinnlade in den Kuchen, ich fühlte mich auf einem Kindergeburtstag von Frisörinnen auf Spießerwettbewerb. Später gingen wir aber vier Stunden tanzen und alles gestaltete sich umfassend angenehm.
Die gute Seite
Dieses Wochenende hatte ich endlich Zeit, die Stadt gezielt zu erkunden. Eins muss man Lodz lassen: Parks sind zahlreich und schön. Der nächste heißt Helenow (Helenenpark). Ententeiche, Kinderwagen und ein Spielplatz, Herbstsonne am Himmel und Herbstblätter auf dem Rasen, keine fünf Minuten mit dem Fahrrad. Einige Tage war ich ganz im Süden aktiv, bei den Kathedralen beider Konfessionen und der 'Weißen Fabrik'. Innen das todlangweilige Textilmuseum, von außen wirklich attraktiv, spiegelt sich im See davor, am anderen Ufer ein wunderschöner Park.
Das sind die tollen Momente in Lodz, wenn es ein surrealistisches Sammelsurium voller Geheimnisse und echter Menschen ist. Jede Straßenbiegung, jedes halb sichtbare Gebäude ruft „Erkunde mich! Ja, es ist spät, aber nur noch eine Kurve, nur noch einen Block weiter“.
An der Rampe
Die letzten zwei Tage war ich vor allem im nördlichen Viertel, dem ehemaligen Ghetto Litzmannstadt. Darüber hatte Ania geschrieben und ich war neugierig, die Dinge real zu sehen. Schon vor einem Jahr hatte sie mir den Friedhof gezeigt, seines Zeichens größter in Europa. Jetzt fand ich insbesondere das Haus der Ghettozeitung interessant. Auf das Ghetto weist zwar nichts mehr direkt hin, aber die Gebäude sind fast alle noch dieselben. Lodz ist zwar überall vergleichsweise wenig restauriert, aber dort oben entsteht dadurch ein unheimlich authentisches Gefühl. Ein Labyrinth von alten Mietskasernen, Holzbaracken und finsteren Eingängen, alles verbunden durch Hinterhöfe mit rostigen Wäschegerüsten zwischen nackten Backsteinmauern und Putzfetzen, dann wieder eine Kirchen und kleine Parks mit Spielplätzen.
Am nördlichen Ende, hinter Exekutionsplätzen und Sammelpunkten, sitzt wie der Kopf des Elends der Verladebahnhof Radegast, heute Gedenkstätte. Im alten Holzhaus Fotos und Deportationslisten, Seite nach Seite. Auf den Schienen steht noch immer ein Zug, mein Gott ein Wagen ist sogar offen... man zögert schon, den Schritt da rein zu gehen. Eine Schulgruppe kommt, und sie spricht Hebräisch. Sehr interessiert wirken die aber auch nicht. Eine alte Frau redet, vermutlich von der jüdischen Gemeinde hier. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern über den Gleisen. Als ich fahre, pinkeln drei kurzhaarige, besoffene Teenager durch das Gitter in das Mahnmal.
Stadtschrittmacher
Ich esse kurz in der Manufaktura, eine alte Megafabrik umgewandelt zum Megaeinkaufspark, große Attraktion von Lodz. Eigentlich habe ich für so was wenig übrig, aber wie ich da so draußen sitze, am großen Platz, sehr lebendig mit Menschen, in der Sonne und neben mir Springbrunnen...der Gedanke überrascht mich, aber das ist das Gefühl eines klassischen Stadtzentrums. Abgesehen von der Piotrkowska Straße fehlt so was hier etwas, aber hier oben haben sie es erfolgreich hingebaut.
Letztere sehe ich mir abschließend an, mit Zeit und Reiseführer entdeckt man ein schönes Gebäude nach dem anderen. Nur die orthodoxe Newski Kirche, immer noch strahlend renoviert, ist immer noch zu wie vor einem Jahr. In die Dinger kommt man einfach nie rein. Ich schaffe nur die nördliche Hälfte der Straße die knapp vier km von Norden nach Süden durch die gesamte Stadt führt, morgen kommt der Rest.
Einfach hässlich oder versteckter Charme? Nach zwei Wochen werde ich aus dieser Stadt nicht schlau.
PS: Im letzten Eintrag zu Torun findet Ihr jetzt einen Link zu einem Zeitungsartikel mit Foto zu unserer Arbeit.
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