Zugfenstermelancholie oder: Es geht los!
Der Blick aus dem Zugfenster bringt immer eine gewisse Melancholie mit sich. Besonders wenn man Altes verlässt und ins Neue aufbricht.
Wenn an den Zugfenstern die Mischung aus Grün, Wolken und einzelnen Häusern vorbeizieht, ist das ein ganz besonderer Moment. Für mich ist das der Moment, in dem ich realisiere: Jetzt bin ich weg. Irgendwo auf dem Weg in eine neue Zeit. Es ist die Phase zwischen dem neuen Unbekannten und dem alten Vertrauten, nichts Halbes und nichts Ganzes. Für mich ist dieser Moment am 5. September ganz schön lang: Sechs Stunden genau. Für eine Zugfahrt quer durch Frankreich ist das dank des Schnellzugs TGV, der direkt von Straßburg nach Bordeaux fährt, eigentlich nicht so lang. Aber für einen Moment doch ganz schön viel. Vor allem wenn die Gedanken fast genauso schnell durch den Kopf rauschen, wie der Zug auf den Gleisen. Eben noch haben mich meine Eltern am Bahnhof in Straßburg verabschiedet, sich gesorgt, wie ich den riesigen Koffer, den Rucksack und die Tasche allein aus dem Zug hieven soll und wie dann alles werden wird. Und jetzt sitzte ich hier und warte darauf, dass es losgeht – nicht das Kofferschleppen, sondern die zwei Semester an der Uni Bordeaux.
Dass ich ins Ausland will, ist schon lange klar. Dass es Frankreich werden würde, hat sich so ergeben. Das Institut d´Anthropologie Social in Bordeaux ist das Partnerinstitut meiner Uni in Freiburg, wo ich sonst Kulturanthropologie und Politikwissenschaft studiere. Bordeaux, die Stadt für Kultur, Wein und Kulinarik fand ich toll. Von Freunden und Freundinnen, die schon dort waren oder auch ein Erasmus in Frankreich gemacht haben, höre ich auch nur Gutes: „Du wirst diese Stadt lieben! Du wirst Frankreich lieben!“ Frankreich hat mich schon immer fasziniert, das Essen, die Sprache, die Menschen. Wenn ich gefragt wurde, welche Nationalität ich wählen würde, wenn ich könnte, war die Antwort wohl immer: französisch. Durch enge Gassen schlendern, das Leben genießen und das alles auf elegant – so meine Vorstellung.
Als ich so im Zug sitze, denk ich die mein neues Leben auf Französisch, und merke, dass mir noch ziemlich viele Vokabeln fehlen. In Bordeaux werde ich mein Fach nämlich auf Französisch weiterstudieren. Klingt super, macht mir aber erstmal Magenschmerzen. Französisch ist für mich immer wie ein eleganter Tanz anmutender Vokale, nur dass es bei mir bisher eher ein wenig vollkommenes Stolpern war. Von meinem Schulfranzösisch ist nach fast drei Jahren Pause wenig übrig, die Vorbereitungskurse an der Uni sind zwar ganz nett, aber geben mir auch nicht unbedingt ein besseres Gefühl – höchstens fürs Gewissen. Trotzdem erinnere ich mich, kann ich relativ gut verstehen, für den Alltags-Smalltalk reichst auch noch. Aber dann wird’s schwierig. Mein Ziel ist es, irgendwann problemlos französisches Radio zu verstehen. Ein ehrgeizige Ziel-aber wie sagt man so schön: On va voir! Das gilt wohl für alles, für das sich Vorher-Sorgen-Machen, um ein Bett, um tanzende Vokale, um Formulare und Sim-Karten, vor allem aber darum im Vorbeiziehen das vergangene Vertraute festhalten zu wollen. Und je länger ich aus dem Fenster schaue, desto mehr merke ich, wie ich ankomme im Neuen, Aufregenden und Ungewissen.
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