Züge des Lebens
Ich möchte Euch meine philosophischen Gedanken über einen einzigartigen, wundervollen, aber schnellen Zug meines Lebens äußern, der "EVS in Berlin" heißt.
Berlin. Meine erste Assoziation mit dieser Stadt ist das Wort „Geschwindigkeit“. In erster Linie ist es so wegen des Verkehrsnetzes, in das ich gleich am ersten Aufenthaltstag eintauchte. Ich war immer in Züge verliebt, weil man da in tiefes Nachdenken versinken kann. Ich finde mein freiwilliges Jahr als wertvollstes Schicksalsgeschenk, weil ich wenigstens viel Zeit hatte, um über mein Leben nachzudenken.
Unglaublich: hier verkehren 10 U-Bahn-Linien mit 173 Stationen und 15 S-Bahn-Linien mit 166 Bahnhöfen! Zumindest darum ist Berlin eine Stadt der ungezählten Möglichkeiten. Wegen seines dichten Verkehrsnetzes erinnert es mich an unser Leben, das ein großes Netz der Optionen darstellt. Genauso wie ein Berliner, der einen passenden Weg nach Hause raussucht, müssen wir im Leben auch ständig richtige Wege auswählen, um unsere Ziele zu erreichen, was aber viel mehr Verantwortung benötigt.
Die belarussische Gesellschaft, wo ich aufgewachsen bin, wagt sich meist nicht, etwas Tapferes gegen unser Klischeebild zu machen. Mein Volk hat ein braves, offenes Herz und viele tolle Ideen, schaut aber leider oft hin und her. In Berlin habe ich das Gegenteil bemerkt, und das verzauberte mich. Die Züge unseres Lebens rennen so schnell, und es gibt keine Zeit zu zögern, sich wegen etwas zu schämen und hinter dummen Vorurteilen zu verstecken.
Einmal fuhren wir alle mit dem Zug „Schule“, dann z.B. „Gymnasium“; später sollten manche in den Zug „Wehrdienst“ steigen, aber sie schafften das, sich mit dem „Schaffner“ zu verabreden und sprangen in den „Uni“-Zug fröhlich über. Viele meine Freunde fahren seit langem mit dem Zug „Ehe“ und rufen mir zu zuzusteigen, aber alleine kann ich nicht. Wir sehen uns später!
Locker oder anstrengend fahren wir zu unseren Zielpunkten. Jeder wünscht sich, so bald wie möglich in den Zug „Glück“ zu steigen, nicht wahr? Aber er hat keinen Fahrplan und ist leider unsichtbar. Vielleicht kann man dorthin durch eine lange Fahrt mit dem „Studium“ geraten? Oder mit zahlreichen „Reise“-Zügen? Und wenn ich es riskiere und abgesehen von der komfortablen Bahn „Arbeit“ neue Wege öffne? Berlin stellte mir immer wieder neue Fragen, auf die ich begierig Antworten suchte.
Manchmal können wir uns nicht entscheiden, wo und wann unser nächster Umstieg ist. Man braucht etwas Zeit zum Überlegen. Im Ergebnis kreisen wir in einer Berliner Rundfahrt mit der S-Bahn 41 oder 42. Manchmal geraten wir auf Abwege und sollen ein paar Schritte zurück machen, um dort einen anderen Zug zu nehmen.
Und Fahrgäste? So oft verlieren wir unsere lieben Mitfahrer, weil wir verschiedene Wege wählen. Man kann nie wissen, ob man einander wiedersieht und ob sich unsere Fahrtrichtungen einmal kreuzen, nachdem die Mitgefährten, z.B. Freunde, ausgestiegen sind. Mein einjähriger Zug in Berlin schenkte mir so viele wunderbare Mitfahrer. Einige von ihnen waren immer mit mir, einige nur eine kurze Zeit, aber trotzdem beeinflussten sie mich alle.
Am Anfang fürchtete ich mich davor, in diesen „EVS“-Zug zu steigen, aber ich begreife jetzt, wie grundlos das alles war. Ich glaube, die Erfahrung mit dem Auslandsaufenthalt ist ein kostenloser, dafür aber ein strenger Lehrer, der mich auf jedem Schritt, in jeder Stadtecke, jeder Situation, mit jedem Passagier unterrichtete, dem ich „zufällig“ auf meinem Weg begegnete und der mir half zu lächeln oder zu verstehen, wohin und wozu ich weiter fahre. Das ist unschätzbar!
Ich lernte andere Religionen, Kulturen, neue Gesellschaftsregeln kennen, ich erlebte Enttäuschungen wegen zwischenmenschlicher Missverständnisse oder Gleichgültigkeit, aber auch umgekehrt: Ich erlebte Gutherzlichkeit und Sorge von fremden Leuten. Ich lernte toleranter, geduldiger und flexibler, aber gleichzeitig auch mutiger und selbstsicherer zu sein. Wenn man so weit von seinem Zuhause entfernt und ganz allein ist, lernt man seine echten Ängste, Zweifel, Schwächen, aber auch Stärken, Werte und Wünsche kennen.
Ich bin mir sicher, man soll seine Komfortzone ab und zu mal verlassen, den Träumen folgen und sich selbst vertrauen. Am Ende meines EVS fand ich eine wichtige Antwort. Es ist nicht nötig, alle Wege im Voraus zu kennen, die uns zum Zielort führen. Sogar das berühmte deutsche pünktliche Verkehrssystem gerät oft ins Stocken. Deswegen soll man die Situation gut einschätzen und bei Bedarf die Fahrtrichtung tapfer ändern!
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