Wieviel ist uns das Gedenken wert?
Viele tausend Besucher kommen jedes Jahr zu den Gedenkstätten Auschwitz und Majdanek. Aber diese Stücke konservierter Geschichte sind akut vom Verfall bedroht.
Hat die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Jahre 2009 noch weiße Flecken? Kaum, würde man meinen. Es herrscht ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Schuldfrage von Krieg und Vernichtung. Politiker aller wichtigen Parteien werden nicht müde, die besondere historische Verantwortung Deutschlands in der Welt zu betonen. In den Schulen hat das Thema "Drittes Reich" seinen festen Platz im Lehrplan. Seit 2002 wurden aus deutschen Steuergeldern endlich auch ehemalige NS-Zwangsarbeiter entschädigt.
Gut so! Und doch gibt es noch ungelöste Probleme, ungeklärte Fragen. Zum 64. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz (1945) drangen im Januar erschreckende Meldungen aus der Gedenkstätte im heutigen polnischen Oświęcim an die Öffentlichkeit. Die ehemaligen Baracken und Versorgungsgebäude benötigten dringend Renovierung, so die Museumsleitung. Nässe, Kälte und Schimmel setzten der Bausubstanz - oft simples Holz - stark zu. Viele von ihnen könnten die nächsten Jahre nicht überstehen.
Nach Berichten der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza sind bis zu 120 Millionen Euro nötig, um die 155 Objekte und rund 300 Ruinen auf dem 200-Hektar-Gelände zu unterhalten. Die polnische Seite ist bereit an der Erhaltung mitzuwirken. "Wir werden alles dafür tun, damit das ehemalige Lagergelände für Besucher auch in 20 bis 30 Jahren noch zugänglich und verständlich ist", versicht Piotr M.A. Cywiński, Direktor des staatlichen polnischen Museums Auschwitz in der Internetausgabe der Zeitung.
Der Erhalt der Gedenkstätte ist deshalb so wichtig, da sie ein konserviertes Stück Geschichte ist. Hier soll den mehr als eine Million vor allem jungen Besuchern pro Jahr begreifbar gemacht werden, wie von Menschenhand geplanter Massenmord in der Realität aussah. Der Eindruck eines wohl erhaltenen Originalschauplatzes wirkt dabei viel stärker als jeder Film oder jedes Geschichtsbuch.
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ist aber nicht konstruiert worden um die Zeit zu überdauern. Die Häftlingsbaracken waren als Provisorium bis zur Ermordung der Gefangenen gedacht. "Um die Geschichte dieses Lagers zu verstehen, reicht es nicht nur eine Baracke zu erhalten. Es ging gerade um den industriellen Massenmord, deswegen ist die Erhaltung von vielen Baracken wichtig", erläutert Rafał Pióro, Konservator der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau auf tagesschau.de (27. Januar 2009). Es ist ersichtlich, dass der Erhalt des Originalcharakters des Lagers nur durch dauerhafte und umfangreiche Konservierungsarbeiten möglich ist.
Auschwitz ist als die Spitze des Eisberges der deutschen Vernichtungspolitik im Dritten Reich weltweit bekannt. Wahrscheinlich wird der Notruf aus Polen helfen, international die nötigen Mittel zur umfassenden Erhaltung der Gedenkstätte aufzubringen.
Wenn es jedoch - wie Pióros meint - auf den Erhalt des Ganzen ankommt, stehen viel größere Herausforderungen erst noch bevor. Allein auf heutigem polnischen Staatsgebiet existieren mit Bełżec, Sobibór und Treblinka - um nur die bekanntesten zu nennen - noch weitere ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager.
Besonders groß ist der Renovierungsbedarf im ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek bei Lublin. Grzegorz Plewik, Stellvertretender Direktor im heutigen Museum, erläutert: "Die Gedenkstätte auf dem Gelände wurde bereits 1944 als europaweit erste ihrer Art eröffnet. Bis heute sind ungefähr 70 Objekte erhalten geblieben - die Häftlingsbaracken, das Krematorium sowie die Gaskammern. Sie stellen historische Relikte von außerordentlicher gesamteuropäischer Bedeutung dar. Ein Teil von ihnen ist in schlechtem Zustand und bedarf dringender Renovierung, was unsere finanziellen Möglichkeiten bei weitem übersteigt".
Unterstützung der deutschen Bundesregierung für den Unterhalt der Gedenkstätte oder historische Bildungsarbeit vor Ort ergehen an das Museum nicht. "Die Gedenkstätte Majdanek ist ein staatliches Museum; jedes Jahr erhalten wir eine bestimmte Summe vom polnischen Ministerium für Kultur und nationales Erbe", betont Plewik. Er ergänzt: "Es wäre natürlich gut, wenn zusätzliche Mittel auch von deutschen Stiftungen kämen".
Das Museum Auschwitz seinerseits hat in den Neunziger Jahren eine einmalige Zahlung von 30 Millionen DM von der Bonner Regierung erhalten. Doch angesichts der ständigen Herausforderung von Pflege und Restauration stellt sich die Frage: Kann sich Deutschland einfach von den Lasten der Vergangenheit freikaufen?