Wenn Zugreisen zum Politikum werden
Ein lautes "Stopp" lässt mich von meinem Buch aufschrecken. Drei Jungen, die ihrem Aussehen nach vielleicht aus dem Nahen Osten kommen, laufen an meinem Platz vorbei. Ein Polizeibeamter folgt ihnen. Ich bin im Zug kurz vor der österreichisch-italienischen Grenze. Und irgendwie mitten in einem schlechten Polizeifilm gelandet.
"Sie wussten es. Es musste so sein, dass sie es raus gefunden hatten. Sie hatten die Schlagzeilen über Asylsuchende gesehen und nun wussten sie, dass er einer der Verdammten war. Obinze versuchte sich an Geschichten von Menschen zu erinnern, die entdeckt und abgeschoben worden waren, aber sein Kopf war leer. Er fühlte sich nackt."[1]
Ein lautes "Stopp" lässt mich von meinem Buch aufschrecken. Drei Jungen, die ihrem Aussehen nach vielleicht aus dem Nahen Osten kommen, laufen an meinem Platz vorbei. Ein Polizeibeamter folgt ihnen. Ich bin im Zug kurz vor der österreichisch-italienischen Grenze. Und irgendwie mitten in einem schlechten Polizeifilm gelandet. Der Beamte kommt nach kurzer Zeit zurück, die Jungen scheinen Papiere zu haben. Doch das traurige Schauspiel ist noch nicht zu Ende. Alle, die scheinbar "nicht-europäisch" aussehen, werden überprüft. Eine junge afrikanische Frau verliert. Sie kann sich nicht ausweisen und muss mit den Beamten mitgehen. Ihr Reisegepäck wird gleich mitgenommen. Die Polizisten scheinen wenig Hoffnung darauf zu haben, dass die Frau zu ihrem Platz zurückkehren wird. Ein Beamter begleitet sie raus aus dem Abteil während seine Kollegen "stichprobenartig" weiter kontrollieren. Die Realität hat mein Buch eingeholt, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist verschwunden. Vielleicht ist es das Buch, vielleicht auch nur Mitgefühl, aber Tränen bilden sich in meinen Augen, ein flaues Gefühl im Magen gepaart mit Wut kommt dazu. Ich frage mich, was mit der Frau passieren wird und weiß doch bereits die Antwort. Wir wissen sie alle. Wir wissen, was mit illegalen Flüchtlingen passiert. Ohnmacht macht sich breit. Ich möchte die Beamten, die ja irgendwie auch nur ihren Job machen, anschreien. Ihnen meinen Ausweis unter die Nase halten und fragen, warum sie ihn nicht sehen wollen, warum sie mich nicht kontrollieren. Ich möchte ihnen ins Gesicht schleudern, dass ihre Vorgehensweise, Menschen gezielt nach ihrem Aussehen zu kontrollieren, 'racial profiling' genannt wird und einfach nur rassistisch ist. Und das letzte Mal, als diese Methode "erfolgreich" durchgeführt wurde, während des Dritten Reichs war. Da wurden Menschen, die "jüdisch" aussahen, kontrolliert. Jetzt sind es alle "nicht-europäischen". Herzlichen Glückwunsch, wir haben unseren Rassismuskreis vergrößert. Mir macht das Angst. Und es macht mich wütend. Auf die Politik, die Polizei und mich. Ich hätte aufstehen und was sagen sollen. Oder irgendwas kaputt hauen. Einfach irgendwas machen. Mein Urlaubsgefühl ist mit einem Schlag weg und zurück bleibt das Gesicht der jungen Frau, als sie an mir vorbei ging: Ausdruckslos, stoisch, Würde bewahrend in einem Szenario und auf einem Kontinent, der ihr ihre Würde nehmen will.
[1] aus Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie – wirklich großartiges Buch. Also, schnell hier bestellen!
Header Foto: Flickr/Efe Arat