Was weiter geschah...
Nachdem mart im April Opfer eines Überfalls geworden war, folgte nun der Prozess, der mehr an eine Scharade denn an einen juristischen Vorgang erinnerte. Zwischen den Verhandlungen verschlug es mart als Betreuer in ein Waisenkindercamp, das sich ebenso als ein eher zwiespältiges Vergnügen herausstellte.
Viele Sonnen sind seit meinem letzten Eintrag vergangen, viele Kleinigkeiten haben sich ereignet.
Prozess
Im April war mir ja nachts im Minibus meine Kamera gestohlen worden, woraufhin mir ein Mitfahrender die Hilfe seines Bruders anbot, und mich in einen dunklen Hinterhof lockte, wo er mir perfekt Handy und Portemonnaie abnahm, und ich auf der ersten vereisten Pfütze fiel, mit Rucksack auf dem Rücken... Die Polizei fand ihn, unterstützt durch einen netten Anreiz und ewige Besuche meinerseits, und ich bekam viel zurück, wenn auch nicht alles.
Nun begann der Prozess; recht lustig von außerhalb. Bei der Prozessansetzung im Mai war mein Rumänisch noch recht dürftig, und er übersetzte für mich! Mir war ein Dolmetscher für den Prozess versprochen und so ging ich Anfang Juli allein zum ersten Tag, unwissend, ob ich eigentlich Zeuge oder Ankläger bin - ich war wohl keines von beidem, nur Opfer.
Die Dolmetscherin nahm Platz, und ich fragte sie nach den ersten unverstandenen Sätzen - ironisch - "Sprechen Sie gerade Deutsch?" Die hatten mir doch tatsächlich eine Rumänisch-Russisch-Dolmetscherin besorgt. Wo mein Russisch noch schlechter ist. Ich beschwerte mich, verlangte eine deutsche Übersetzung, doch die Richterin meinte, mein Rumänisch sei um Längen besser als das vieler Moldauer Staatsbürger. Es ging weiter, und die Dolmetscherin brachte mich einem 'SHUT UP' zum Schweigen. Dann wiederholte sie immer leise, was die Richterin sagte, und ich schon verstanden hatte, wie ein Echo.
Der Prozess wurde vertagt, auf den Termin nach meinem Workcamp, und der Angeklagte hatte Gelegenheit, für ein freundliches "Arschloch". Ich konnte die Äußerung ja auch verstehen: er musste noch länger im Gefängnis bleiben, mit noch schlimmeren Jungs.
Die Typen sitzen eingepfercht in Zellen, wo sie sicher nicht so freundlich behandelt werden. Aber er hat auch schon gute Erfahrung in krassen Sachen. Mit zwei Freunden und 150 Euro hat er sich vor zwei Jahren auf den Weg über die grünen Grenzen gemacht. Dabei ist er bis nach Italien gekommen, wo er ein wenig gearbeitet hat, und dann in die Schweiz, wo sein Bruder tatsächlich wohnt (der, den er angeblich im Hof angerufen hatte, bevor er mir dass Portemonnaie entriss). Dort blieb er anderthalb Jahre... und dann saß er auf einmal im Minibus neben mir, und wollte ein deutsches Mädchen von mir kaufen, für 2000 Euro plus einer Moldauerin...
Nach meinem Workcamp (darüber später) ging der Prozess in die nächste Runde. Ich brachte meine Freundin als Übersetzerin - sie geht noch aufs Gymnasium, ist also nicht offiziell legitimiert, wurde aber anerkannt, weil die Gerichtsübersetzer nicht besser sind. Der Prozess ging sowieso nicht weiter, weil der Staatsanwalt fehlte. Das gleiche am nächsten Tag. Bis heute weiß ich nicht, ob die Richterin scherzte, als sie mich fragte, ob der Staatsanwalt essentiell sei für den Prozess.
Da ich bereits offiziell im Ecotopia-Prepcamp bin, hat dann aber alles schnell geklappt. Der Anwalt des Angeklagten brachte mir das noch nicht ersetzte Geld, und ich unterschrieb, dass ich nicht will, dass der Angeklagte verurteilt wird. Was auch wahr ist, denn ihm drohen fünf bis zehn Jahre, und das hilft ja wirklich niemandem, wenn er sich seine Jugend versaut, zumal die Jungs im Gefängnis sicher schlimmer sind. Leider jedoch hat er sich nie entschuldigt... während ich das tat. Denn ich wollte hier ja keine Leben zerstören, und war halt zur falschen Zeit am falschen Ort.
Zumal hier die Verhältnisse gestört sind. Die großen Jungs, die dem Volk den Wohlstand rauben, bleiben unbelangt. Fünf Jungs, die ein betrunkenes Mädchen auf der Klassenabschlussfeier im Wald vergewaltigen und sich danach damit brüsten, bleiben unbelangt. Ja, das Mädchen wird lächerlich gemacht und geschnitten. Menschenhändler bleiben im Geschäft. Und ein simpler kleiner Dieb bleibt fünf Jahre im Knast?
Das Projekt
Das ganze Jahr habe ich Werbung dafür gemacht in SCI, dem Service Civil International, dem NGO-Verbund, der internationale Workcamps organisiert. Das Falesti-Waisenheim-Camp.
Am Freitag, nach dem ersten Prozesstag, fährt also eine bunte Truppe aus Chisinau (sprich "Kischinäu") nach Falesti (sprich "Fälescht"). Franco, 58, ist mit seinem alten Passat aus Pisa gekommen. Und ist langsamer als der Bus. Langsamer als ein moldauischer Bus. Nun ja, es sei der Carborator, erfahre ich dreißig Minuten nach Francos Ankunft bereits das fünfte Mal. Was ist das auf Deutsch? Haben Autos wirklich so was? Mit seinem recht guten Deutsch versichert mir Franco: "Karborator!" Jungs, wenn einer von Euch mir erklären kann, was nun dieser "Karborator" wirklich in 'nem Auto zu suchen hat, sagt Bescheid! (Anm. d. Redaktion: es handelt sich wahrscheinlich um den Vergaser)
Mit an Bord des Busses: Cris, Daria und Vova, die moldauische Fraktion. Daria hat schon das Jahr über mit mir in der Organisation gearbeitet, und wir waren ein paar Mal aus gewesen, als es Stress mit ihrem Freund gegeben hatte. Dieser ist Vova, ein recht sympathischer, hübscher Kerl, wie sie 19. Und Cris, Ihr kennt sie ja...
Und weiter: Laurene aus Aix-en-Provence, Cezannes malerischer Stadt in der Nähe von Marseille, Jurastudentin, gerade zurück von einem Erasmusjahr in Edinburgh, wo sie in einem Nachtclub gejobbt hat. Das Letztere merkt man, denn sie spricht permanent davon, dass wenn mit ihrem Pass was nicht stimmt, sie ihre Brüste zeigen werde. Das Erstere merkt man nicht, denn sie hat immer noch diesen extremen französischen Akzent, und kennt so ziemlich die wenigsten Wendungen der Gruppe...
Dazu kommt Marzia, aus Pescara, jetzt lebt sie in Rom, und ist nach einigen Praktika auf der Suche nach einem Job in einer NGO. Überall das gleiche Lied, für Freiwillige ist Platz, aber bezahlte Arbeit für eine NGO, das ist hart zu finden. Marzia ist genial, ruhig, sympathisch, freundlich - goldig.
Auf dem Busbahnhof in Falesti, mir noch von meinem Trip im Schnee mit Radu vertraut, treffen wir Jessica. Sie hat sich ihren Weg aus Basel gebahnt, bis Iasi (drittgrößte Stadt Rumäniens und zeitweise Hauptstadt des damaligen Königreichs in der ostrumänischen Provinz Moldawien, gesprochen: "Jasch"). Sie kam tatsächlich auf Schienen, dann mit einem privaten Auto, so dass sie sieben Stunden zu früh da war. Die Zeit hat sie sich auf Frazorumaedeutsch mit einem netten Moldauer vertrieben - und sie hat für AVI einen riesigen antiken Monsterscanner mitgeschleppt, den ganzen Weg!
Sofort im Camp erinnert mich Jessica an die kleine Claudi aus Dresden, die ich mein Leben lang platonisch lieben werde. Die – trotz Schweizerdeutsch – gleiche Art zu sprechen, die gleiche Bewegungen, die Statur, das Gesicht... es ist nicht zu fassen.
Und im Camp wartet bereits Ariane aus Brüssel, schon 37, aber im Herzen jung, sehr diskutierfreudig, nur leider perfekt im dauernden Wiederholen der gleichen Späße.
Alle haben kleine Geschenke und Material zum Basteln und Spielen mit. Das Programm dagegen ist frei, und wir als Gruppe setzen unsere Ziele. Doch bereits bei den ersten Planungen zeigen sich Probleme. Wir sind zu viele. Neun Personen: eine ruhige Italienerin; ein nie zufriedener, sooo langsamer Italiener; eine Belgierin, die immer zuerst über etwas anderes diskutieren will als die Moldauerin und die Schweizerin, die beide geniale Ideen haben, aber auch bald aufgeben, der Gruppe nicht akzeptierte Vorschläge zu machen; eine Moldauerin, die die Kinder am zweiten Tag hasst, und große Melancholie zeigt; ein Moldauer, der sehr ruhig bleibt; und ein Deutscher, der sowieso nie einen Plan hat.
Die ersten beide Tage sind also ungeplant, wir spielen ganz einfach mit den über 90 Kindern, die hier im Sommercamp drei Monate lang nah an der rumänischen Grenze im Wald leben. Vier Altersgruppen werden als "Abteilungen" (detasamente, sprich "Detaschamente") bezeichnet, und tatsächlich herrscht starke Militarisierung, die Kinder haben auch Rangordnungen untereinander.
Franco will bereits am dritten Tag abreisen, weil alles so unorganisiert sei - dabei soll das Teil des Lernprozesses in der Gruppe sein. Und er ist der Erfahrenste, war schon bei etlichen Workcamps, und bremst die Gruppe mit endlosen Erläuterungen, die nicht konstruktiv zur Diskussion beitragen.
Sowieso: Ist nicht das Wichtigste, dass die Kinder lachen, und eine gute Zeit haben, genau wie auch die Freiwilligen?
Autoprobleme
Francos Auto ist, wie gesagt, nicht so hilfreich wie es hätte sein können. Selbst zum Einkaufenfahren muss ich ihn anbetteln, und wir starten, um zur Stadt zu trampen. Francos Mission für den fünften Tag ist folgende: Eine Moldawierin, eine der vielen, die in Italien war, vom Flughafen Chisinau abholen und nach Haus nach Balti (sprich "Belz"), 30 Kilometer von Falesti, schaffen.
Am Abend, nach dem wir einen gut organisierten Spiele- und Basteltag hatten, kommt er wieder im Camp an. Vorn rechts hält ein Seil sein VW-Wrack zusammen. Er hat in Chisinau im Stress einen Unfall mit einem Taxi gebaut. Neben Benzin, Reparation des anderen Autos braucht er nun also noch Geld für die Reparatur. Gut fünfhundert Euro. Das Grandiose an dieser Geschichte: Er ist ja extra für die Bekannte nach Chisinau gefahren, um ihr zu helfen. Mit dem durch ihn zerbeutelten Taxi am Flughafen angekommen, entdeckt er ein anderes Auto, in welchem sie bereits wartet... Er war umsonst gefahren.
Später im Camp wird er einen halben Zahn verlieren und eben weiter mit seiner dringenden Autoreparatur nerven, die in Italien 200 Euro gekostet hätte (ohne Sicherheit, ob es etwas verbessert) - und dann per Zufall jemanden finden, der für 15 Euro den "Karborator" reinigt und mal dagegen schlägt – sodass der Passat wieder perfekt läuft. Ist das interessant?
Kinder, Kinder
Die Kinder sind aufgeweckt, aber ihnen fehlen die Eltern, die im Ausland arbeiten, trinken, oder einfach zu viele Kinder haben. Zehn Geschwister sind nicht außergewöhnlich. Es gibt den starken Jungen, der auf den Händen läuft; die rothaarige liebenswerte Künstlerin, die uns gegen ihre Altersgenossinnen verteidigt, nachdem Cris und ich den Fehler gemacht haben, uns von einem Kind beobachtet zu küssen; den Kleinen, der permanent alles durchsucht, was irgendwie genug Platz für ein Geschenk hat; die kleine Schleimerin, die böse wird, wenn wir sie nicht bevorzugen; den zurückhaltenden Jungen mit der grandios intelligenten, charismatischen Ausstrahlung; die kleine Hexe, die die ganze Zeit mit den Warzen andere Menschlein hascht; den wohl autistischen, warmen, immer glücklichen Jungen; das kleine Monster, voller Energie, und immer gegen die Freiwilligenbeine schlagend; und die größeren, zwischen 15 und 19 Jahre alten Jungs und Mädels, die auf Abwechslung hoffen.
Na klar, jeder will Geschenke. Und es ist nicht besser geworden seit letztem Jahr. Denn in diesem Jahr waren bereits zwei Gruppen amerikanischer Missionare gekommen, mit vielen Geschenken und Geschichten. Seitdem haben die Kinder etwas zu lesen. Manche haben die Bibel bereits zweimal hinter sich. Und ich werde immer wieder gefragt: "Liebt Jesus mich wirklich?" "Glaubst Du?" – und ernte ungläubige, verständnislose Blicke, als ich etwas von Atheismus anbringe und die Religion als positives Mittel zur Sozialisierung beschreibe.
Es folgen Bingonachmittage, bei denen die Kids absolut begeistert und still darauf hofften, zu gewinnen. Die Olympiade, bei der die Verlierer (die ja immer mal eine andere Gruppe ist) sofort beleidigt sind, und die deshalb kein Erfolg wird. Die Bastelkurse, und Malkurse, bei denen sich zeigt, dass die Kinder sich langsamer entwickeln, unkreativer sind als "normale." Die Präsentation unserer Heimatländer, die Englisch- und Deutschstunden.
Befremdliches Campende
Für den letzten Tag organisieren wir eine Schatzsuche mit verschiedenen Stationen. Hinter uns liegen bereits sieben Tage ohne fließendes Wasser, und das Wasser vom Brunnen war auch schon aus. Geniale Gespräche, auf Deutsch mit Jessica, die mit Cris und mir ein perfektes Team bildet und mich zum Beitritt zum Green Cross überredet, wenn wir uns nicht grad gegenseitig mit Schlamm bewerfen oder beschmieren, wie bei einem Ausflug...
Auch mit Marzia, nur coole Gespräche. Neckereien mit der französischen Saloppe, die mich nur Smelly German nennt, und Ariane, die sooo schlecht in Rumänisch ist, und selbst nach zwei Wochen "Danke" noch nicht richtig aussprechen kann, und dann den Spieß umdreht und die Sprache lächerlich macht. Dazu dauernde Diskussionen mit Daria,…
Das ganze endet also mit der Schatzsuche, zwei Tage lang vorbereitet. Doch die Kinder, die verschiedene Stationen bei verschiedenen Gruppen absolvieren müssen, stehlen die Schätze, verraten den nachfolgenden Teams die Geheimnisse, und sind insgesamt unorganisiert.
Am Ende noch ein schauriger Abschluss: Wir haben nur noch ein paar Geschenke für die Schatzsuchengewinner, und das gesamte Camp, inzwischen auf 120 Kinder angewachsen, steht stramm in Reihen, um uns zu verabschieden. Und die Geschenke abzufassen. Geisterhaft. Wir wissen nicht, was tun? Nur die Gewinner bekommen Geschenke, die anderen können noch etwas zum Abschied sagen. Keine Meldungen. Dann zerstreut sich die Gruppe auf Kommando. Ich bin zerstört, da kommt Cris und erzählt mir das eben Erlebte: "Warum wir hab ich mir die Hände schmutzig gemacht, wenn ich nicht mal Geschenke bekomme?" hat ein älteres Mädchen sie gefragt. Ich bin geschockt. Nächstes Jahr ein anderes Camp.
Der Tag der Heimfahrt, mein Geburtstag
Wir starten, indem wir am Morgen den Bus nach Falesti nehmen wollen. Der ist leider voll, der Fahrer verspricht zurück zu kommen. Machterabernich! Also öffnen wir erstmal den ersten guten moldauischen Sekt, Cricova, 2 Euro, beste Qualität. Sogar die verwöhnte Französin mag ihn. Wir trampen mit einem Transporter, am Falestier Busbahnhof bin ich bereits betrunken. Dann mieten wir einen Bus und fahren nach Orheiul Vechi (sprecht "Orheyul Vek") auf Touritour.
Orheiul Vechi, Sonnenschein, entspanntes Herumwandern mit Cris, weil wir die Gruppe verloren haben. Am Abend, zurück in Chisinau, haben wir Dinner mit Darias Eltern, die die Gruppe für eine Nacht aufnehmen. Der Vater singt ein Ständchen und als jeder schon vom traditionellen Essen voll ist gibt es noch Geburtstagstörtchen, dazu Hauswein, Champagner... Der Abend endet mit Singen bei Daria, und am nächsten Morgen verabschieden wir die neuen Freunde an Flughafen, Busbahnhöfen, am Bahnhof. Die Reisen nach Basel zu Jazz, und Aix, wo ich mit Laurene eine Fotoausstellung machen will, sind schon geplant.
Das war Dienstag, und Donnerstag sagt mir Cris, ihre Mutter habe mich eingeladen, bei ihnen zu wohnen. Am Freitag bin ich umgezogen. Jetzt wohne ich also tatsächlich sehr bequem, mit gutem Essen und freundlichen Leuten. Nur nimmt es die Arbeits- und Lesezeit. Für die Karriere sind Freundinnen wirklich tödlich.
Nun ja, warm ist's ich bin im Stress - ich hoffe ihr habt mal gelächelt beim Lesen. :D
Liebe Grüsse, Maddin :D"