Was bleibt
"Freundschaften und das Projekt - das ist das, was am Ende bleibt", sagte ein ehemaliger EVS-ler einmal zu mir. "Das ist das, wovon du am Ende erzählen wirst, das, woraus du am Ende lernen wirst."
Als ich zum ersten Mal in meinem EVS-Projekt war, verstand ich gar nichts. Und neben mir saß Sofia, aber die bemerkte mich kaum. Hinter zentimeterdicken Brillengläsern beobachtete sie lachend das wilde Treiben in der Klasse und brachte die Lehrerin dabei zur Verzweiflung: Diese wollte die Hausaufgaben an dem Tag, an dem sie vorgezeigt werden mussten, notieren, Sofia hingegen lieber an dem Tag, an dem sie sie aufbekam. Die Lehrerin erklärte wütend, dass Sofia sich an die Regeln halten müsse, und ich musste plötzlich schmunzeln.
Ein wenig sah ich in diesem Moment in Sofia wohl mich selbst.
Ich verstand damals kein Wort Spanisch, die Kommunikation zwischen meiner Projektpartnerin und mir belief sich nur auf zaghaftes bis entschuldigendes Lächeln. Dass ich in meiner ersten eigenen Wohnung nicht direkt eine Lebensmittelvergiftung bekam, erscheint mir bis heute wie ein Wunder. Zum ersten Mal arbeitete ich, saß nicht nur in der Schule Zeit ab. Und überhaupt hatte ich das Gefühl, gerade erst dem Abi-, Urlaubs- & Co.-Stress entkommen zu sein, gedanklich war ich noch lange nicht in Spanien. Gerade als ich begann, mich verloren zu fühlen, saß Sofia neben mir, so überfordert von allem, was auf sie eindrang, und wir konnten wohl beide nur noch sprachlos über uns selbst und diese Welt den Kopf schütteln und schmunzeln.
Zu meiner Lieblingsschülerin wird sie sich wohl nie mausern. „Frankreich und Deutschland“, antworteten wir auf die Frage, wo wir denn herkommen. „Deutschland mag ich nicht“, antwortete sie und erzählte mir dann vom Zumba. „Ich habe früher auch einmal Zumba gemacht!“, sagte ich da. „Nicht Sumba!“, rief Sofia verärgert auf und korrigierte mein so deutsches Z, „Das ist nicht Deutsch. Das ist Zumba!“ Unterhielten wir Freiwillige uns untereinander auf Spanisch, rief sie dazwischen, „Ich versteh die nicht! Die sprechen Deutsch!“, und als ich aus Platzgründen ihren Rucksack lieber hinter als neben ihren Tisch stellen wollte, ging das auf keinen Fall.
Während Sofia uns vor Herausforderungen stellte, hielt ich es beinahe zwei Wochen lang durch, all die witzigen Geschehnisse in unserem Projekt zu notieren: der Schüler, der „banco mixto“ mit „Schinken und Käse“ definierte, weil er die „banco mixto“ mit dem „sandwich mixto“ vertauschte, und der Schüler, den ich mit meinen spanischen Brocken zwischen „Venga!“ und „Vamos!“ aus der Sportumkleide locken wollte, bis er plötzlich begeistert „Let's go!“ rief. Da standen auch meine ersten Erfolgsgeschichten: die Schülerin, die sonst kaum ihre Gedanken ordnen konnte und mit der ich dann im Unterricht eine wunderbar kreative Geschichte schrieb, der Schüler, dem es schließlich gelang, Daten chronologisch zu sortieren.
Ein ganz besonderer Mensch ist für mich aber dennoch Sofia. Vielleicht liegt es daran, dass sie sie Tag für Tag im Zug steht und sämtlichen Studenten um sich herum erzählt, dass sie erst an einem Bahnhof noch ganz weit weg aussteigen muss, dann beim nächsten Halt quer durch den gesamten Zug ruft, dass wir jetzt da seien, um mich daran zu erinnern, auch am richtigen Bahnhof auszusteigen, sodass die hilfsbereiten Studenten um sie herum glauben, die junge Frau davon abhalten zu müssen auszusteigen, weil ihr Zuhause doch an einem ganz anderen Bahnhof liegt, obwohl sie eigentlich uns und gar nicht sich selbst meint.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich das Gefühl habe, dass so ein EVS doch der richtige Moment im Leben ist, um nicht den einfachsten Weg zu nehmen und nicht auf den ersten Eindruck zu vertrauen – und das hat Sofia mir gezeigt. Oder vielleicht daran, dass ihre Art, ein wenig unbeholfen durchs Leben zu stolpern und dennoch die Freude daran nicht zu verlieren, mich doch an mich selbst erinnerte in einem Lebensabschnitt, der so viel Unbekanntes mit sich brachte.
Als Sofia später die von der Lehrerin notierten Aufgaben ausradierte und auf die für sie „richtige“ Seite schrieb, grinste ich deshalb nur, sagte aber nichts.
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