Wake me up when September ends (2/2)
Ein Exkurs im Diskurs – wie man ein Wochenende auch sehen kann.
Wie sich zeigte, war mein Text zu lang und wurde nach 9572 Wörtern einfach gekappt. Aber gut, dann gibt es eben zwei Teile. Hier nun also Teil zwei von zwei meines Wochenendes in Brünn.
Der Wecker unterbrach die Nacht jäh. Ich ging ins Bad. Man sah, dass es ein Neubau war. Eine Kombination aus neuen Armaturen und einsamen Kabeln. Kaltes Wasser strömte aus der Leitung. Hoffentlich ist die Dusche wärmer, dachte ich, zu der ich jedoch die Etage wechseln musste. Keiner war unten. Schliefen alle noch? Wie auch immer, das Bad blockierte ich dann eben. Der Boden war gefliest und dementsprechend eiskalt. Fußbodenheizung hatte ich gar nicht erwartet, doch vom wohnlichen, wenn auch unhygienischen Teppichboden, vor allem im Bad, in unserer Wohnung in Náchod war ich eben schon zu verwöhnt. Im Duschraum waren zudem die Waschmaschine, ein Waschtisch und der Wäschetrockner. Und eben die Dusche, die ich nun aufsuchte. Eine Kabine, in die man erst mit akrobatischen Verrenkungen steigen musste. Brünner Frühsport? Jedenfalls war die Dusche voll mit irgendwelchen Flaschen, Tuben, Gläsern, Essenzen, Masken, Spülungen, Ölen, Schwämmen, Lappen, Seifen und Tiegeln. Wenn mir alle paar Monate mal die Wirtschaftsstatistiken über den Weg laufen, bin ich meist schockiert über den Sektor Kosmetik. Ich rechne es dann immer auf den Durchschnittsdeutschen um und stelle eher die Authentizität der Zahlen infrage, als dass ich mich frage, wer das alles kauft. Je mehr ich mit anderen Freiwilligen zu tun hatte, desto mehr offenbarten sich mir die schieren Geldmengen, die offenbar fließen mussten. Ein nasser Nassauer würde sich wohlfühlen.
Mir reichte die Sport Dusche von sebamed. Zwei Exemplare davon hatte ich vor Monaten im Kaufland erworben. Dieses Produkt war im Angebot gewesen, weshalb ich zugriff. Zwar trieb ich vermutlich nicht einmal annähernd genug Sport, um für ein ph-neutrales Duschgel eine Notwendigkeit zu schaffen, doch was „Sport“ als Aufschrift trägt, konnte nicht schlecht sein.
Sparsam nahm ich einen Teil des blau schimmernden Gels und verteilte es, wobei ich aufpassen musste, mit meinen Ellbogen nicht die Kabinenwände zu zertrümmern oder die aufgereihten Kosmetikprodukte abzuräumen. Da sich die Temperatur der Umgebungsluft kaum erhöhte, blieb ich so lange wie möglich in der Dusche. Doch irgendwann würde der Moment kommen, in welchem ich von der einladenden Wärme in die körperweißende Kälte wechseln musste. Zudem sich auf den Fließen eine nicht zu vernachlässigende Menge an Kondenswasser gesammelt hatte, sodass ich auszurutschen drohte auf dem menschgemachten Morgentau. Einigermaßen trocken sollte ich schon sein, wenn ich danach noch durchs halbe Haus schreiten muss. Kennen Sie das Gefühl, wenn man einige Stunden in einem Hallenbad verbracht hat und schließlich in die gefühlt eiskalten Umkleideräume muss?
So in etwa war es – nur mit erhöhtem Frakturrisiko. Storchengleich tastete ich mich also heran. Nach der Tür ging es besser. Es stand niemand wartend vor der Tür – ich war erleichtert. Keinem hatte ich also die Badezimmerzeit weggenommen, was auch sein Gutes hatte. Leise schlich ich also wieder nach oben und zog mir meine Kleider für den Tag an. „Sportlich-bequem“ trifft es wohl am besten. Im Vorfeld kam die Empfehlung, Kleider mitzunehmen, die „gern schmutzig werden dürfen“. Leider ließ sich in meinem Kleidervorrat jedoch kaum so etwas finden. Man war schließlich nicht mehr zehn, als die Risse und Löcher in der Hose noch mittels eines tollen Aufnähers überdeckt wurden, den man tags darauf stolz in der Schule – jedenfalls aber danach – den Freunden präsentierte. Mittlerweile kamen die Risse in der Hose davon, dass man meint, dass einem die Denimhose, die man vor fünf Jahren einmal gekauft hatte, bestimmt noch passt.
Wie ich auch noch „nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans“ ging, war in Tschechien ebenfalls keine solche Hose vorhanden, weshalb die von der Fahrradreise bekannte Adidas-Sporthose wieder herhalten musste. Als die Kleiderwahl abgeschlossen war, ging ich hinunter zum Frühstück. Ich hatte noch einen Krapfen vom Vortag übrig, welchen ich auch hastig verspeiste. Eine vollständige Mahlzeit war das jedoch nicht. Müsli folgte. Milch hatte ich schließlich genug gekauft. Erst war ich allein, doch dann kam Vali dazu. Man redete kaum, musste erst einmal etwas essen und trinken. Der letzte Posten war noch nicht geklärt, wenn man die Milch dem Müsli zurechnet und sie daher als „Essen“ bezeichnet. An Kaffee hatte ich nicht gedacht. Beim EVS kann das brenzlig werden, da man es mehrheitlich mit Teetrinkern zu tun hat, von denen nur wenige Kaffee trinken.
Aber nun gut, es fand sich jemand. Mica kam um die Ecke und fragte, wer alles Kaffee möchte. Wie eine Offenbarung. Ich meldete mich, von Leonora wusste Mica scheinbar, dass diese immer einen trinken würde, doch bei uns dreien blieb es. Anders als während der Zeit der Rosenkriege, einer Auseinandersetzung zwischen den Adelshäusern York und Lancaster im fünfzehnten Jahrhundert, wurde uns das Gastrecht tatsächlich gewährt. Es wurde sich herzlich um einen gekümmert. Sei es auch nur die Tasse Kaffee am Morgen.
Während ich mit dem Müsli kämpfte, kamen nach und nach die anderen Leute dazu. Die Zeitplanung der Mädchen war mit der meinigen derart unvereinbar, dass beide nicht miteinander interferieren, was für beide Seiten ideal war. Dass jedoch ausgerechnet ich dabei die Position des Frühaufstehers belegte, war mehr als ungewöhnlich. So war ich mit dem Frühstück beinahe schon fertig, als die Anderen gerade erst damit anfingen, es zuzubereiten. Wenigstens hatte ich noch meinen Kaffee. Große Erwartungen hatte ich daran zwar nicht, was weniger mit Mica als mehr mit meinen bisherigen Erfahrungen zu tun hatte. Im privaten Rahmen ist die Kaffeekultur einfach weniger ausgeprägt als in Deutschland.
Meiner notorischen Expansionspolitik auf dem Esstisch wurde Einhalt geboten. Schließlich mussten an dem Tisch bis zu acht Personen Platz finden können. Zumal ich sowieso fertig war mit Essen. Den Kaffee, der nun kam, konnte man durchaus als Belohnung ansehen. Er reichte gerade so für drei Tassen. Als Mica den Kaffee einschenkte, fiel mir die Trübe des Kaffees auf. An der Stelle, an der die Flüssigkeit die Kanne verlässt und in die Tasse fließt, entsteht üblicherweise ein Strahl wechselndes Querschnitts, an dessen schmalen Stellen jedoch eine gewisse Transparenz auszumachen ist, die die rotbraune Grundfarbe des Kaffees erahnen lässt. Im Fall von Micas Kaffee war diese Transparenz nicht mehr gegeben, wovon ich mich jedoch nicht beirren ließ.
Ärgerlich war nur, dass ich meinen Süßstoff daheim vergessen hatte. Ich bin kein Diabetiker, stattdessen berufe ich mich auf die Forschungsergebnisse der Psychologin Eva Schnabel vom Institut für Psychologie und Interdisziplinäres Zentrum für Verkehrswissenschaften der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, die in ihren Versuchen herausgefunden hat, dass Zucker die Wirkung des Koffeins, weswegen wir den Kaffee eigentlich trinken, nicht synergetisch unterstützt, sondern mindert. Aus diesem Grund wechselte ich irgendwann auf Süßstoff und blieb dabei. Mittlerweile ist es zur Geschmackssache geworden, denn würde ich konsequent auf Zucker verzichten, hätte ich weder Krapfen und Müsli essen noch Milch trinken dürfen.
Um den Kaffee komplett schwarz zu trinken, sind meine Geschmacksknospen noch nicht abgestumpft genug. Also einen Esslöffel, dann ist aber gut. Der Kaffee war recht heiß, was mich zwang, noch eine Weile sitzenzubleiben. Das war ganz interessant, da Mica nun keine Kaffee-, sondern eine Tee-Umfrage machte. Die Mädchen waren natürlich gleich Feuer und Flamme, woraufhin Mica gleich die gesamte Auswahl brachte. Es gab Kräutertee, Früchtetee, Schwarzen Tee und Tees gegen gewisse Beschwerden. Verdauungsprobleme etwa. Bei so etwas muss ich immer an die Activia-Werbung mit Vera Int-Veen denken. Auch Mica musste schmunzeln, als sie den Mädchen diesen Tee präsentierte. Zu unserem Erstaunen wählten sie dann auch noch genau diesen aus, was auch immer das zu bedeuten hatte. Sie bekamen ihren Tee und mein Kaffee war endlich kalt genug, um ihn zu trinken.
Große Erwartungen hatte ich wie gesagt nicht – umso überraschter war ich, als ich den ersten Schluck trank. Der Kaffee war phänomenal. Das beste, was ich seit Wochen getrunken hatte. Endlich mal ein starker Kaffee, der sich zudem so nennen kann und nicht aus irgendeinem Fertigpulver zusammengepanscht wurde. Es war ein wahrer Wohlgenuss, warum ich auch gern noch eine zweite Tasse getrunken hätte. Doch der Kaffee war leider rationiert. Ich wunderte mich über den pelzigen Geschmack, den der Kaffee besaß. Ein wenig wie bei naturtrübem Apfelsaft. Das empfand ich nicht als negativ, es fiel mir nur auf. Als ich den Frühstückstisch nach getaner Arbeit verließ, ging ich auch an der Küche vorbei. Was neben dem Spülbecken stand, stach mir gleich ins Auge, da ich schon damit gerechnet hatte, ohne es selbst je benutzt zu haben: eine Pressstempelkanne.
Wenngleich ich mir das Funktionsprinzip unnötig oft vor Augen führte, hatte ich noch nie selbst damit Kaffee zubereitet und auch nie einen damit zubereiteten Kaffee getrunken, denn wenn es um Kaffee geht, hört bekanntlich der Spaß auf. Unsere Vorgesetzte bei der Organisation, die das Seminar in Vižňov begleitete, hatte so eine Pressstempelkanne und jeden Morgen wurde sie kritisch gemustert. Gerade wenn die Nacht kurz war, wie es in Vižňov eben dauerhaft der Fall war, umso mehr, wenn man morgens eben nicht nur den Weg ins Badezimmer, sondern den hinunter, durchs Dorf, übers Feld, in den Wald, den Berg hinauf, hinunter, zurück, hinauf, durch die Dusche, gekleidet in neue Kleider, ging. So ein Kaffee wäre schön gewesen, doch mussten wir mit dem Instant-Bohnenkaffee Vorlieb nehmen, der zugegebenermaßen gar nicht schlecht war.
Der einzige Schönheitsfehler war unter Umständen die Trübe des Kaffees, die eben daher rührte, dass der Filterstempel nicht alle Kaffeepartikel herausfiltern konnte. Was konstruktionsbedingt auch kaum anders zu lösen ist. Statt den Filter feiner zu machen, macht man den Kaffee einfach gröber. Mica hatte wahrscheinlich Kaffeemehl handelsüblichen Mahlgrades gekauft, was nicht weiter schlimm war, lediglich erklärte, wieso der Kaffee dieses pelzige Gefühl auf der Zunge hinterließ.
Ich fragte Mica, woher sie die Pressstempelkanne habe, erwartend, nun irgendeinen slowakischen Szeneladen gesagt zu bekommen. Stattdessen nannte sie mir ein großes schwedisches Möbelhaus. Das war enttäuschend und erleichternd zugleich. Der Aufwand ist minimal, aber nachher hält man ein millionenfach produziertes Produkt in Händen. Zudem ist die Fast-Monopolstellung kein gerade zuträglicher Faktor beim Erwerb.Ich werde mich wohl mal in Náchod selbst umschauen. Wir haben dort einen schönen Kaffee- und Teeladen, der sich tatsächlich nur auf diese Güter spezialisiert hat – und das in einer Stadt mit 20.000 Einwohnern. In Tschechien geben die Innenstädte ein ganz anderes Bild als im Deutschland von heute ab. Man findet für alles sein kleines Geschäftlein. Keine leeren Gassen, in denen nun wieder zur Miete angebotene Räume von der ehemaligen Konsumpracht zeugen, von der wir bald unseren Kindern erzählen werden. In meiner Heimatstadt wurde in einem ehemaligen Elektronikladen ein Büro eingerichtet. Erster Schritt war die Abklebung der vollverglasten Fassade. So viel Transparenz will man dann doch nicht.
Seit ein paar Jahren sitzen dort nun Gestalten in Rock und Anzug und verhalten sich, als würden sie nicht bemerken, dass pausenlos Personen nur wenige Meter an ihnen vorbeigehen. Teils ungesehen, nur die Silhouette, aber eben merklich. Das gesamte Konzept der Innenstadt muss überdacht werden. Einst galt der Grundsatz, dass das Erdgeschoss den Einkaufsläden gehört. Mit riesigen Schaufenstern wurde maximal attraktiert. In den oberen Etagen machte es sich dann eine Firma gemütlich, die darin ihre Büros unterbrachte. Auch Ärzte bevorzugen diese Lage, obschon sie auch Nachteile wie die als störend empfundene Guggenmusik mit sich bringen kann. Das Erdgeschoss als Refugium des Einzelhandels – es verschwindet immer mehr von der Bildfläche, aus den Städten, aus den Augen, aus dem Sinn. Im Kunstunterricht hatten wir einmal die Aufgabe, zwei Häuserfassaden miteinander zu verbinden. Elemente der Architektur sollten aufgegriffen werden, während das neu entstandene Haus durchaus modern aussehen durfte. Weltweit wurde das schon oft versucht – in Tschechien ist es misslungen. Zumindest, wenn es nach mir ginge. Das Tančící dům, es ist einfach nicht mein Fall. Wenigstens lässt einen der Rest Prags dieses Haus schnell wieder vergessen. Jedenfalls zeichnete einer meiner Mitschüler damals ein Kaufhaus, das im zweiten Stock und auch nur dort existierte. Seinen Fehler erkannte er recht spät, sodass er blieb und als interessantes Detail für die Ewigkeit in diesem Werk konserviert ist. Es lässt einen vermehrt nachdenken über so scheinbar Triviales. Wie bei den Büroleuten in ihrem Glaskasten. Für mich wirkte es immer wie ein Terrarium. Fehlte nur noch der Sand auf dem Boden, der Kaktus stand schon in der Ecke.
Mit den anderen Freiwilligen landet man manchmal zwangsläufig bei der Diskussion um die Zeitdifferenz zwischen deren Heimat und Tschechien. Wir kommen aus aller Herren Länder, doch der Großteil kommt aus Ländern, die zumindest aus weltanschaulicher Sicht als „westlich“ gelten. Das Gespräch beginnt bei einer nervtötenden Bewandtnis des Alltags in Tschechien, geht über in eine Infrastrukturdebatte und endet schließlich beim Ausmaß des zeitlichen Unterschieds. Zehn Jahre, manchmal zwanzig. Hiermit endet es. Tschechien hinge hinterher, ist eine übliche Aussage. Sei es bei Dingen wie der Geschwindigkeit der Netzwerkverbindung, beim Straßennetz oder den Autos.
Tschechien, das ist günstiges Benzin, Rauchen in Kneipen, sowie zweidimensionales Kino. Aspekte wie diese sind es, die die Bodenständigkeit der Tschechen aufzeigen. Wem dies alles nicht gefällt, dem wird spätestens die Innenstadtentwicklung guttun. Die Parks sind nicht die Wohnzimmer der Drogenabhängigen, die Bibliothek ist kein Ort, wo man kostenfreies Internet abgreift und das Wichtigste: in den Straßen ist noch Leben. Ein geschäftiges Treiben. Überall sind Leute, überall sind Läden. Das Zentrum ist noch die Stadt und nicht das Kaufhaus am Ortsende in irgendeinem Industriegebiet. Alles ist zu Fuß zu erreichen, nah beieinander – ein Konzentrat der Alltagskultur. Morgens laufe ich an den Fassaden vorbei. Der Mann steht gerade im Schaufenster, legt seine Ware zurecht, die Frau bringt, im kalten Morgenregen nur von einer Schürze geschützt, den Aufsteller nach draußen, der die Vorzüge ihrer Güter anpreist, unterhält sich mit einem Mann im Blaumann. Der Bankangestellte schiebt seine Karte in das Lesegerät am Eingang und betritt die schon beleuchtete, aber noch menschenleere Bank. Man selbst ist auf dem Weg zur Arbeit, erfährt jedoch gleichzeitig vom Leben der anderen. In dieser kollektiven Disziplin liegt auch etwas Beruhigendes. Zu sehen, dass man nicht alleine ist, dass es den anderen gleich geht, dass auch sie den Tag beginnen, etwas erschaffen, das die Welt hoffentlich weiterbringt, ist das Quantum Motivation, das es braucht, um jeden Morgen von neuem aufzustehen und der Pflicht nachzugehen.
Aufgrund der Anderen war an diesem Morgen klar, dass ich nicht der einzige sein würde, der nichts besseres zu tun hatte, als an einem freien Tag schon so früh auf den Beinen zu sein. Ich ging nun nach oben, zurück in mein Schlafzimmer. Es wurde nur vage gesagt, was wir anziehen sollten. Sachen, die schmutzig werden dürfen. Parameter wie die Temperatur waren nicht besprochen. Das war jedoch auch nicht die erste Höhle, in der ich war. Dementsprechend war die Kleiderwahl zumindest im Ansatz nicht verkehrt. Wir hatten eine bestimmte Zeit vereinbart. Ich war zwei Minuten darüber, spurtete bereits die Treppen herunter. Doch wo sind die Anderen? Es war die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Warum es so ruhig war, sah ich nun. Auf dem Boden lagen die Mädchen und machten scheinbar Yoga-Übungen. Es sah unbehaglich aus, denn das Wohnzimmer war viel zu klein für so viele Leute.
Zudem sieht der Parkettboden zwar toll aus, doch liegen lässt es sich darauf vermutlich nicht sonderlich gut. Indem ich laut die Treppe herunterpolterte, störte ich vermutlich die harmonischen Schwingungen im Raum. Leise schlich ich also wieder hinauf, saß dann jedoch sinnlos in meinem Zimmer herum und wartete, bis das ein Ende hatte. In voller Kampfmontur war das nur mäßig bequem. Ich las ein wenig. Das Problem damit ist, dass man immer genau dann, wenn es interessant wird, unterbrochen wird. So auch in diesem Fall. Wobei ich auch froh war, dass wir nun endlich losgehen konnten. Wir gingen zur Haustür, nahmen unsere Jacken von der robusten Garderobe. Anders als die in meiner Wohnung in Náchod. Wir haben acht Haken, von denen zwei defekt sind und zwei so nah an der Küchentür sind, dass man dort nur niedervoluminöse Jacken aufhängen kann, da diese sonst zwischen Küchentür und Türrahmen eingeklemmt werden. Nur die Hälfte der Haken ist also einsatzfähig. Die Garderobe befindet sich zudem im Gang unserer winzigen Wohnung. Kurzgesagt: ich kann von meinem Zimmer aus bei geschlossener Tür riechen, was meine Mitbewohnerin am jeweiligen Abend gemacht hat.
Statt nach Alkohol und kaltem Rauch roch es an der Garderobe nach Holz. Es erinnert an die zahlreichen Skiurlaube, wo auf den Skihütten und in den Unterkünften ein ähnlich hoher Einsatz von Holz als Werkstoff zu bestaunen war. Wir schnürten unsere Schuhe und brachen auf. Jedoch nicht direkt zu den Höhlen, sondern zuerst nach links zum Wohnhaus Micas. Es hatte sich ihr die Möglichkeit ergeben, alleine zu leben, woraufhin sie einwilligte und ein ganzes Haus ihr Eigen nennen kann. Zwar in die Jahre gekommen, aber Platz und Privatsphäre ohne Ende. Elektrizität gibt es jedoch erst seit wenigen Wochen. Das Haus war inmitten der Natur situiert und daher ein Sonderfall. Um nicht auch weiterhin in einer präelektrisierten Ära leben zu müssen, wurde dem Abhilfe geschaffen und ein Solarmodul installiert. In einem Schränklein war die gesamte Elektrik untergebracht. Es gab eine Autobatterie, die eigentlich ein Akkumulator ist, der den tagsüber erzeugten Strom speichert und nachts bei Bedarf abgibt. Der Schaltkreis sah ziemlich komplex aus. Mica hatte ein Physikstudium begonnen. Deshalb fragte ich sie, ob das sie verkabelt hätte, woraufhin sie lächelnd verneinte. Wenigstens konnte sie mir erklären, wie das System funktioniert. Für gewöhnlich kommt Strom ja „aus der Steckdose“. Nicht so bei ihr.
Nachdem wir Micas Bleibe besichtigt hatten, ging die Diskussion über den Sinn eines eigenen Hauses als Freiwilliger los. Ich war der Meinung, dass ein Haus viele Vorzüge mit sich bringt. Man hat weder laut gähnende, streitende und popmusikhörende Nachbarn noch das Gefühl, in einer Legebatterie zu leben. Die Mädchen waren anderer Meinung und äußerten Bedenken gegenüber der Isolation, die ein solches Haus mit sich bringen würde. Sie sagten, es würde ihnen dann eine Gesprächspartnerin fehlen, das geduldige Ohr, das es manchmal braucht. Eine Person, die den Problemchen lauscht, und sei es um des Zuhörens willen.
Es mag am estnischen Gemüt meiner Mitbewohnerin liegen, dass wir kaum miteinander sprachen und einander fremder waren als manch anderem. Wir waren das Skelett eines ursprünglich funktionierenden Konzepts, weswegen kein großer geistiger Austausch stattfand. Unsere Organisation sagte damals, der angestrebte Zustand unter den Freiwilligen, die sich eine Wohnung teilen, sei die Koexistenz. Damit formulierte sie zugleich den möglichst zu vermeidenden Ausgang. Es ist weder effizient noch erfüllend, tagein tagaus nur für sich selbst zu kochen, doch wenn sich kein Rahmen finden lässt, der das dauerhaft ermöglichen würde, verwirft man den Gedanken eben. Das geht über Tage, Wochen, Monate, bis sich die Wege wieder trennen. Nach diesem Jahr wird keiner von uns beiden mit Gewissheit sagen können, mit wem wir da eigentlich ein Jahr lang zusammengelebt haben.
Wir fragten uns, welche Gründe Mica hat, alleine zu leben, da sie uns nie wie eine Person vorkam, die die Gesellschaft mied. Vielleicht lag es an einer Gemütsambivalenz. Wer den ganzen Tag über viele Leute um sich hat, sehnt sich abends vielleicht nach ein bisschen Ruhe und Privatsphäre. Wo, wenn nicht hier, könnte man das alles haben? Auf einer Wiese mitten im Wald, am Ende einer einzigen Straße, an diesem wunderschönen Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.
Nachdem wir ein wenig durchs nasse Gras gewatet waren, gingen wir zu einer nahegelegenen Jugendeinrichtung, um dort unsere Ausrüstung abzuholen. Man war so freundlich, uns Kunststoffhosen bereitzustellen, um unsere Kleidung ein wenig vor dem Schlamm in den Höhlen zu schützen. Wasser stand in dieser Höhle nicht, aber nass würde es in der Tat sein, weshalb es nicht schaden konnte, die wasserdichten Hosen zu benutzen. Bis wir an unsere Ausrüstung gelangten, verging einige Zeit, sodass ich die Umgebung mustern konnte. Eine Frau fuhr gerade rückwärts mit einem Pferdeanhänger. Die Einfahrt war zu klein, um problemlos zu wenden, was mehrmaliges Korrigieren nötig machte. Recht unterhaltsam, zumal man ohnehin nichts Besseres zu tun hatte.
Nach einer Weile stand der Wagen endlich da, wo er sein sollte und das Pferd konnte eingeladen werden. Die Gegend war recht bergig und arm an breiten Wanderwegen, die es bräuchte, um zu reiten. Jedenfalls war der Ort gut besucht und es fanden noch weitere Aktivitäten statt. Die Warterei kam mir ewig vor, obwohl sie insgesamt kaum länger als zehn Minuten gedauert haben dürfte. Es war mehr die Ungewissheit, die die Wartezeit zumindest subjektiv enorm in die Länge zog. Im Falle dieser Zeitdehnung hat sich durch den Freiwilligendienst einiges verändert. Reisen ist ein fundamentales Element des Lebens als Freiwilliger, wohingegen ich vorher eher wenig und wenn doch, dann mit dem Auto verreist war, wo man generell ganz andere Erfahrungen macht. Autofahren ist bequem, man fährt von A nach B und nicht von A nach A1, um dort nach langem Warten umzusteigen und Richtung A2 weiterzufahren, dort umzusteigen in A3, um schließlich von A3 endlich nach B zu kommen.
Im Auto hat man nicht die dauernde Aufsichtspflicht fürs Gepäck, zudem hat man Unterhaltungsmöglichkeiten, zwischenmenschlich wie multimedial, man kann Pause machen wie oft und wo man möchte, Proviant auf dem Weg und nicht im überteuerten Schiebewägelchen oder Bordrestaurant einkaufen und Umwege durch schöne Bergdörfer nehmen. Tschechien war eine Umstellung, da man vom Luxus des Automobils weggezerrt wurde und fortan mit den öffentlichen Verkehrsmitteln Vorlieb nehmen musste, was für mich persönlich einer Offenbarung gleichkam, da ich zuvor, in Deutschland, entweder im falschen Ort wohnte, jedenfalls nie wirklich mitgerissen wurde vom Reisefieber mancher Leute, die ich kannte oder von denen ich gehört hatte. Soll heißen, dass der Bus mich zur Schule und der Zug nach Stuttgart brachte, weiter jedoch nur selten. Und wenn es sich vermeiden ließ, war uns viel daran gelegen, das auch durchzuziehen und eben mit dem Auto nach Stuttgart zu fahren, wiewohl das weder ökonomisch noch ökologisch war. Es ist die ewige Frage nach dem Warum. Warum macht man das? Weil man es kann, weil man es nicht anders möchte, weil man vielleicht gar nicht so lange darüber philosophiert wie es dieser Text nahelegt.
Den öffentlichen Nahverkehr in meiner Stadt und Gegend empfand ich nie als etwas Schönes oder Unterstützungswürdiges, da die Preise gesalzen und die Dienstleistungen teils miserabel waren. Die Autofahrt nach Tschechien würde für eine lange Zeit die letzte sein, war in diesem Fall jedoch durch und durch lohnenswert, man denke an meine acht Reisetaschen inklusive der Kaffeemaschine, meinen Kurzurlaub in Prag samt Familie und generell die Erfahrung für meine Eltern, „mal hier gewesen zu sein“, gesehen zu haben, wo der Sohnemann für ein Jahr hausen (müssen) wird. Als ich zum letzten Mal dem Auto hinterherwinkte war klar, dass das nicht nur ein Abschied von meinen Eltern, sondern auch von Mobilität, Komfort und Sicherheit sein würde.
Von nun an würde ich mehr laufen, mehr fahrradfahren, nach Bussen Ausschau halten und mich von Zugverbindungen abhängig machen müssen. Wobei ich mir auch das erste Mal in meinem Leben ernste Gedanken zu Parametern wie Umsteigezeit, Sitzplatzreservierung und strategischer Sitzlage machen muss. In Gedanken durchschreitet man die Bahnhöfe, die man kennt, was schon ganz schön viele sind. Praha, Hradec Králove, Pardubice, Trutnov, Starkoč, Brno. Wie lange würde ich von Gleis 1 zu Gleis 7 brauchen? Weiterhin: ist die Strecke populär; wer könnte ein Interesse daran haben, mit dieser Bahn zu fahren? Ferner: ist eine Sitzplatzreservierung nötig und die paar Euro wert, die sie extra kostet? Wenn ich dann im Zug bin, geht es weiter. Wo sollte ich mich setzen? Wo wird die Sonne sein und in welche Richtung fahren wir? Werde ich genug Zeit haben, am Klapprechner zu arbeiten und falls ja, wo sind Sitzplätze mit Tisch und im besten Fall Steckdosen? Wo ist noch eine ausreichend große Lücke in der Gepäckablage? Der Kopf beurteilt in Sekundenbruchteilen, wo man sich am besten hinsetzt.
Wichtig ist allerdings, dass man diese Assoziationen überhaupt hat. Wäre ich in einem Auto, würde meine Aufmerksamkeit der Straße, möglichen Staus oder der Zeit bis zur nächsten Ausfahrt gehören, vielleicht aber auch nur dem Gespräch im Radio oder meinem Beifahrer. Man hat andere Gedanken im Zug, was die Reise spannender, interessanter, aber auch stressiger macht. Im Großen und Ganzen ist es jedoch eine neue Erfahrung, die ich in Deutschland auf diese Weise vielleicht nie gemacht hätte, da man meist genug Freiwillige hat, die die Reise für einen planen. Ist man plötzlich selbst konfrontiert mit der Vorbereitung, betritt man neue Gedankenabteile und muss Dinge berücksichtigen, von deren Existenz man vorher nichts wusste. Es soll die Bahnfahrt noch komplizierter klingen lassen als sie ist.
Dennoch ist hervorzuheben, dass auch so spät noch ein Umdenken möglich ist. So habe ich in Tschechien den öffentlichen Personenverkehr zu schätzen gelernt. Das liegt zwar mehr an den hiesigen Bedingungen, den guten Konditionen, der Verlässlichkeit und Pünktlichkeit, dem Gesamtpaket, das stimmig ist, und weniger an der generellen Schöne dieser Transportmöglichkeit, doch wenigstens wurde ich gezwungen, mich damit zu beschäftigen, wodurch ich auch etwas lernen konnte. Das Reisen mit dem Zug empfand ich vorher immer als eintönig und die Zeit schien nie zu vergehen, weil man eben nichts zu tun hatte, anders als im Auto. Mit der Zeit wandelte sich dieses Gefühl jedoch, die Zeitdehnung verschwand und kehrte sich geradezu um in eine komprimierte Zeiterfahrung. Eine neunstündige Zugfahrt war keine Minute kürzer als sie angegeben war, aber man empfand die Reise nicht als unnötig lang, nervenaufreibend oder ärgerlich.
Fast ein ganzer Tag spielte sich eben in diesem Stahlschlauch ab. Man aß sein Frühstück dort, arbeitete am Rechner, laß ein Buch, aß zu Mittag, schlief ein wenig, las wieder, schaute aus dem Fenster, bis es schon wieder dunkler wurde und man das letzte Brötchen verdrückte. Man könnte sagen, den Tag habe man verschwendet, da er einzig und allein dem Transport diente, dem Hingelangen zu einem Sehnsuchtsort, dem Ziel. Trotzdem empfindet man es nicht als Verschwendung, da man durchaus tätig war, räumlich zwar gefangen, aber frei in seinem Handeln, solange es an einem Tisch stattfinden konnte. Die langen Bahnfahrten empfinde ich in der Zwischenzeit nicht mehr als Zumutung, zwar als Belastung, aber als etwas Gutes, schließlich sind sie der Beginn einer Veränderung, meist eines Urlaubs oder Ausflugs, auf die man sich freuen kann, weshalb die Fahrt an sich auch fast schon wie im Flug vergeht. Aus Zeitdehnung wurde Zeitraffung, fast schon zu schnell vergeht so manche Fahrt, sodass man sich wünscht, doch noch ein wenig sitzenbleiben zu dürfen und die Landschaft zu beobachten, wie sie in Streifen vorbeifliegt.
Wenn jedoch nichts über den Ablauf bekannt ist, eine Abwesenheit von Information vorhanden ist, vergeht die Zeit weder im Zug noch außerhalb, gerade eben zum Beispiel. Nicht wirklich wusste man, warum man gerade wartete. Erst kurze Zeit später erfuhr ich den Grund für die Verzögerung. Scheinbar hatte man sich mit zwei weiteren Leuten verabredet, die uns in der Folge vorgestellt wurden. Zwei Freiwillige, eine Frau und ein Mann, aus unterschiedlichen Ländern, mit Namen, die ich nur zur Kenntnis nahm, sie mir jedoch nicht einzuprägen vermochte. Ein nicht nur mir bekanntes, sondern allgemein verbreitetes Problem unter Freiwilligen und allen, die plötzlich mit einer großen Zahl an neuen Menschen konfrontiert werden. Beim Europäischen Freiwilligendienst ist es manchmal besonders schwerwiegend, zumal man Leute aus allen Teilen der Welt trifft, deren Namen nicht nur schwer auszusprechen, sondern auch schwer zu merken sind. Die tschechischen Namen reihen sich nahtlos ein.
Dann bin ich auch noch Lehrer – sagen wir, es könnte einfacher sein. Wobei das Gedächtnis dauerhaft gefordert ist, es schläft nie, dazu gibt es zu viele Namen, die ich mir zu merken habe. Dreistellig ist die Zahl mit Sicherheit, primär durch die Arbeit an der Schule, doch auch so begegnet man genug Menschen, um die Zahl nach oben hin zu erweitern. Wenn man nicht aufpasst, ist der Name, der eben noch gesagt wurde, schon vergessen, beziehungsweise verschwunden, weil man nicht versucht hat, ihn sich durch Wiederholung oder Merkhilfen einzuprägen. Merkhilfen sind für mich eine Gnade. Im Fall von Mica denke ich immer an Pizza, die ich am Vortag ja auch tatsächlich zubereitet hatte. Die Pizza, nicht Mica. Bei Leo, deren voller Name Leonora ist, denke ich an eine ehemalige italienische Austauschschülerin einer Klassenkameradin, Eleonora, Leoparden und einen Mann namens Leo, mit dem ich früher im Leichtathletik-Verein war.
Vali kommt vermutlich von „Valentin“ und klingt wie Wally, mit vollem Namen Walburga Neuzil, die Geliebte von Egon Schiele, außerdem wie das englische Wort „valley“ und in einem Tal waren wir sowieso. So schließt sich der Kreis, seltsame Assoziationsketten sind es manchmal, aber sie führen zum Ziel. Bei den beiden neuen Freiwilligen nicht, denn da habe ich es auch nicht versucht. Na ja, sie werden es mir verzeihen. Wie oft war ich schon Nikolas, Nikola oder Lukas, ich zähle nicht mehr mit und kenne meine Scheinnamen mittlerweile, sodass ich auch bei diesen reagiere. Bei den Leute, die mich schon länger kenne, sehe ich dann auch über Rechtschreibfehler hinweg, solange der Name verbal noch zu verstehen ist.
Das Warten hatte jedenfalls ein Ende und wir konnten endlich los. Im Rucksack dabei die wasserdichten Hosen. Es ging in den Wald auf einen belebten Pfad. Familien und Sportler fanden sich dabei ebenso wie Rentner. Vereinend war, dass alle einen Ausflug dorthin geplant und offensichtlich das gleiche Ziel hatten. Wir gingen mit und doch nur neben ihnen den Weg durch den Wald, unterhielten uns nebenbei über den Bach und die Ruinen einer früheren Mühle. In Tschechien bleibt so eine Struktur vorhanden, selbst wenn sich darin grünlich-schwarzes Wasser mit allerlei Laub und Unrat sammelt. Man entfernt es nicht. Nicht aus Nostalgie, sondern einer anderen Geisteshaltung. Zerstörte Gebäude und Orte sind in Tschechien nicht so geächtet wie in Deutschland und scheinbar braucht man die Fläche nicht, also bleibt es erhalten, wobei mit „Erhalten“ Verfallen-Lassen gemeint ist. Man kann bewusst nicht Bebauen, weil man es kann. Ruinen sind es, die bleiben, Relikte einer Zeit, von der man nur noch ihre unansehnlichen Überbleibsel bestaunen kann.
Besser genießte man die Natur, die zu dieser Jahreszeit gerade den Wandel zum Herbst hin durchmachte, was man vom Strohhaus aus gut sehen konnte. Ein grüner Teppich mit ein paar roten, gelben und orangenen Verzierungen hie und da. Im Wald selbst standen alle Zeichen jedoch noch auf Spätsommer; von Herbst keine Spur. Uns freute das, denn das Wetter ermöglichte einen Ausflug ohne Komplikationen. Was die anderen Wanderer als störend empfanden, waren die Fahrradfahrer, die in Ermangelung eines eigens für sie kreierten Pfades auf dem normalen Wanderweg fuhren. Dabei angezogen wie Teilnehmer der Tour de France. Lediglich die Leistung ließ noch ein wenig zu wünschen übrig. Kein Problem, dem man mit einer Portion Erythropoetin nicht beikommen könnte.
Die Freiwilligen mit unbekannten Namen, die allerdings gehörig mehr Erfahrung mit Tschechien und seiner Kultur hatten, erzählten uns, dass Sportler wie diese ein vielgesehenes Phänomen unter tschechischen Freizeitsportlern seien. Gekleidet wie werdende Weltmeister, würden sie auf ihr Fahrrad steigen, um dann lediglich eine entspannte Feierabendrunde zu drehen. Mit einem Trikot, das sie vermutlich in durchaus sportlich aktiven Episoden ihrer Jugend erhalten haben. Erstaunlicherweise erkannte ich auf einem der Trikots ganz groß das Škoda-Signet. Also doch Tour de France? Škoda ist einer der größten Sponsoren dieser Veranstaltung. Wir werden es nie erfahren, aber selbst falls ja, so muss das schon einige Jahre her sein.
Die Wanderer waren durchaus nicht amüsiert von den Radlern, die sich links und rechts an ihnen vorbeiquälten. Eine der Fahrerinnen fiel an einer steilen Stelle sogar vom Sattel und stellte fest, dass es wohl besser ist, zu schieben. Die anderen probieren es auch weiterhin, nicht immer mit Erfolg.
Es ging noch einige Zeit weiter in den Wald hinein. Je weiter wir in das Dickicht vordrangen, fragte ich mich, wo hier noch Höhlen sein sollen. Eine Kurve wand sich um den Berg und da kam sie: eine Lichtung. Gut besucht, offenbar waren wir schon da. Eine Traube von Menschen hatte sich um den Verkaufsstand versammelt, es waren größtenteils Familien anwesend, die Karottenstifte aus Kunstoffkisten aßen. Es stand uns frei, zu welcher Höhle wir zuerst gehen sollten. Nur ein kleiner Fußmarsch trennte uns von der kleineren, doch inwiefern sich die Wartezeit entwickeln würde, war uns unbekannt, sodass wir beschlossen, erst in die große Höhle zu gehen. Wir gingen zu einem Kiosk, in dem eine ältere Dame saß, die uns die Eintrittskarten für die Höhle verkaufte.
Erst überlegten wir noch, ob wir nicht vielleicht einen Rabatt heraushandeln konnten, doch die Dame im Kiosk erweckte nicht den Anschein, dass dies möglich sein würde. Sie war höflich und freundlich, aber Europäische Freiwillige? So etwas kannte man hier nicht. Und das war auch nicht schlimm, denn ob nun voller Preis oder nicht, hier sollte man nicht kleinlich sein, schließlich war es noch immer ein verschwindend geringer Betrag. Man bekam eine Wertmarke unterschiedlicher Farbe und damit hatte es sich. Für kaum mehr als einen Euro bekam man sogar eine Führung. Ein junger Mann, der höchstwahrscheinlich Speläologe (Höhlenforscher), mindestens jedoch Chemiker oder Geologe gewesen sein muss, wurde uns vorgestellt. Er verkündete, dass wir die Wahl hätten. Entweder würde die Führung auf Tschechisch oder auf Deutsch stattfinden. Englisch beherrsche er nur rudimentär, Deutsch dagegen moderat, Tschechisch war offensichtlich seine Muttersprache.
Nun waren wir ein bunt gemischter Haufen Freiwilliger, von denen nur Mica Tschechisch verstand. Sie kam zwar aus der Slowakei, aber die Sprachen ähneln sich genug, um einander zu verstehen. Nun also die Frage: Lieber Tschechisch und damit gleiches Recht (Recht auf Unverständnis) für alle oder lieber Deutsch? Das hätten dann immerhin vier Leute verstanden, von denen sich hoffentlich einer finden lassen würde, der das Gesagte auf Englisch übersetzen konnte. Am Ende einigten wir uns auf Deutsch. Wir versprachen zudem, als interlinguale Vermittler zu dienen. Bevor es in die Höhle ging, setzten wir einen Helm auf, zogen unsere Jacken an. Dann ging es auch schon hinein. Der Mann erzählte uns, um was für eine Höhle es sich handelte, welche Geschichte sie hätte und sprach dabei tatsächlich Deutsch. Ich fand es beeindruckend, da die meisten Tschechen, die ich bis dahin getroffen hatte, die Sprache immer mehr als eine Art der Belustigung sahen, beziehungsweise ihren eigenen Misserfolg beim Erlernen der Sprache komödiantisch ausschlachteten. Das war zwar unterhaltsam und lustig, aber wenig zielführend. Das ist nicht unbedingt verwerflich, die ersten paar Male lacht man noch mit, aber imponieren tut das keinem. Von einer Konversation konnte nie die Rede sein, weshalb es mich umso mehr vom Hocker riss, welche Wörter der tschechische Wissenschaftler kannte. Vokabeln, deren englisches Äquivalent nicht immer bekannt war.
Es ging zum Beispiel um eine Vertiefung im Höhlenboden. Ein Rinnsal rann den Fels entlang, hinein in das Loch am Boden. Uns wurde erklärt, dass sich darin kleine Steinchen befinden würden. Das Wasser erzeugte beim Abfließen einen Wirbel und riss dabei die Steinchen mit sich, wodurch sich diese Form langsam ausbilden konnte. In Anbetracht der Größe war es ein beachtlicher Fakt, da man sich nicht vermochte vorzustellen, wie viel Zeit seitdem vergangen sein musste. An den Anderen gingen Anekdoten wie diese schnell vorbei, da sie weitergegangen waren, während der Reiseführer uns Deutschen versuchte, sein Wissen weiterzugeben. Wir fassten es zusammen und gaben es an die anderen Freiwilligen weiter, denen man aber ansehen konnte, dass sie die Situation als suboptimal empfanden, was aber nicht anders gewesen wäre, wenn wir vorher Tschechisch als Sprache gewählt hätten. Dann wäre die Übersetzungshoheit Mica zugefallen und die Arme wäre nichts anderes als ein wandelndes Wörterbuch gewesen.
Wir konnten uns stattdessen abwechseln und uns gegenseitig helfen, wenn uns ein Wort nicht einfiel. Und mit Verlaub; von diesen Wörtern gab es einige. Unser Höhlenführer ging nämlich enorm ins Detail, bis hin zu einem Grad, an dem es für einen Normalsterblichen eine Herausforderung wird, das auch nur wiederzugeben. Obwohl so eine Höhle von außen langweilig erscheinen mag, so ist sie tatsächlich erheblich komplizierter, als man denkt. Die chemischen Vorgänge, die stattfinden, sind beachtenswert. Die Höhle war weitläufig, sodass wir oft am Laufen waren und infolgedessen wenig weitergeben konnten. Doch ab und zu blieben wir auch stehen und konnten den wissenschaftlichen Ausführungen zuhören, was hochinteressante, wenn auch schwere Kost war. Er versuchte, uns das Prinzip der Kalksättigung und ihre Auswirkungen auf die Mikrochemie in der Höhle zu erklären. Wenn es regnet, nehmen die Regentropfen Kohlenstoffdioxid auf und versickern im Boden, wo sie organische Säuren aufnehmen. Diese Mischung kann Kalk aus dem Gestein herauslösen und bildet schließlich Calciumhydrogencarbonat, welches gut wasserlöslich ist. Sobald die Wassertropfen es bis an die Höhlendecke geschafft haben und mit Luft in Berührung kommen, wandelt sich das Calciumhydrogencarbonat wieder in Kalk um, der nur schwer wasserlöslich ist. Das Wasser verdunstet nach und nach; übrig bleibt ein Tropfstein. Das Phänomen der Kalksättigung beschreibt lediglich die calcitlösende beziehungsweise calcitabscheidende Eigenschaft von Wasser in Abhängigkeit der Kohlensäure-Konzentration.
Unzählige neugierige Gesichter fragten uns, was der Mann eben gesagt hätte und ob wir es bitte wiederholen könnten. Hier gerieten wir in ein Dilemma. Klar, wir hätten ihnen was erzählen können von „saturation“, „ carbonate dissolution“ und „accumulation“, doch wem hätte das schlussendlich einen Mehrwert geboten? An fähigen Rezitatoren hätte es nicht gefehlt. Eine deutsche Freiwillige war sogar Preisträgerin des Abiturientenpreises der Gesellschaft Deutscher Chemiker.
In wenigen Sätzen fasste ich das Gesagte zusammen, ohne ohne lügen zu müssen behaupten zu können, ich hätte tatsächlich alle Zusammenhänge verstanden. Soll heißen ich sprach dilettantisch über eine Sache, von der ich nicht allzu viel verstand, wie es gern getan wird. Die spontane Falsifizierung war dann jedoch auch keinem möglich, weshalb wir weiter unserer Wege gingen. Wir wurden darauf hingewiesen, dass bald eine Figur kommen würde, die wir jedoch nicht (!) anfassen sollen, da sie sonst im Wachstum behindert würde. Als ich gerade anfange, zu sagen: „He told us not to touch the…“, passierte es und eine der Freiwilligen tat genau das. Nun war es sowieso schon passiert, was sollte man machen? Ich sagte ihr, was der Wissenschaftler gesagt hatte, doch mehr konnte ich für die Figur dann auch nicht mehr tun. Wenigstens tat es ihr keiner mehr gleich – ein Teilerfolg. Mich erinnerte das an einen Vorfall, der in der Mittelstufe passierte.
Unerlaubterweise spielten wir Fangen neben dem „Nebenbau“ genannten Schulgebäude. Damals waren noch Bauarbeiten im Gange; überall lag Material, so auch ein rostiges Eisengitter. Ein Freund von mir sprintete guter Dinge voran, ohne auf den Boden zu schauen. Ich rief ihm zu, er solle Acht geben, ein Gitter würde auf dem Gras liegen. Wie Sie sich vorstellen können, war es da auch schon passiert: ein rostiger Eisenstab hatte seinen Weg in seine Hand gefunden. Knapp unter dem Daumen in der Handinnenfläche hatte sich eine Wunde gebildet. Das Spiel fand ein jähes Ende, der Schultag für ihn auch. Er ging zum Arzt, ließ sich gegen Tetanus impfen, um sicherzugehen und kehrte mit einem Verband für die Zeit danach zurück. In beiden Fällen brachte der Zuruf nichts, waren es stets auch nur Sekundenbruchteile, die die zwei Ereignisse jeweils trennten.
Die Höhle hatte nicht nur chemische Eigenarten zu bieten. Ebenso verwunderlich waren die Tropfsteine, beziehungsweise das, das von ihnen noch übrig war. Wie uns der der Forscher erzählte, hatte die tschechische Zivilbevölkerung die Höhle nämlich für Schießübungen missbraucht. Mit Pistolen und Schießgewehren seien sie damals hergegangen und hätten nach Lust und Laune auf die Stalaktiten und Stalagmiten gefeuert. Auf die Frage hin, warum sie das gemacht hätten, konnte uns der Wissenschaftler nur peinlich berührt antworten, dass es eine Art Freizeitbeschäftigung gewesen sei und nicht wirklich rational erklärbar sei. Damals war Schießen in Höhlen populär, heute ist es das Schließen von Höhlen, um die Fledermäuse zu schützen. Zeiten ändern sich offenbar auch in so scheinbar konstanten Systemen wie diesem Koloss aus Wasser und Stein.
Es ist für gewöhnlich schwer, Leute für die Speläologie zu begeistern. Gern wird man auf eine Ebene gesetzt mit Ornithologen oder Mykologen – allesamt hochinteressante Zweige in der Wissenschaft, die dennoch nur selten Hochachtung genießen. Wenn man mit der Frage konfrontiert ist, was ein Höhlenforscher so macht, neigt man dazu, zu entgegnen, dass er unterschiedliche Steine einsammelt und Bodenproben nimmt. Sicherlich gehört das zum Tätigkeitsfeld eines Speläologen, doch in der Realität gleicht seine Arbeit nicht selten der eines Kommissars, der Indizien sammelt und diese am Ende zusammenträgt, um schlussfolgern zu können, welche Episoden die Höhle in ihrer Entwicklung erlebte. Beispielsweise wurde in der Höhle das Skelett eines Tieres gefunden, das anscheinend verhungert war, weil es in der Höhle nicht genug Futter gab und alle möglichen Ausgänge verschlossen waren. Irgendwie musste das Tier jedoch hereingekommen sein.
Dieser Eingang und offenbar einzige Ausgang zu dieser Zeit musste zugeschüttet worden sein. Ob durch einen Erdrutsch, ein Unwetter oder sonstige Umwelteinflüsse. Das führte die Forscher auf die Fährte dieses Seitenganges der Höhle. Er muss früher die einzige Verbindung zur Außenwelt gewesen sein. Lange bevor der große Durchbruch geschah und der jetzige “Haupteingang“ entstand. Noch immer sind Zählwerke im Einsatz, die Änderungen in der Menge des Tropfwassers erkennen sollen. Es musste früher einen Bach gegeben haben, welchen es heute jedoch nicht mehr in dieser Größenordnung gibt. Wie man sah, waren die Forschungen noch vollends im Gange. Zentimeter von einem entfernt stand wissenschaftliches Gerät, das seinen Teil dazu beitrug, herauszubekommen, was es mit diesem Naturspektakel auf sich hatte. Erfährt man von den Methoden, wird diese auf den ersten Blick trockene Angelegenheit plötzlich interessant, wofür ich unserem Reiseführer auch wirklich dankbar bin. Er verlor sich nicht in disziplinärem Geschwafel, sondern versuchte, uns die Vielfalt seines Fachgebietes näherzubringen, was ihm auch gelang. Zwar waren seine Ausführungen nicht für jedermann verständlich und zuweilen unübersetzbar, doch meist bemühte er sich, die Komplexität dieses Systems kompakt wiederzugeben.
Kurz bevor die Höhle endete, zeigte uns der Speläologe eine weitere interessante Eigenart dieser Höhle. Es gab eine Wand, die übersät war von weißem Mineral. Um was es sich genau handelte, kann ich nur mutmaßen. Bei Mineralien gibt es die Eigenschaft der Lumineszenz, die sich wiederum gliedert in Phosphoreszenz und Fluoreszenz, Elektrolumineszenz (bedingt durch Strom), Radiolumineszenz (durch radioaktive Strahlung), Chemolumineszenz (durch chemische Stimulation), Thermolumineszenz (aufgrund von Wärme) und Tribolumineszenz (durch Kraftzufuhr). Bei unserem Mineral handelte es sich glücklicherweise um das unkomplizierteste: fluoreszierendes Gestein. Folglich kann es sich nur um eines dieser Mineralien gehandelt haben: Bergkristall, Chalcedon, Calcit, Lapislazuli. Das Nachleuchten des Gesteins ist auf Störungen im Kristallgitter und Fremdionen zurückzuführen.
Um das Phänomen bestaunen zu können, muss man das Mineral von seiner energetischen Grundebene auf ein höheres Energieniveau bringen, was man mithilfe einer Taschenlampe erreicht. Wir schlossen die Augen, während unser Höhlenführer die Wand anleuchtete. Als er die Taschenlampe wieder ausmachte, öffneten wir unsere Augen und starrten auf die Wand. Diese emittierte ein erstaunlich helles Leuchten, das zwar nur von kurzer Dauer, dafür aber richtig intensiv war. Mica kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, und erinnerte dadurch schon viel mehr an eine Physikstudentin. Sie habe das Phänomen der Photolumineszenz, wie die Fluoreszenz und die Phosphoreszenz zusammengefasst werden, zwar schon gesehen, nie jedoch in einer solch starken Ausprägung. Auch mir war so etwas noch nicht untergekommen. Die Höhle war in gewisser Weise ein begehbares Labor, in dem allerlei Interessantes zu bestaunen war. Was in der Schule manchmal zu kurz kam, wurde jetzt aufgeholt. Damals die spezifische Wärmekapazität von Wasser mithilfe eines Tauchsieders zu ermitteln, war einfach nicht so der Bringer.
Die Demonstration des fluoreszierenden Gesteins war ein schöner Abschluss dieser Tour. In einer Reihe ging es zurück zum heutigen Ausgang, wobei wir uns an den anderen Besuchergruppen vorbeiquetschen mussten. Diese sahen uns entgeistert an, als wir Englisch sprachen, musterten uns genauestens, während sie riskierten, ihre neonfarbene Funktionsjacken an der dreckigen Höhlenwand zu beschmutzen.
Wir verließen die Höhle, bombardierten unsere Netzhaut mit etwa 7.226.569.800.000 Photonen pro Sekunde und Auge. Sieben Trillionen Lichtteilchen – und das, nachdem es in der Höhle so schön dunkel gewesen war. Nicht gerade die beste Kur, aber wir waren ja keine Minenarbeiter, die dies tagtäglich durchmachen müssen.
Die erste Höhle war nun abgehakt. Wir dankten unserem Höhlenführer für sein Engagement und dafür, dass er tatsächlich in der Lage war, die komplette Führung auf Deutsch durchzuziehen. Es saßen alle Fachbegriffe, von der Kalksättigung über die Säurekonzentration bis zum Wirbel. Er schien ebenfalls froh gewesen zu sein, sein Wissen einmal in dieser Sprache weitergeben zu dürfen, die er zweifelsfrei beherrschte wie nur wenige Andere. Wie frustrierend muss es sonst sein, ein solches Repertoire an Wissen in petto zu haben, jedoch in einer Sprache, die nie zum Einsatz kommt?
Man verabschiedete sich und ging zur nächsten Höhle. Diese war öffentlich zugänglich, kostete nichts extra, hatte jedoch auch kein Fachpersonal. Vorab war herumgefragt worden, wer Interesse daran hätte, einen engen Teil der Höhle versuchen zu passieren. Man müsse auf dem Boden kriechen und keine Platzangst haben. Ich habe weder Klaustrophobie noch Angst vor Lehm, weshalb ich gleich Interesse angemeldet hatte. Wir teilten uns in zwei Gruppen auf, da die Höhle nicht gerade geräumig war. Ich ging gleich beim ersten Trupp mit. Es hieß, wenn man später in den engen Teil hinabstiege, sei dort ein kleiner Bach, was ich mir deutlich romantisierter vorgestellt hatte, als es dann schlussendlich war. Ich hatte fest mit einem unterirdischen Fluss gerechnet, an dessen Ufer man hätte sitzen und seine Füße ins Wasser halten können. Etwas in der Art des Höhlensees in Tapolca, Ungarn.
Stattdessen gab es dort ein mickriges Rinnsal, umgeben von Steinen und Erde. Der Abstieg dort hinunter war von nicht zu vernachlässigender Schwierigkeit, sodass sich ein bisschen Enttäuschung breitmachte. Doch das war egal. Ich hangelte mich an dem Kletterseil wieder hinauf, wand mich um die spitzen Vorsprünge herum zurück zum Höhlenhauptgang. Es ging nun in der Horizontalen weiter, doch es wurde immer enger. Die Höhlendecke wurde immer niedriger – ich musste mich ausgestreckt auf den Boden legen und weiterkriechen. Ich fragte mich, wie die Anderen, die nicht hinunter zum Bach steigen wollten, vor mir da durchgekommen waren. Zumal ich dachte, dass die eigentliche Engstelle erst noch käme. Unter Zuhilfenahme der Füße, mit denen ich mich am lehmigen Boden abzudrücken versuchte, und der Arme, mit denen ich mich, festhaltend an der Decke, die nur Zentimeter über mir war, nach vorne zog. Teilweise wurde der Kanal sogar seitlich zu eng, sodass ich mit den Schultern hängen blieb und mich drehen musste, um durchzupassen. Bei einem Umzug ist man des Öfteren mit dem Problem konfrontiert, dass der Schreibtisch, Sessel oder das Sofa nicht durch die Türe oder das enge Treppenhaus passen. Meist muss man sich ganz schön verenken, um das Möbelstück doch noch durchzubekommen. Mir ging es nicht anders. Als die Schultern wieder frei waren, zog ich die Arme nach vorne, streckte sie aus, stützte die Unterarme auf dem Höhlenboden ab, drückte mich nach oben, zog meinen Torso ein Stück über die Ellbogen und ließ mich wieder absinken. Das wiederholte ich noch ein paar Mal, bis ich langsam wieder mehr Freiraum hatte. „Meine Güte, wenn das der leichte Teil gewesen sein soll, was kommt dann bitte jetzt?“
Ernüchternderweise der Ausgang der Höhle. Das sei das Stück gewesen, von dem vorher die Rede war, sagte Mica. Die Anderen hätten einfach umgedreht und die Höhle auf die Weise verlassen, wie sie sie betreten hatten. Der Eingang wurde abermals zum Ausgang, der Hinweg zum Rückweg, die Laufrichtung invertierte sich, das Positiv wurde zum Negativ, der Rundkurs zur Strecke.
Es war schade, denn trotz der Strapazen fand ich es spannend, sich so seinen Weg durch das auf den ersten Blick Unmögliche zu bahnen. Wie auch immer, die Höhlenbegehung war für unsere Gruppe jedenfalls beendet. Sie war nur kurz, aber nicht minder interessant. Ich stieg aus der wasserdichten Latzhose und begutachtete das Ausmaß der Verschmutzung an meiner Kleidung. Es hielt sich erstaunlicherweise in Grenzen. Während wir uns umzogen und die Erde ein wenig von unserer Kleidung abzuklopfen versuchten, ging die zweite Gruppe in die Höhle. Draußen war es nicht mehr so kalt und auch heller, sodass sich die Warterei gut ertragen ließ. Man redete, sprach über die Höhle, beobachtete die weiteren Besucher.
Trotz der beschriebenen Anfahrtswege waren es nur Tschechen, die wir sahen. In Tschechien ist das die Regel. Nur selten trifft man Leute aus anderen Ländern oder Leute, die nicht Tschechisch sprechen. Das ist angenehm, weil es alles authentischer wirken lässt. Ob ich in der Bäckerei, im Schwimmbad, im Supermarkt oder im Sportstudio bin – überall werde ich behandelt, als sei ich Tscheche. Die Bäckerin fragt nach, wie viele Brötchen ich möchte, die Mitarbeiterin im Schwimmbad fragt mich, welche Schlüsselnummer ich gerne hätte, die Kassiererin, ob ich eine Kundenkarte habe und der Sportler, wie viele Sätze ich noch machen würde. Bringe ich tatsächlich etwas heraus, kommt meist die Nachfrage, ob ich Pole sei. Diese sind in Náchod und Umgebung häufig, doch bin ich natürlich keiner. Ich gebe mein Bestes, den Leuten zu antworten, auf Tschechisch, versteht sich. Es wäre mit Sicherheit einfacher für mich, auf Englisch auszuweichen. In Frankreich, Italien, an vielen Orten wird einem diese Geste von den Einheimischen angeboten – manchmal trotz des Umstands, dass man die Sprache spricht.
Anders in Tschechien. Die Tschechen verbiegen sich ungern und bleiben bei ihrer Muttersprache. Dieser Fakt, kombiniert mit der Homogenität des Volkes, führt dazu, dass man hier tatsächlich das Gefühl hat, „in der Ferne“ zu sein, wo auch immer diese liegen mag. Man kann die Fremde nicht abschalten; ich wache nicht eines Tages auf und alle Straßenschilder sind auf Deutsch, alle Menschen sprechen Deutsch und ich verstehe jeden. Stattdessen ist jeder Tag eine neue Erfahrung in dieser einem durchaus vertrauten Welt, die jedoch nicht von heute auf morgen ihre Fremdartigkeit verliert. Tschechien ist eine in sich geschlossene Region, zumindest auf dem Land. Lässt man sich darauf ein, so kann man vollständig in die Kultur eintauchen, statt nur Tourist zu bleiben. Man ist einer von ihnen, redet nicht gebrochenes Englisch miteinander, sondern perfektes auf der einen, miserables Tschechisch auf der anderen Seite, ist am Tagesende vielleicht nur ein Tscheche mit komischem Akzent, jedenfalls ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft.
Es hilft eindeutig, nicht die Möglichkeit zu haben, die Sprachbarriere zu umgehen – eine Problematik, die häufig von Freiwilligen erwähnt wird, die in den nordischen Ländern ihren Freiwilligendienst machen. Dass die exzellenten Englischkenntnisse dort oben auch ihren Nachteil haben, offenbart sich nicht immer auf den ersten Blick. Klar wünscht man sich in manchen Momenten, man könne im Falle einer Verständigungsschwierigkeit auf das Englisch oder Deutsch seines Gegenübers zurückgreifen. Das funktioniert auch meist, wenn man nachfragt. Doch es wird einem nicht angeboten – und das ist gut so. Man gerät nicht in die Versuchung, dieser Vereinfachung stattzugeben, kann stattdessen schauen, wie man auf Tschechisch zurechtkommt. Anfangs natürlich nicht besonders gut, aber dazu hat man ja noch Zeit. Entscheidend ist, dass man durch das Ausgesetzt-Sein mit der Sprache zwangsläufig Elemente lernt, die, später zusammengesetzt, Sätze, Konversationen, in letzter Konsequenz vielleicht sogar Sprache ergeben.
Die Anderen kamen, wir machten ein Erinnerungsfoto, ließen den Anderen ihre Zeit und begaben uns auf den Weg zurück zum Strohhaus. Wir waren hungrig, durstig und voller Dreck, mussten aber zuerst noch die Ausrüstung reinigen. Das Wasser des Baches war eiskalt und die Strömung nicht stark genug, um den Schlamm, den wir aus dem Lehm an den Latzhosen und dem Wasser mischten, zeitnah abzutransportieren, wodurch wir noch länger als nötig am kalten Wasser verweilen mussten. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit war die Ausrüstung wieder sauber, nun aber nass, wieso wir sie zum Trocknen in die Sonne legten. Nun konnten wir auch endlich zurück zum Haus. Draußen wurden die Wanderschuhe ausgezogen, dann ging es hinein, wir konnten etwas trinken und unsere Kleidung wechseln. Wider Erwarten stand Anne in der Küche und präsentierte uns einen ganzen Topf mit Gemüsesuppe. Wir dankten Anne vielmals. Es war nett von ihr, uns damit zu überraschen, zumal es als Freiwilliger eben nur ganz selten, um nicht zu sagen nie, solche Überraschungen gibt. Weder die Mutter bekocht einen, noch versorgt einen die Großmutter mit Essen, stattdessen ist es einem selbst überlassen und es entstehen Gerichte, die weder schmackhaft noch gesund, oder noch schlimmer: viel zu süß, sind.
Unser Zug war für diesen Tag gebucht. Zugegeben, das war viel Programm für einen Tag, aber wir waren gut in der Zeit. Einen Teller Suppe, noch eine Portion Nudeln, Hauptsache nicht mit nüchternem Magen später in den Waggon steigen, dann ging es ans Packen. Die Schmutzwäsche kam in eine Tüte und wurde unten in den Rucksack gestopft. Dann noch ein paar Kleinigkeiten, Ladegerät, Lesestoff und Kulturbeutel. Es war seltsam, schon wieder zu gehen, war man doch gerade erst angekommen. Allerdings war ich froh, dass alles reibungslos funktioniert hatte. Trotz der beschränkten Zeitspanne, die uns zur Verfügung stand, trotz allem, was hätte schiefgehen können. Jeder aß sich nochmal satt am reichlichen Mittagessen, bis wir endgültig beschlossen, zu gehen. Normalerweise bin ich bei einem Aufbruch immer der Letzte. Diesmal war ich das nicht.
Scheinbar war ich jahrelang einfach nur im falschen Land mit meiner Unpünktlichkeit. In aller Ruhe konnte ich die Wanderschuhe schnüren, die zwar eingekleistert mit getrocknetem Lehm waren, der nun in Scheibchen abblätterte, jedoch nicht nass und voll funktionstüchtig waren. Ein Nachschnüren wurde nötig, da ich den linken Schuh viel enger geschnürt hatte als den rechten, den ich immer zuerst anziehe. Dieses Problem beschäftigt mich vor und während Wanderungen mehr, als es sollte. Jedoch konnte ich diesem Gehabe ohne Probleme nachgehen – die Mädchen ließen auf sich warten. Langsam wurde die Zeit knapp. Wir mussten noch den Berg hinauf, um zurück zur Bushaltestelle zu gelangen. Das alles bepackt mit Rucksack und vollem Bauch. Nicht gerade angenehm, in diesem Zustand zu rennen. Ich rief nochmal ins Haus hinein, sie sollen jetzt endlich kommen. Irgendwann kamen sie endlich dahergelatscht. Noch eine schnelle Umarmung mit den Hausbewohnerinnen, dann konnten wir endlich gehen. Aber jetzt mussten ja auch noch die Schuhe angezogen werden. Die Zeit rann, wir wollten es ihr nicht gleichtun. Also nicht weiter trödeln und zügig loslaufen! Der Berg vom Vortag war steiler und der Anstieg länger, als wir ihn in Erinnerung hatten. Ganz schön hecheln mussten wir auf dem Weg nach oben. Gerade noch rechtzeitig kamen wir an der Bushaltestelle an. Wir konnten nur hoffen, dass der Bus nicht schon gekommen war.
Da noch andere Leute auf den Bus warteten, nahmen wir an, dass wir Glück gehabt hatten; der Bus noch nicht weg war. Neben der Bushaltestelle befand sich ein Wanderparkplatz, auf dem gerade ein Audi A6 wendete. Nicht gerade ein Auto, das man allzu häufig in Tschechien antrifft. Der Schotterplatz war staubig und ein Teil des Staubs reichte bis zur Straße, wo ihn die vorbeikommenden Autos und LKWs aufwirbelten, was unangenehm war. Die Bushaltestelle befand sich direkt an der Landstraße hinter einer Kurve. Viele Autofahrer waren überzeugt, dass sie trotz ihres Vierzylinder-Wagens ihre rennfahrerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen müssen, indem sie das Fahrwerk ihres Autos an seine Grenzen brachten und stark untersteuernd aus der scharfen Linkskurve herausschossen, sodass es stets aussah, als würden sie uns direkt auf ihre Motorhaube nehmen. Bevor noch mehr Verrückte an uns vorbeifahren konnten, kam endlich der Bus. Wir kauften eine Fahrkarte zurück nach Brünn zum Hauptbahnhof. Am Tag sah Brünn deutlich interessanter aus. Man konnte nun die gesamte Größe der Stadt überblicken, ein Anblick, den wir aus Náchod nicht kannten. Mit unseren 20.000 Einwohnern waren wir nicht gerade eine Weltstadt. Der Bus war ziemlich voll gewesen, als wir eingestiegen waren, leerte sich aber, je weiter wir Richtung Bahnhof fuhren. Endlich konnten wir sitzen, das auch zusammen, und über den Tag, unsere Erlebnisse sprechen. Am Bahnhof würden wir uns nämlich schon wieder trennen. Eine von den Freiwilligen musste nach Rychnov, wir anderen nach Náchod und dessen nahe Umgebung.
Die Rückfahrt mit dem Zug war unspektakulär und problemlos. Es war lediglich noch der Transit nach Hause, nichts Weltbewegendes. Es war eine Notwendigkeit, die es zu ertragen galt, um zum Ziel zu gelangen. Nach Brünn und zurück war es ohnehin ein Katzensprung. Da gibt es ganz andere Entfernungen. Reist man zusammen, so vergeht auch die längste Zugfahrt im Flug. Und da diese von Natur aus kurz war, bekamen wir eigentlich schon gar nicht mehr mit, dass wir Zug fuhren.
Zwischendurch hatten wir eine Wartezeit beim Umsteigen am Bahnhof. Das war zugeben nervig, da ich großen Hunger hatte, aber wenigstens konnten wir in einen ruhigen Raum am Bahnhof gehen, uns setzen und einen Schokoriegel kaufen, der wenigstens so tat, als sei er Essen. Bis Náchod endlich erreicht war, verging noch so manche Minute, aber gedanklich war man schon im warmen Bett, vorzugsweise der Dusche, die man davor besser aufsucht, um sich von den erdigen Andenken zu befreien. Als ich die Kleider in die Waschmaschine gab, hatte ich ein schlechtes Gewissen, da die Verschmutzung im Vergleich zu sonst durchaus stark war. Es waren schlussendlich auch zwei separate Waschgänge vonnöten, um das letzte Bisschen Lehm aus den Textilien zu bekommen.
Wir sahen die ersten Anzeichen unserer Stadt, die Plattenbauten, und waren bald auch schon am Hauptbahnhof, der gar nicht so „Haupt“ ist, wie der Name vielleicht vermuten lässt. Es gibt noch weitere Bahnhöfe, daher der Titel. Der Hauptbahnhof ist schön provinzial und praktischerweise quasi neben unseren Wohnungen gelegen. Ich kann die Gleise von meinem Fenster aus sehen, manchmal sogar die Durchsagen von den Bahnsteigen mithören.
Wir verließen die Bahn und liefen nach Hause. Endlich konnte der Rucksack abgelegt und ausgepackt werden, endlich kam die Dusche und der volle Kühlschrank – ich war schon kurz vorm Verhungern.
Nachdem all das abgehakt war, konnte ich mich endlich ins lang ersehnte Bett fallen lassen. Es gab so vieles, über das ich hätte nachdenken können, doch es gab auch einiges an Schlaf nachzuholen. So entschlummerte ich recht schnell, konnte erst am darauffolgenden Tagen ein Fazit ziehen, mir ein Urteil bilden, darüber nachdenken, inwiefern der Ausflug eindrücklich war und welche Ereignisse besonders herausragend waren. Im Großen und Ganzen ist zu sagen, dass es die Reise eindeutig wert war. Wir haben alle Stationen der Begegnung einmal durchgemacht, schnell getaktet, an einem einzigen Wochenenden, nicht einmal ganz einem Tag, mehr erlebt als in so manchem Monat, der noch folgen mag. In dieser Hinsicht war es ein wertvolles erstes Herantasten an die Dinge, die Tschechien noch zu bieten hat.
Mehr Zeit als sonst haben wir direkt im Beisammensein so vieler unterschiedlicher Menschen verbracht, mehr Fahrtweg als sonst auf uns genommen, mehr als sonst aufgewandt, um diese Erfahrung möglich zu machen. Nun waren wir wieder in unseren Wohnungen, Temporärbleiben angekommen. Wir hatten nicht gewartet, wollten alles, wollten es jetzt. Das ist eingetreten. Ein Wagnis ist geglückt, alle Hürden wurden genommen, der Ausflug war vorbei, der September war es, doch der Freiwilligendienst hatte gerade erst begonnen.