Vom Glück auf zwei Reifen
Fahrradfahren in Kopenhagen ist wie Critical Mass auf der Autobahn, bringt mich aber trotz Muskelkater oft zum Lächeln.
Dass Kopenhagen eine Fahrradstadt ist, hat sich bis über die Stadt- und Landgrenzen herumgesprochen. Daher war für mich von Beginn an klar, dass ich mit meinem treuen Mountainbike dorthin fahren würde. Mein ganzer Umzug war darauf ausgerichtet: zuerst der Koffer, bei der zweiten Hinfahrt Rucksack und Fahrrad. Eine Woche vor Abfahrt brachte ich mein Rad in die Werkstatt. Der Mechaniker rief mich nach einigen Stunden an und meinte: Also, ich hab eine schlechte Nachricht für Sie...die Reparatur würde 400 € kosten und sei nicht zu empfehlen. Abends unternahm ich eine kurze Probefahrt, merkte jedoch schnell, dass ich mehr Zeit brauchen würde, ein neues Fahrrad auszusuchen. Einen Tag vor meiner Abreise wurde mein Fahrrad, das ausnahmsweise vor dem Haus statt dahinter stand, geklaut. Da ich das Rad am Rahmen um einen Baum abgeschlossen hatte und das Schloss unbeschädigt am Baum hing, war ich sehr erstaunt, auch ein bisschen wütend und letztlich zu beschäftigt, um dann noch zur Polizei zu gehen.
Am Tag meiner Ankunft war ich ganz froh, nicht noch ein Fahrrad herumschleppen zu müssen, aber schon am ersten Tag an der Uni merkte ich, wie umständlich es ohne ist. Daher trat ich sehr vielen Facebookgruppen bei, um mir am zweiten Tag ein gebrauchtes Fahrrad zu kaufen. Der Fahrradladen liegt bei mir um die Ecke und wird zwischen einem vietnamesischen Restaurant und einem arabischen Gemüseladen fast übersehen. Drinnen stand ein älterer Mann mit Brille und reparierte ein Rad, das von der Decke baumelte. Er konnte kein Englisch, aber in dem Moment kam Ali herein, der die Anzeige bei Facebook eingestellt hatte. Er zeigte mir das Rad und ich drehte eine Proberunde um den Block. Beim Aufsteigen fiel ich fast wieder herunter, da ich die Rücktrittbremse übersehen hatte. Zuerst war ich nur so mäßig begeistert, aber mangels Alternativen und weil ich wirklich sehr dringend ein Fahrrad wollte, nahm ich es schließlich. Ali schraubte eine neue Klingel fest und legte Klipplichter dazu, nebenbei erzählte er, dass er aus Palästina komme und wie er Dänisch gelernt hatte. Ein Spritzer Öl auf die Kette, dann fuhr ich nach Hause. Die erste Freude währte kurz, denn vor dem Wohnheim merkte ich, dass der Ständer zu kurz war. "Nice to see you again!" rief Ali, als ich kurz darauf wieder da stand und reklamierte. Er schraubte den neuen Ständer fest, erzählte und fragte noch mehr, wobei er offenbar nicht beides gleichzeitig konnte.
Der erste Ausflug führte mich dann zum "Havensbadet Islands Brygge", einem Freibad, das in den Kanal und an die Promenade gebaut ist. Dort wollte ich mich mit einigen anderen Deutschen aus dem Dänischkurs zum Schwimmen treffen. Da ich mich ziemlich verfahren hatte, war ich als Letzte da. So ging es mir auch die kommenden Tage beim Dänischkurs. Den Rückweg fand ich immer problemlos, aber morgens sahen viele Wege ähnlich aus und überall waren viele Leute unterwegs. Selbst meine geniale Strategie, mir die Navigation über Kopfhörer während der Fahrt anzuhören, funktionierte nur so lange wie ich sofort reagierte. Bog ich nicht schnell genug ab, berechnete sich die Route immer wieder neu und ich kam gefühlt überhaupt nicht vom Fleck. Nach einer Woche ist meine Orientierungslosigkeit zusammen mit meiner Unpünktlichkeit zum Running Gag in unserer Gruppe geworden.
Ständig und unter Zeitdruck den Weg suchen zu müssen ist nervig. Nach vier Tagen erfolgloser Versuche habe ich nun meine morgendliche Route gefunden, die zudem ausgesprochen schön ist. Von meinem Wohnheim muss ich auf die Brücke fahren, die über die nebenanliegende S-Bahn-Station führt, dann ein Stück die Straße entlang bis ich auf die Grønne Cykelruter (die grüne Fahrradstraße) einbiege. Diese führt auf verschiedenen Routen durch die Stadt und ermöglicht schnelles Umherkommen. Mein Weg führt durch auf der Nørrebroruten durch das gleichnamige Multikulti-Viertel. Die Cykelruter ist aber viel mehr als einfache Fahrradstraße: rechts und links gibt es Skaterplätze, Sportanlagen, Parkbänke und Picknickplätze, Pavillons, Tische mit aufgemalten Schachbrettern und viel Farbe und Gestaltung. Dort wo ich morgens einbiege, steht etwa ein großer Stier, wie man sie von spanischen Autobahnen kennt, und eine mit andalusischen azulejas gekachelte Bank. Zwischendurch kreuzen Straßen und beim Abbiegen wird es manchmal eng, aber der Verkehr läuft oft flüssig. Das ändert sich, wenn ich Richtung Zentrum fahre. Zunächst fahre ich an Bars, Cafés und hippen Läden vorbei. Mittlerweile kenne ich die Schlaglöcher - sie rechtzeitig zu sehen ist mit einem vollgepackten Fahrradkorb nicht so einfach. Auf der rechten Seite neben dem Gehweg gibt es meistens eine Fahrradspur, die mindestens so breit wie eine Spur für Autos ist. Dort funktioniert der Verkehr wie auf der Autobahn: rechts fahren die langsamen, links wird überholt. Der Schulterblick ist hier essentiell - man erntet Klingeln, Pfeifen und wütende Rufe, wenn man ohne zu Gucken die Spur wechselt. Der Radverkehr ist zudem sehr dicht und gerade im Zentrum auch unübersichtlich, wenn sich die Fahrradspur aufteilt in eine geradeausführende und eine rechtsabbiegende Spur. Busse und Autos verkomplizieren die Lage etwas, wobei ich erstaunt über die Geduld (oder Gewohnheit) der Fahrer bin. Abbiegen dauert ewig, die Radler müssen ja zuerst durch - Autofahren muss sehr unangenehm sein. Als Radfahrer kann man immer rechtsabbiegen, auch wenn die Ampel rot ist. Beim Anhalten wird der Arm halbhoch in die Luft gestreckt, das kennen die einen oder anderen vielleicht von der Critical Mass (Fahrrad-Demo immer am letzten Freitag des Monats). Insgesamt erinnert mich Radfahren sehr oft an die Critical Mass: das dichte Fahren, die ständige Vorsicht beim Fahren oder Spurwechseln und die Macht und Präsenz im Stadtbild.
Mein Dänischlehrer Mikkel sagt, die Dänen fahren so viel Fahrrad, dass sie keinen anderen Sport mehr machen müssen. In der ersten Woche hatte ich tatsächlich auch Muskelkater vom vielen Fahrradfahren (pro Tag mind. 1 Stunde), auch gegen den Wind fahren macht es etwas anstrengender. Jetzt hat sich mein Körper langsam daran gewöhnt. Als nächstes gewöhne ich mich an das wechselhafte Wetter: am besten Regenjacke mit Sonnenbrille tragen, damit ist man immer passend gekleidet.
Übrigens ist mein Fahrrad 2 Tage nach meiner Abreise wieder wohlbehalten aufgetaucht. Mein Mitbewohner hat es gefunden, die Polizei gerufen und es dankenswerterweise in den Keller gestellt.