Vertrag von Trianon
Vorgestern vor 97 Jahren unterschrieb die ungarische Delegation äußerst widerwillig den Friedensvertrag von Trianon als Folgemaßnahme des Ersten Weltkrieges. Noch heute spürt man die Nachwirkungen, wenn man mit offenen Augen und Ohren durchs Land geht.
Erst letztens saß ich wie so oft mit meinen Mitbewohnern im Bus nach Veszprém, als mir plötzlich eine Karte von Ungarn vorne beim Busfahrer ins Auge fiel. Nicht, weil sie die ungarischen Farben rot, weiß, grün trug, was man in Deutschland in einem Bus ja ohnehin schon als provokant und nationalistisch empfinden könnte, sondern, weil die dortige Karte schlichtweg nicht mit der heutigen Karte Ungarns übereinstimmte: Sie war viel größer. Ich machte heimlich ein Foto, doch es ist dementsprechend auch etwas schwierig zu erkennen.
Als dann gestern einer meiner ungarischen Facebookfreunde etwas mit genau dieser Karte postete, wurde ich hellhörig. Wie sich herausstellte, blicken viele Ungarn bis heute mit großem Schmerz auf die damalige Spaltung des Landes zurück. In Folge der sogenannten Friedensverträge verlor das Land rund zwei Drittel seines früheren Gebietes. Die Karte des Busfahrers stellte also eine Karte des ehemaligen „Magyar Királyság“, des Ungarischen Königreiches, dar.
Meine Meinung hierzu ist gespalten. Auch Deutschland hat damals, als Aggressor natürlich zurecht, große Teile seines Landes verloren, das waren allerdings nie zwei Drittel des gesamten Staates. Stattdessen musste es die alleinige Kriegsschuld, harte Abrüstungsbedingungen und hohe Reparationszahlungen auf sich nehmen. Diese Zahlungen waren zwar hart, aber letztlich in Anbetracht des Zweiten Weltkrieges wohl nicht hart genug.
In Ungarn allerdings herrscht diesbezüglich eine andere Stimmung. Viele fordern noch heute die Wiederherstellung der alten Grenzen, da sie damit nicht ein aggressives, nach Krieg und Eroberungen strebendes Königreich verbinden, wie wir Deutschen, sondern eine Art Zusammengehörigkeit. Die ungarische Sprache ist äußerst einzigartig im indoeuropäischen Sprachraum und ihr Erlernen zeitaufwändig. Dementsprechend fühlen sich alle, die sie beherrschen, zusammengehörig. Wer beispielweise Englisch spricht, kann fast überall auf Englischsprachige treffen und wird sich somit auch viel eher als Weltbürger verstehen, als jemand, dessen Sprache nur von wenigen gesprochen wird.
Hinzu kommt, dass sich bis heute viele Menschen in den ehemaligen ungarischen Gebieten in einer Art Fremdherrschaft sehen und sich eher als Ungarn empfinden, da sie in ihren Traditionen, in ihrer Sprache und generell in ihrer gesamten Identität nicht mit den anderen in ihrem „Heimatland“ übereinstimmen. Ein gutes Beispiel hierfür ist meiner Meinung nach Transsilvanien oder auch Siebenbürgen genannt. Ich hatte lange Zeit einen Mitbewohner aus diesem Teilgebiet Rumäniens, da das einst ungarische Gebiet infolge des Vertrages von Trianon de facto Rumänien zugesprochen wurde. Allerdings war genau das im Gespräch mit ihm immer ein ganz heißes Eisen. Wenn jemand sagte: „Ah du kommst also aus Rumänien“, wurde das sofort als Beleidigung empfunden, da es seiner Identität widersprach. Er erzählte mir, dass er oft diskriminiert worden sei, inwiefern das zutrifft, kann ich nicht sagen. Er sagte auch, dass er nur ein bisschen Rumänisch spräche und das auch nur, da es in der Schule ein Pflichtfach gewesen sei. Für mich war es kaum vorstellbar, Teil eines Landes zu sein, dessen Sprache man nicht spricht.
Bereits in früheren Artikeln habe ich immer wieder versucht hervorzuheben, dass sich die Ungarn so zusammengehörig fühlen, da sie sich aufgrund ihrer Geschichte als zusammengehörig Leidende empfinden. Hinzu kommt die momentane, strukturell etwas schwierige Situation und bei manchen eventuell auch das Gefühl der politischen Ohnmacht. Viele denken mit großer Nostalgie an das frühere Ungarn zurück. Was bei uns als Früher-war-alles-besser-Haltung der älteren Generation gerne belächelt wird, beschriebt hier ein Gefühl von Hoffnung, irgendwann zu altem Einfluss zurückkehren zu können. Das ungarische Königreich bestand in wechselnden Grenzen seit dem Jahr 1001 und viele sehnen sich nach einem starken, gerechten König an der Spitze ihrer Gesellschaft zurück.
Ich persönlich muss zugeben, dass ich vielleicht auch aufgrund unserer Geschichte eher antimonarchisch eingestellt bin, doch letztlich muss ich immer wieder an die Worte meiner Sprachlehrerin hier in Ungarn zurückdenken: „Jedes Land ist anders. Wenn man etwas übersetzen möchte, kann man das nie Wort für Wort übersetzen. Eine gute Übersetzung zeichnet sich dadurch aus, dass es eine „kulturgerechte Übersetzung“ ist, die die jeweiligen kulturellen Unterschiede einbezieht.“ Wer reist, der muss sich bewusst sein, dass er auf andere Meinungen und Ansichten stoßen wird, das ist meiner Ansicht nach letztlich nichts Schlechtes. Wichtig ist es, über Dinge zu diskutieren und zu verstehen zu versuchen, wodurch diese Haltung entstanden ist.