Verfrühte Urlaubsträume
Statt Sommer, Sonne, Spaß gab es interessante Information en masse
Vor allem in den ersten Wochen des Freiwilligendienstes hat man mit falschen Erwartungen zu kämpfen. „Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum.“ In dem Wörtchen „Verwirrung" steckt auch „Irrung". Und so verwirrend die ersten Wochen waren, so kamen mit ihnen auch die ersten Irrungen einher. „Irrungen, Wirrungen", so heißt ein Roman von Theodor Fontane. Es geht um Standesgrenzen und deren (Nicht-)Überwindung. Beim Europäischen Freiwilligendienst geht es nicht um Standesgrenzen, sondern Landesgrenzen, wirtschaftliche, soziale Neuerfahrungen. Ich könnte Ihnen Texte wie diesen vorenthalten. Kein Augenblick ist so reflektiert wie die Gegenwart. Heute blicke ich bestimmt anders auf die Welt als ich es gestern noch tat. Laut dem Zitat wäre es teuflisch, auf die Irrtümer der Vergangenheit zu bestehen. Wenngleich oftmals dieser Tat verdächtigt, so will erwähnt sein, dass es bis zu einem gewissen Grad ebendiese Irrungen sind, die unsere Erfahrungen erweitern und unser Leben bereichern.
Als mir in einer Textnachricht das Wörtchen „Sommercamp” begegnete, dachte ich an ein Zeltlager im Wald, bei welchem man zusammen Sport treiben, Unterhaltungen führen und den Sommer genießen konnte. Man schnappt die wenigen Informationen, die man bekommt, neugierig auf und versucht, sich daraus einen Reim zu machen. Letztlich kam dann alles anders. So viel sei vorab gesagt.
Dieses Erlebnis ist Teil eines sich stets wiederholenden Phänomens. Man hat Erwartungen, gar nicht im Sinne des Niveaus der Unterbringung, des Essens, der Freizeitmöglichkeiten, sondern lediglich auf die Definition des Wortes, dessen Sinn, das, was sich dahinter verbirgt, beschränkt. Was bedeutet das im Klartext? Menschen sehen unterschiedliche Bedeutungen hinter Wörtern, von denen sie eigentlich annehmen, dass sie sie kennen und dass ihre Interpretation eine universale Gültigkeit aufweisen würde. Begegnungen sind beim Europäischen Freiwilligendienst ein prägendes Element. Doch nicht nur fremden Menschen kann man begehen, sondern auch der eigenen Person in persona der eigenen Vorstellungen, die man, ohne diese zwingend aussprechen zu müssen, hat. Man muss lernen, mit dem Unerwarteten zu rechnen.
Ich hatte gedacht, dieses “Sommercamp”, wie es großartig angekündigt wurde, würde eine Art Urlaub werden. Nachdem die letzten Tage recht stressig waren, könnte doch so ein Kurzurlaub auf dem Land nicht schaden. Soweit die Erwartungen. Erwähnt soll sein, dass das vorherige Wochenende das erste freie war, während welchem wir trotzdem etwas unternahmen. „You can rest when you're dead.”, war die Aussage einer Teilnehmerin unserer Wandertour. Man könne sich ausruhen, wenn man tot sei. Dieser Ausflug war am Sonntag. Am Montag ging es dann schon früh Richtung Bahnhof. Denn bis Donnerstag war ein Seminar in Vyžňov geplant. Zwei Tage hatten wir in Freiheit, die ebenfalls nicht wirklich frei waren, der Wanderlust sei dank. Zwei Tage, in denen man das Zimmer endlich für sich allein hatte und die von daheim mitgebrachten Dinge in die Schränke räumen konnte. Und nun kam praktisch das Kommando zurück. Wieder alle Kleider raus aus dem Schrank und einpacken.
Es war anfangs belustigend, nie zu wissen, ob dein Gegenüber Probleme hat, die Stadt Rychnov richtig auszusprechen oder ob er – aber meistens sie – tatsächlich Vyžňov meinte. Mit einer ernüchternden Merkhilfe wurde den chronischen Falschsagern mitgeteilt, es heiße nicht Ritschnof, denn in Rychnov würden keine reichen Leute leben. Das basiert auf der trügerischen Homophonie der falschen Erstsilbe „Rych” und dem englischen Wort für reich „rich”. Auf Deutsch bedeutet Vyžňov úbrigens einfach „Wiesen”. Nicht zu verwechseln mit der Wiesn in München. Es ging für uns in ein verschlafenes Örtchen, in welchem es außer ein paar tollen landwirtschaftlichen Nutzflächen kaum etwas gab.
Uns lud man in die Stadt mit dem Namen, der es anfangs nötig machte, jedes mal in das Sonderzeichenmenü meines Textverarbeitungsprogramms zu wechseln, um diese sonderbaren tschechischen Buchstaben zu finden. Bepackt mit lediglich einem Rucksack und zwei Tüten voller Essen – wir mussten uns in diesem “Sommercamp” selbst bekochen – ging ich zum Bahnhof, wo die anderen Freiwilligen selbstverständlich schon warteten. Wenn man den nichtdeutschen Freiwilligen etwas nicht vorwerfen kann, dann ist es die Unpünktlichkeit an Bahnhöfen. Bei allen anderen Veranstaltungen immer gern, aber wenn es um die Wurst – oder eben die Bahn, die mit dieser roten Lackierung gar nicht so unwurstig aussieht – geht, dann ist man plötzlich überpünktlich. Eigentlich war ausgemacht, ab dem Bahnhof die Tragetaschen zu verteilen, was einerseits scheinbar dem Gemeinwohl förderlich sein soll, den Rücken andererseits unnötig einseitig belasten würde. Weder ersterer noch letzterer Fall trat ein und man bediente sich der "männlichen Urkraft", die die tonnenschweren Tüten den langen, beschwerlichen Weg in die Bahn hievte. Es braucht ihn eben noch, den Galan. Ein Akt von dreißig Sekunden.
Mit der Eisenbahn ging es nun nach Vyžňov. Während die anderen frivol plauderten, vergrub ich mich in meine aufarbeitende Welt, blickte weltfremd in meine sich schaffende Buchstabensuppe und hörte nicht auf, ehe wir nicht angekommen waren. Direkt im winzigen Ort Vyžňov landet man selbstverständlich nicht, wenn man mit der Bahn fährt. Dazu war ein Fußmarsch erforderlich. Um die voraussichtlich verbrannten Kalorien jedoch gleich schon einmal zu ersetzen, steuerten wir geradewegs in ein Restaurant.
Man könnte meinen, ich sei im Dauerurlaub. Nur die interessanten Erfahrungen schaffen auch den Sprung von der Gedankenwelt in die der Worte. Das Seminar in Vyžňov war als solches nicht erwähnenswert. Ich hätte Ihnen tollkühne Theorien vorstellen können, die eigentlich nur Hypothesen waren – in der Sozialtheorie differenziert man da ja nicht so genau, betrachtet eine wissenschaftliche Untermalung lieber als obsolet und lässt sie in der Folge entfallen. Genauso gut hätte ich Ihnen eine Speisekarte à la EVS kreieren können, die neben misslungenen Soßen hauptsächlich Nudeln beinhalten würde. Serviert stilecht mit Blechgeschirr in einem Raum mit einer klappernden Türe, die nicht schließt.
„Glück macht keine guten Geschichten”, heißt es im Roman „Agnes” von Peter Stamm. Indem ich die negativen Aspekte entsprechend gewichte, schaffe ich eine verzerrte Sicht der Dinge, die zwar lustig ist, der Realität jedoch nicht vollständig gerecht wird. Meine Texte sind cum grano salis zu verstehen. Selbstverständlich gab es auch viele positive Erfahrungen bei diesem Seminar.
Wieder dient das Offensichtliche nur als Bühne für ein viel größeres Element des Lebens. Der individuellen Wahrnehmung, die eben völlig subjektiv sein kann.
Kurz zu den Inhalten. Wir bekamen Informationen zu unterschiedlichen Themen. Der Freiwilligendienst und seine Begleiterscheinungen machten einen großen Teil des Seminars aus. Darüber hinaus erfuhr man von neuen Lehrmethoden und konnte seine eigene Präsentation halten. Zwischendurch wurden Spiele gespielt, zu viel geraucht, „das ist es, was ein Mann so braucht” – laut Matthias Reim – oder gelaufen, je nachdem, wen man fragt. Das Essen wurde stets von anderen Funktionseinheiten zubereitet. Was der EVS versuchte zu vereinen, wurde wieder aufgedröselt. So gab es die Gruppe „Baltikum”, „Deutschland 1”, „Deutschland in seiner territorialen Ausdehnung vom März 1938 (mit österreichischer Beteiligung)”, „Spanien” und eine Gruppe Unkategorisierbarer.
Das Abendprogramm bestand darin, Kartenspiele zu spielen, Filme zu schauen oder Alkohol zu trinken. Woher ich das weiß? Nun, ein Wissenschaftler führt auch seine Feldexperimente durch.
Im Großen und Ganzen war es eine interessante Erfahrung. Zwar überraschend, aber vielleicht gerade deshalb so wertvoll für das spätere Leben.