Unsere Freunde aus dem Ghetto
Stolipinovo ist das größte Roma Ghetto des Balkans. Zusammen mit dem Initiator des Projekts "356" haben wir einen Tag dort verbracht.
Stolipinovo ist das größte Roma Ghetto des Balkans. Das war nicht immer so: während dem Sozialismus lebten hier verschiedene Ethnien noch zusammen. Doch mit dem Ende dieser Ära änderten sich die Zustände. Bulgaren, die es sich leisten konnten zogen weg in bessere Viertel. Zurück bleiben nur die Roma, deren Arbeitslosigkeit den ökonomischen Aufstieg verhinderte.
Zugleich ziehen Roma Familien nach Stolipinovo – zu ihren „Homies“. Davor waren sie in sozialen Wohnprogrammen der Stadt untergebracht, die in jedem Wohnhaus in den anderen Vierteln gezielt eine Roma Familie ansiedelten. Der Verkauf einer solchen Wohnung erbrachte vielleicht Geld für ein paar Jahre – trotzdem vermutlich die schlechteste Entscheidung ihres Lebens. Das Ghetto Stolipinovo war geboren.
Seit 1990 fanden hier vermutlich keinerlei Sanierungen und Renovierungen statt. Manche illegale Häuser besitzen keine Elektrizität und sind nicht ans Wasserversorgungssystem angeschlossen. Ethnische Spannungen zwischen Roma und Bulgaren sind allgegenwärtig und tief in der Gesellschaft verankert. Auch in meinem Umfeld äußern sich viele abfällig über Roma und berichten von ihren negativen Erfahrungen mit diesen Menschen.
Als ich erzähle, dass ich das Viertel anschauen möchte erklären mich die meisten für verrückt. „Die werden dich ausrauben! Geh da nicht hin!“ werde ich gewarnt. Zum Glück finde ich Locals, die mit mir hingehen. Boris lebte selbst einen Monat lang in Stolipinovo, zurzeit arbeitet er an einem Projekt in dem er junge Roma Filmen und Videoediting beibringen möchte. Am Ende sollen sie einen Kurzfilm über das Leben in Stolipinovo drehen.
Es ist ein sonniger Tag, als wir uns an der Bushaltestelle treffen. Weil kein Bus auftaucht beschließen wir ein Taxi zu nehmen. Boris kennt sich gut aus in Stolipinovo. Ich fühle mich sicher an seiner Seite. Die befürchtete Spannung, die Angst angestarrt zu werden und als Fremdkörper wahrgenommen zu werden bleibt aus. Stattdessen winkt Boris ein paar spielenden Kindern zu und innerhalb kürzester Zeit sind wir umringt von Jungs die Flöte und Trommel spielen und vor meiner Kamera posieren.
Die kulturellen Unterschiede zwischen Bulgaren und Roma sind enorm. Die extrovertierte Art der Roma, ihre Musik und ihre Tänze bilden den Gegensatz zu den nach innen gekehrten, stillen Bulgaren. Während viele Bulgaren kein besonderes Interesse für ihre Umwelt zeigen hält ein großes Gemeinschaftsgefühl das Ghetto zusammen. Die gemeinsame Identität der Roma begründet sich nicht auf eine eigene Sprache und auch auf keinen Staat. Sondern auf ihre Musik, ihre Traditionen und ihre Tänze.
Boris erklärt mir, dass ich sensibel sein soll, was ich fotografiere. Die Menschen sind es gewohnt, dass insbesondere ausländische Reporter gerne hierher kommen und nur Fotos von den schlimmsten Zuständen machen. Die darauf folgenden Berichte tragen in der Regel zur weiteren Stigmatisierung des Viertels bei und davon sind die Bewohner Stolipinovos genervt. Ich erinnere mich an deutsche Artikel in Online Magazinen, die das Viertel als gefährliche No-go Area bezeichnet haben. Die Fotos waren in der Tat schlimmer als die Realität. Insgesamt hat Boris eine sehr schlechte Meinung von westlichen Helfern. „Die kommen hier an und sagen ‚Wir retten euch, wir haben Geld!‘ Die denken, sie könnten hier innerhalb weniger Tage etwas verändern.“
Die Straßen in Stolipinovo sind ungeheuer belebt, überall spielen Kinder und Straßenhunde. Wir kaufen 4 Kaffees und 2 Zigaretten für umgerechnet einen Euro und setzen uns auf eine Holzbank vor einem der vielen heruntergekommenen Plattenbauten. Ein Mann setzt sich zu uns und erzählt uns über sein Leben. Er spart gerade Geld für eine Operation, die er nach einem Autounfall benötigt. „Wenn ich die Operation in Bulgarien mache gebe ich mein Geld aus und nichts passiert. Wenn ich aber nach Deutschland gehe ist nach einer Behandlung alles gut!“. So hat er es auch das letzte Mal gemacht. Trotzdem sieht sein Verband an seinem Bein alles andere als gut aus. Er erzählt, dass er auch ein paar Mal geklaut hat um an Geld zu kommen. Doch das hat ihm ein so schlechtes Gewissen eingebracht, dass er es auf keinen Fall wieder machen möchte. Stattdessen versucht er mit Straßenmusik und Massagen Geld zu verdienen. Dass er ein guter Masseur ist beweist er mir indem er meinen Arm nimmt und durchknetet. Ich bin überrascht von seinen Fähigkeiten. Während ich immer noch skeptisch dem Mann gegenüber sitze hat dieser sich mir vollkommen geöffnet.
Nach einer Weile dringen wir tiefer in das Ghetto ein. Laute Musik läuft auf der Straße, wir tanzen ein bisschen auf den ungeteerten Straßen mit der Menschenmasse, die Leute freuen sich und high-fiven uns. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir sehr viel Spaß. Doch dann meint Boris „Okay, let’s go to the sad part of the ghetto. “ Und es ist in der Tat traurig. Wir stapfen über Hügel, die von Müll übersäht sind. Dazwischen schlafende Hunde und Wellblechhütten aus denen der Rauch von wärmendem Feuer aufsteigt. In diesem Moment ist es unvorstellbar, dass wir uns in Europa befinden. Die Zustände gleichen dem eines Entwicklungslandes.
Ein paar Leute sprechen uns an, als wir in eine kleine Sackgasse einbiegen. Natürlich sind sie verwundert, was wir hier suchen. Boris stellt uns vor und ein paar Männer erlauben uns einen Blick in ihre Hütten zu werfen. Drinnen gibt es nicht viel zu sehen: Ein Bett, ein Sofa auf dem zwei Kinder sitzen und fernschauen. Zwei Hunde spielen auf dem Boden. Zwischen den Wellblechhütten hängt Wäsche zum Trocknen. Als die Männer erfahren, dass ich aus Deutschland komme wollen sie, dass ich mir alles genau anschaue. „Germany, very nice! Here, not nice!“ Ich stimme zu. Ich fühle mich nicht danach, etwas zu sagen. Meine anfängliche Verwirrung hat sich zu einer Schockstarre ausgeweitet. Ein Mann, hat eine Weile in Deutschland gelebt. Er erzählt irgendwas von „Ordnungsamt“ und fragt, ob die die Kinder aus seiner Familie nehmen können. Ich kann ihm darauf keine vernünftige Antwort geben.
Eine Frau tritt aus einer Hütte heraus und drückt uns Getränke in die Hand. Bald darauf werden wir hereingebeten. Ein Mann fragt mich: „deutsch?“. Ich nicke. Er erzählt, er habe 10 Jahre lang in Deutschland gelebt. „Wieso bekomme ich keinen deutschen Pass?!“ Auch diese Frage bleibt unbeantwortet. Wir setzen uns auf Plastikstühlen in einer der Hütten nieder. Wir schauen uns Familienfotos an. Dann hören wir zusammen Snoop Dogg und ein paar Leute fangen an zu tanzen. Durch das Fenster sehe ich Mädchen Grimassen schneiden. Ein Mann erklärt: „Ich mache Scherze mit allen hier, bevor ich nicht mit jedem einen Scherz gemacht habe kann ich nicht schlafen gehen.“ Langsam erhole ich mich von meinem Schock und auch ich kann wieder lachen. „Weißt du was? In Deutschland sind die Gefängnisse wie ein Hotel! Dort kann man arbeiten und Geld verdienen!“ Nach einem Tag in Stolipinovo bleibt mir nichts anderes übrig, als zu nicken.
Als es dunkel wird verabschieden wir uns. Laute Musik hallt von den Wänden der Plattenbauten wider. Ich habe das Gefühl, es wäre arrogant nach einem Tag in Stolipinovo zu sagen, dass Millionen Bulgaren dieser Ethnie Unrecht tun. Meiner eigenen Erfahrung nach aber habe ich es mit ganz normalen Menschen zu tun gehabt. Menschen, die die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben wie jeder andere auch. Liebe, Anerkennung, Sicherheit, Geborgenheit. Essen, ein Dach über dem Kopf eine Familie. Wieso sollten wir diese Ziele nicht alle gemeinsam verfolgen?
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