Über die andere Seite von Debrecen, gemeinsame Aufgaben und die Herausforderung, seinen Platz in einem fremden Land zu finden.
In der letzten Woche hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, hierher zu gehören. Nicht als wirkliche Ungarin, natürlich nicht, aber als Freiwillige, die genau hier richtig ist und ihren Teil beiträgt. Das komplette Fremdfühlen hat etwas nachgelassen. Ich kann erste Geheimtipps aus Debrecen weitersagen und beginne es zu mögen, dass man sich in Ungarn auch gerne mal mit einem kurzen Hallo verabschiedet (das klingt weniger nach Verabschieden, sondern vielmehr nach Wiedertreffen). Ich lerne immer mehr Menschen kennen und habe gelernt, ungarische Pfannkuchen zu backen:). Bin ich dabei, langsam meinen ganz eigenen Platz und meine Rolle in diesem Land zu finden?
Als ich am 17. August nach 10 Tagen das Camp verließ und nach Debrecen zurückkam, schien alles unverändert. Aber das täuschte. Die Ampeln zählten zwar weiterhin zuverlässig die Sekunden, bis man die Straße überqueren kann und selbst auf der Baustelle, nah bei meiner Wohnung, war alles gleich geblieben und kein Fortschritt zu sehen:D. Verändert hatte sich aber so einiges. Ich habe aufgehört, mich komplett einsam zu fühlen. Ich wollte mich nicht mehr verkrümeln, sondern ich wollte etwas erleben und das nicht alleine. Ein Glück musste ich das auch nicht. Elisabeth nahm mich nämlich schon an diesem Abend mit zu dem „Debrecen Light Ride“. Dafür konnten sich alle, die Lust hatten, mit ihren Fahrrädern im Park treffen. Nach einem kleinen Auftakt-Event, bei dem Radsportkünstler ihr Können zeigten, zog dann eine riesige Gruppe Fahrradbegeisterter durch das nächtliche Debrecen. Und das war noch lange nicht alles! Die Fahrräder waren vielseitig gestaltet, besonders mit farbenfrohen Lichtern. Wir hatten leider nicht so viele Mittel zur Verfügung, so ist wohl das Leben als Freiwillige. Aber wir fanden unseren Weg und hübschten unsere Fahrräder mit alten Weihnachtsgirlanden auf, welche wir auf der Straße fanden:D. In dieser riesigen Fahrradtruppe schien es auf einmal keinen mehr zu stören, wo ich herkam und welche Sprache ich sprach. Das war einfach nicht wichtig! Es zählte nur das, was uns alle verband: das Fahrradfahren. Sowas verbindet über Nationen hinaus. Man wirkt wie eine einzige riesige Gruppe, die über rote Ampeln fährt und die Stadt mit Fahrradklingelklimpern und Lichterkettenlicht erhellt.
Seit dieser Nacht lernte ich das Gefühl kennen, auch in der Fremde willkommen zu sein und aufgenommen zu werden. Und dieses Gefühl blieb nicht nur für diese eine Nacht! Als ich einen deutschen Studenten aus Hamburg und einen weiteren Freiwilligen aus Karlsruhe kennen lernte, stellte ich ein weiteres Mal fest, dass gerade, wenn ich glaube, vollkommen allein zu sein, es doch immer Menschen gibt, die in einer ähnlichen Situation sind. Außerdem traf ich die ersten Mitglieder der Debrecen Bike Maffia und hatte auf einmal Pläne fürs Wochenende.
Die DBM ist eine Gruppe von Freiwilligen, die mit Hilfe von Spenden Essen zubereitet und dieses mit Fahrrädern an Obdachlose verteilt. Dort wollte ich dabei sein. Mein Vertrag des ESK untersagt mir zwar, nebenher zu arbeiten, aber nebenher freiwillig tätig zu sein, dass kann mir keiner verbieten. Deswegen begleitete ich Elisabeth und Tizian, den Studenten aus Hamburg, am Samstag zur BM und wurde dort zu meiner Überraschung von meinem Mentor empfangen. Auch wenn hier neben ihm kaum jemand Englisch sprechen kann, die Verständigung klappte irgendwie. Langsam sprechen war oft wichtig, aber die Mühe war es wert. Uns wurde ein leckeres, typisch ungarisches Nudelgericht angeboten und Kuchen und Wasser so viel wir wollten. Es gab gar keine Möglichkeit, sich nicht willkommen zu fühlen. Ich war dann bei der Auslieferung dabei und lernte eine ganz andere Seite von Debrecen kennen. Verfallene Ruinen, aus Teppichen und Holz errichtete Lager und die traurige Lebensweise der Obdachlosen, die nirgends wirklich zuhause sind. Es hat mich sehr mitgenommen zu sehen, wie einige hier wohnen mussten, während ich mich schon beschwerte, dass ich keine Schokolade mehr kaufen kann, wenn meine Tesco-Tickets bis zum Ende des Monats reichen sollen. Sogar als Freiwilliger fühlt man sich nun nicht mehr berechtigt, über zu wenig Geld zu klagen. Diese Menschen jemals wieder in die Gesellschaft einzugliedern, schien für mich unmöglich. Sie hatten ihr komplett eigenes Leben abseits von dem belebten Stadtalltag entworfen. Wirklich helfen ist schwer, denn man kann nur tun, was man kann und die Möglichkeiten sind begrenzt. Uns bleibt hauptsächlich Aufmerksamkeit schenken und ein wenig Freude verteilen. Auch wenn mich dieser Nachmittag sehr bedrückt hat, so hat es mir gleichzeitig ein gutes Gefühl gegeben, diese Seite von Debrecen gesehen zu haben. Jetzt liegt es in meiner Hand, zu helfen. Ich denke, dies verbindet die Menschen in der BM. Das schafft Zusammenhalt und das Gefühl, zusammen eine Aufgabe zu haben, wie das Fahrradfahren. Es ist nicht wichtig, ob man dazu Ungarisch kann oder Englisch oder sich nur mit Händen und Füßen verständigen kann. Wo man herkommt, spielt keine Rolle, sondern was man tut.
Außerdem hat es mir sehr weitergeholfen, einen weiteren „Verbündeten“ aus Deutschland zu treffen:). Hier verbindet schon das Deutschsprechen ziemlich schnell. Es reichen ein paar gleiche Geschichten über Verständigungsschwierigkeiten und erste überraschende Entdeckungen und schon plant man erste gemeinsame Unternehmungen. Egal, wie sehr ich nun versuche, viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern kennenzulernen, meine deutschen Freunde hier geben mir dann Halt, wenn das Englisch Sprechen mal wieder gar nicht klappt. Es ist wie ein selbstverständlicher Zusammenhalt zwischen uns. Und mal abgesehen davon, sind Elisabeth und Tizian ziemlich coole Menschen, mit denen das Zusammenhalten unter Deutschen auch echt Spaß macht. Ich sollte mich wohl nicht zu sehr auf das Deutsche verlassen, aber ich kann es, wenn ich es wirklich brauche. Das zu wissen gibt mir neuen Mut, Ungarn mit all seinen Seiten kennenzulernen und sich auch auf das Fremde einzulassen.
Nicht nur die DBM und die neuen Bekanntschaften waren riesige Ereignisse in der letzten Woche, sondern auch ein spontaner Besuch von zu Hause. Nach einer etwas turbulenten, problemreichen Anreise erreichte meine Zwillingsschwester Sonntag um 7 Uhr morgens Debrecen und brachte ein wenig Heimat mit. Es tut so gut, sich nun wieder über deutsche Freunde und Skandale austauschen zu können und die unglaubliche Zwillingsschwesternvertrautheit zu spüren, welche unersetzlich ist. Es war hart, sie am 25. August schon wieder gehen zu lassen. Ich habe sie gleich am Sonntag mit zur BM genommen und wir haben die ganze Nacht lang Fahrräder mit Krepp-Blumen geschmückt und jeweils den andern auf den neusten Stand gebracht. Warum wir das in einer Sonntagnacht machen? Weil in Ungarn jedes Jahr am 20. August Flower Carnival ist. Dies ist einer der wichtigsten Nationalfeiertage Ungarns, der der Staatsgründung durch Stefan den Heiligen gewidmet ist. Und ich wurde eingeladen, in der Gruppe der BM beim Umzug mitzufahren. Nein sagen kam da nicht in Frage. Ungarische Traditionen nicht nur von außen zu beobachten, sondern hautnah mitzuerleben, ist etwas ganz Besonderes, was man wohl nur als Freiwilliger kann, nicht als einfacher Tourist. Am Mittwoch darauf wurden wir von ein paar Debreczenern eingeladen, echte ungarische Pfannkuchen zu backen. (Man kann sie sich vorstellen, wie eine Mischung aus Crêpe und deutschen Pfannkuchen:D) und am Freitag haben wir sogar probiert, in einer Karaokebar ungarische Lieder mitzusingen. Klar klang das furchtbar, aber das klangen wohl auch die englischen Lieder, die wir sangen. Ich denke, all sowas auszuprobieren ist, was hier zählt. Das Dabeisein und neue Orte entdecken. Wie den schönsten See der Welt, auch wenn man dafür kilometerweit durch Sand fahren muss, da sich ungarische Asphaltstraßen am Ortsausgang manchmal einfach in Sandwege verwandeln. Oder wie Pálinka testen, der typisch ungarische Obstbrand, wenn ich auch feststellen musste, dass ich ihn ungenießbar finde. Genau für solche Dinge bin ich hier. Das ist, was ich hier will: Neues erleben, ein Land ganz besonders kennen lernen, Sprachbarrieren überwinden und lernen rechtzeitig Klopapier zu kaufen, bevor man ohne dasitzt. Sparsam sein, damit man essen kaufen kann und trotzdem noch genug übrigbleibt, um das Land zu erkunden. Herausfinden, wie man es schafft, sich in einem Land, von dem man nicht einmal die Sprache kann, nicht mehr fremd zu fühlen. Was dabei hilft, ist ein perfekter Mix aus Mut machendem Vertrauten wie ein Besuch von zuhause und deutsche Freunde, die, obwohl man sich erst so kurz kennt, einfach da sind und mich unterstützen. Sowie aus spannendem Neuen und einer Menge Menschen, deren Vertrauen zu gewinnen eine viel größere Herausforderung darstellt.