Užgavėnės
Die massiven Holzwände des Blockhauses verdunkeln die schmalen Gänge, in denen sich dutzende aufgeregte Litauer drängen. Hier ein Funken Licht, links abbiegen in eine kleine Handwerkerstube, dicht aneinandergedrängt.
Die massiven Holzwände des Blockhauses verdunkeln die schmalen Gänge, in denen sich dutzende aufgeregte Litauer drängen. Hier ein Funken Licht, links abbiegen in eine kleine Handwerkerstube, dicht aneinandergedrängt. Ein Mann mit knorrigen Handfalten schnitzt konzentriert einen Augenbrauenbogen in die grobe Holzmaske, während Ziegenköpfe, honigschleckende Bärenkinder und Hexenfratzen grinsend durch die Fensteröffnung starren. Trommelschläge dröhnen von weit her, die Leute stürmen aus dem Haus heraus, auf das Feld, auf die Schneewiese, denn die Musik aus dröhnendem Akkordenkreischen, Geige und Rassel kündigt diese seltsame uralte Parade an, dort hinten sind sie bereits zu sehen, der rouge-überdeckte Mann im Brautkleid, der Feldarzt aus alten Zeiten, ist das da ein Storch? Der Geist eines Sowjetsoldaten oder Napoleon? Und dort, schaut hin, dort kommen sie angefahren in einer Kutsche, wie ein merkwürdiges Liebespaar, der fette Lašininis mit seinem riesigen Bauch, und daneben der dürr-gewachsene Kanapinis. Symbol des Winters und des Frühling, gehen einher Hand in Hand, tanzen zusammen den Schnee zu Boden, singen alte Lieder, essen blynai, die ja selbst aussehen wie die Sonne dort oben am Himmel! Wir lachen und frieren und tanzen immer und immer wieder im Kreis, Hand in Hand mit dem Scheich rechts von mir und dem Wolf links, feiern die heutige Sonne als sei es bereits über null Grad, während hoch über uns die Strohhaare der riesigen Winterfigur Morė lichterloh herunterbrennen.
Das ist Užgavėnės, der Tag vor der 46-Tägen Fastenzeit bis Ostern, und eigentlich doch eine sehr viel ältere, sehr viel simplere Feier, nämlich das Vertreiben des Winters und das Begrüßen des kommenden Frühlings. Und noch nie habe ich solch eine Vorfreude auf den Frühling erlebt wie hier nach dem langen Winter, kein Wunder also, dass sämtliche Gesichter heute zu strahlen scheinen, jetzt, wo der Winter endlich, nach all dem Warten, symbolisch verbrannt wird.
Wir sind in Rumšiškes, einem Dorf zwischen Kaunas und Vilnius, in dem jedes Jahr im Freilichtmuseum 20.000 Menschen Užgavėnės feiern. Der eigentlich Feiertag wird erst nächsten Dienstag stattfinden, aber da Dienstag zufällig mit dem Weltfrauentag zusammenfällt wird es auf meiner Arbeit nur um das hundertjährige Jubiläm dieses Tages gehen und ich werde fünf Stunden versuchen, alle femministischen Reden durchzustehen.
Heute aber lasst uns noch ein bisschen den Frühling feiern indem wir bulvinių blynai mit grietinė essen, kratzigen Großmutterstimmen beim Singen zuhören und im Takt der Trommeln den Schnee zu Boden stapfen. Weiter vorne ein weiterer Tanzkreis von Hexen, die ein Lied darüber brüllen, dass trotz all der Arbeit nie genug Geld da sein wird, ein Kind im Bärenkostüm mit angebundenem Honigtopf läuft an mir vorbei und ruft glücklich: „Aš meškas! Aš meškas!“ (Ich bin ein Bär!), und es die Hoffnung auf ein gutes Jahr, ein warmes Jahr, die den Leuten ins Gesicht geschrieben steht. Denn seit uralter Zeit hat der dürre Kanapinis doch immer gegen den doch viel stärker aussehenden Lašinis gewonnen, wieso sollte es dieses Jahr also anders sein?