Trendiger Tallinntourismus und turbulenter Trampertrip (Ferien Vol. 3)
Von unserer Zeit vor und während Silvester in Tallinn und meiner 1600-km-Anhalterreise von dort aus zurück nach Deutschland.
Nun sind wir also am 27.12. abends in Helsinki angekommen. Erstmal zu Lidl. Ein bisschen Nudeln, Gemüse und Tomatensoße gekauft und das Abendbrot, das wir uns kurz darauf bei Olya kochten, war gesichert. Das hat gut getan, nachdem ich den ganzen Tag über nur gefrühstückt und vielleicht zwei Karotten gegessen hatte. Nach einer mittellangen Unterhaltung mit Olya gingen wir dann auch schon schlafen - sie musste am nächsten Tag zur Arbeit und wir zur Fähre.
Auf der Fähre angekommen durften wir vom Deck aus die (zugegebenermaßen ausgesprochen hässliche) Hafenstadt Helsinkis bewundern, es gab allerdings auch einen wunderschönen Sonnenuntergang zu sehen. Vielleicht war es auch der Sonnenaufgang. Ich weiß nicht. Achja, es wurde dunkler, als wir nachmittags Richtung Tallinn fuhren. Also wohl Sonnenuntergang. Wie auch immer. Nach einem kurzen Photoshooting an Deck gingen wir ins Restaurant und verbrachten dort den Rest der etwa 2,5 Stunden langen Überfahrt. Später gingen wir nur noch einmal kurz raus, um für einige Minuten in den blutroten Schleier zu starren, den die schon verschwundene Sonne am Horizont hinterlassen hatte. Kurze Zeit später war auf der Fähre um uns herum alles schwarz.
Unsere Gastgeberin wartete in Tallinn schon auf uns, als wir in unsere Ferienwohnung eincheckten. Sie befand sich im obersten Stock eines ausgesprochen heruntergekommenen Hauses inmitten eines ähnlich.... nostalgischen Stadtviertels. Die Wohnung selbst war jedoch komplett neu renoviert, sehr schön und gemütlich. Nachdem wir unsere Sachen abgestellt hatten, ging es erstmal los zum Einkaufen im estnischen Rimi Hypermarket. Wir versorgten uns mit dem Notwendigsten gleichermaßen wie mit dem Überflüssigsten (es war aus irgendeinem Grund ein extraordinär hoher Schokoladenkonsum zu verzeichnen) und erkundigten dabei gleich die Gegend. In demselben Einkaufszentrum fanden wir dank HappyCow auch ein veganes Imbiss-Café-Restaurant-Dingenskirchens, welches wir in den darauffolgenden Tagen zwei oder drei Mal besuchten, weil das Essen dort echt lecker und verhältnismäßig günstig war. Soviel dazu.
Unsere Tage in Tallinn verbrachten wir zum Glück eher ruhig, auch wenn wir uns einige Orte vorgenommen hatten, denen wir auch Besuche abstatteten. So sahen wir uns (natürlich) die Altstadt an, liefen auf der Stadtmauer entlang, gingen zu "Tallinn Legends", einer kreativen Show bzw. inszenierten, fiktiven Erzählung über das mittelalterliche Tallinn, besuchten das riesige "Kumu"-Kunstmuseum mit estnischer Kunst aus nahezu allen Epochen, spazierten von hier nach da und saßen auch nicht selten in Cafés oder auch mal in Restaurants. Es war kein von vorn bis hinten durchgeplantes Sightseeing á la industrielle Massenabfertigung, also genau richtig. Einmal stießen wir auf einen Lush-Naturkosmetikshop (vegan und tierversuchsfrei), in welchem es gerade viele Seifen, Shampoos usw. um 50% reduziert gab, und so schlugen wir alle zu. Ich ergatterte zwei extrem lecker riechende Handseifen und ein Meersalz-Shampoo.
An Silvester gingen wir zuerst in ein tolles indisches Restaurant mit einer umfangreichen vegetarischen und veganen Speisekarte und aßen uns dort satt. Da wir uns natürlich auch mit ausreichend Süßkram und Getränken ausgestattet hatten, gingen wir anschließend zurück zur Wohnung und beobachteten das Feuerwerk über Tallinn von dort aus. Wir stießen an, redeten noch eine Weile und saßen zusammen, bevor wir - für meine bisherigen Silvestererfahrungen ziemlich früh - ins Bett gingen. Aber wir mussten am ersten Tag des neuen Jahres alle wieder früh raus, da die Fähre für Anna, Meri und Lisa schon um 12 nach Helsinki abfuhr und man eine Stunde vorher einchecken musste. Und auch ich wollte meine Reise rechtzeitig antreten, um möglichst wenig Tageslichtzeit zu verlieren.
Ich war ausgerüstet, mit Klamotten, meinem eigenen Essen, Campingkocher, Zelt, Isomatte und Schlafsack sowieso. Ich rechnete mit einer Dauer von drei bis sechs Tagen für die 1600 Kilometer von Tallinn bis nach Werder. Die Reise sollte beginnen.
Wir verabschiedeten uns um kurz vor 11 in der Innenstadt Tallinns, auf dass die drei ein Taxi zum Hafen nahmen und ich mich in die Straßenbahn in Richtung Stadtrand setzte. An der fast letzten Haltestelle ausgestiegen stellte ich mich an eine Bushaltestelle und zog in Erwägung, einen Bus zu nehmen, um noch weiter aus der Stadt rauszukommen (da wir sowieso ein 3-Tages-Ticket für die öffentlichen Verkehrsmittel in Tallinn gekauft hatten). Leider konnte die eine junge Frau, die an der Bushaltestelle stand, genauso wenig Englisch sprechen wie der Busfahrer des ersten Busses, der ankam, aber ich stieg auf Gut Glück ein und stellte dann während der Fahrt fest, dass der Bus nach Laagri fuhr, ein etwa 20 km von Tallinn entfernter Vorort - sehr gut also! Dort stellte ich mich an die Straße, die kurz darauf zu einer Art Schnellstraße wurde. Ich wartete - nicht lange. Nach etwa 5 bis 10 Minuten hielt ein BMW an (Ich glaube, dass das der erste BMW-Fahrer war, der mich überhaupt jemals mitgenommen hat) und brachte mich etwa 20 km weit, wo ich keine weiteren 5 Minuten wartete, um vom nächsten Lift noch 50 km weiter gebracht zu werden. Dort stand ich an einer Tankstelle, sprach das erstbeste Pärchen an ihrem Auto an, und es stellte sich heraus, dass sie bis nach Litauen fuhren. Da sie jedoch hinter der Grenze Lettlands und Litauens eher Richtung Südosten abbogen, nahmen sie mich "nur" bis nach Riga mit - schlappe 250 km.
Die beiden waren ziemlich nett und auf dem Rückweg vom Silvesterurlaub, den auch sie in Tallinn verbracht hatten. Jedenfalls wollten sie wohl noch in die Innenstadt Rigas, und ich verschlief es etwas, ihnen zu sagen, dass sie mich vorher rauslassen sollten. Also stieg ich etwas zu spät - auf dem Weg in Rigas Innenstadt, obwohl ich die Stadt hätte umfahren müssen - aus, um auf der anderen Straßenseite auf einen Lift zurück zu warten. Ich war schon in Lettland! Nach wieder einmal auffallend kurzer Wartezeit nahm mich ein Taxifahrer mit, der mich fragte, ob ich an dem europäischen Jugendtreffen der Taizé-Gemeinde in Riga über Silvester teilnahm und deshalb hier war. Ich schaute ihn an wie ein Mondauto und verstand erstmal gar nichts, bis ich während seiner Erklärung allmählich verstand, worum es dabei ging; gleichwohl ich noch nie davon gehört hatte. Nachdem ich wieder ausgestiegen und einige hundert Meter an eine halbwegs "gute" Stelle gelaufen war, wurde es allmählich auch schon dunkel, und es regnete. Ich packte also mal wieder Warnweste und Taschenlampen aus und wartete geduldig am Straßenrand. An dieser Stelle sollte ich die längste Wartezeit meiner ganzen Reise haben, es mag vielleicht etwas mehr als eine Stunde gewesen sein. Dann hielt ein schwarzer Mercedes an, an dessen Steuer ein älterer, dicklicher Mann saß, seine Frau neben sich auf dem Beifahrersitz. Beide sprachen aus irgendeinem Grund ein halbwegs verständliches, gebrochenes Deutsch, und missverstanden mich trotz deutlicher Erklärungsversuche anfangs. Dann brachten sie mich jedoch ans andere Ende Rigas zur Straße Richtung Kaunas (Litauen), zu einem Supermarktparkplatz. Der Mann sagte mir, ich solle mal bei den Autos durchfragen, wünschte mir viel Glück und Erfolg (so wie eigentlich alle meine Lifts es während der Reise taten) und brauste davon.
Ich stand also am Parkplatz. Meine Erfahrungen mit dem Leuteansprechen beim Trampen waren noch immer stark begrenzt, war ich doch bisher fast ausschließlich in Finnland getrampt. Außerdem war es inzwischen nach 17 Uhr, stockduster und es regnete noch immer. Ich fragte mich schon still und heimlich, wo ich hier wohl mein Zelt aufschlagen sollte. Dann ermutigte mich irgendetwas, aus Geratewohl zu einem Reisebus zu laufen, der auf dem Parkplatz stand, um nach einem freien Platz zu fragen. Die vor dem Bus stehenden Fahrer konnten kein Englisch, aber als man mich bemerkte, kam sofort eine junge Frau zur Tür und fragte nach meinem Anliegen. Während ich ihr erklärte, dass ich von Tallinn nach Berlin trampen wollte, wurden ihre Augen immer größer, bis sie mich schließlich unterbrach und etwas auf Polnisch in den Bus hineinrief - woraufhin alle anderen, ebenfalls jungen Insassen laut gröhlten und sich augenscheinlich freuten. Sie alle waren wohl ziemlich erstaunt von meinem Vorhaben, und nachdem man den Gruppenleiter ihrer Reisegruppe um Zustimmung gebeten hatte, durfte ich meinen Rucksack auch schon im Gepäckraum verstauen und mich auf den einen freien Sitzplatz im Bus setzen - für die nächsten fünfhundert Kilometer, bis nach Bialystok in Polen. Ich war mal wieder erstaunt über mein Glück, nicht weniger erstaunt als über die Tatsache, dass diese Reisegruppe eine Gruppe junger polnischer Christen war, die an dem zuvor vom Taxifahrer erwähnten Jugendtreffen in Riga teilgenommen hatte.
Während der Fahrt führte ich Unterhaltungen mit allen möglichen Leuten, die um mich herum saßen und interessiert waren; nett waren sie jedenfalls alle. Wir erreichten Bialystok gegen 1 in der Nacht des 2. Januars, und eine in Bialystok wohnende Puppentheaterstudentin hatte mir einen Schlafplatz in ihrer Wohnung angeboten. Außerdem gab sie mir Essen an und lieh mir, als wir bei ihr zu Hause waren, ihren Laptop aus, damit ich herausfinden konnte, wie ich am besten wieder aus Bialystok heraus- und weiter in Richtung Warschau kommen würde. Ich schlief bald ein, während ich noch immer kaum fassen konnte, wie ich etwa 800 Kilometer, also die Hälfte meiner ganzen Strecke, in einem halben Tag zurückgelegt haben konnte.
Am nächsten Morgen gegen 10 machte ich mich wieder auf den Weg, musste etwa 2 Kilometer laufen (es geht nichts über Hardcore-Frühsport) und stand dann an einer mehr oder minder guten Stelle an der Auffahrt der Stadtautobahn. Ein vorbeilaufender Passant sprach mich auf Polnisch an, und erklärte mir nach meinem missverständlichen Blick und Beteuerungen bezüglich meiner mangelnden Polnischkenntnisse meinerseits, dass diese Stelle nicht sehr sinnvoll zum Trampen sei, aufgrund der Aufteilung der Autobahn Richtung Norden und Süden nach einigen hundert Metern und des nicht allzu hohen Fahrzeugaufkommens. Der Mann wollte mir gerade erklären, wie ich mit Bussen (worauf ich eigentlich gar keine Lust hatte) zu einer besseren Stelle kommen würde, als ihm etwas einfiel. Dann meinte er nur, dass er gleich wieder da sei und mich ans andere Ende der Stadt mitnehmen würde. Ich war etwas verwirrt, aber wartete natürlich, und so kam er mit einem LKW von einem nahen Parkplatz heruntergefahren und nahm mich mit. Er musste anscheinend sowieso dort entlang, oder auch nicht... Er war jedenfalls nett und freute sich, mir helfen zu können.
Dort, wo er mich aussteigen ließ, stand ich unmittelbar vor der Autobahnauffahrt Richtung Warschau und hielt den Daumen raus. Ich begann mal wieder (so wie ich es auch bisher schon getan hatte), die vorbeifahrenden Autos zu zählen und kam wohl kaum bis fünf, bis mich ein junger Mann, der auch direkt bis nach Warschau fuhr, mitnahm - die nächsten 200 Kilometer. Er war einer der nettesten Lifts, mit dem ich mich viel über alles Mögliche unterhalten habe; über unsere Beschäftigungen, Polen, polnische und deutsche Sprache und auch das Christentum in Polen. Er fuhr noch ein ganzes Stück auf der Autobahn an Warschau vorbei bis zu einer guten Raststätte, wo er mir bei McDonald's auch noch Pommes und Salat spendierte. Von dort ging es nach etwa 20 Minuten weiter, etwa 130 km bis zum Kreuz Lodz. Dort hielt mein Lift an einer Raststätte an, stieg aus und lief zum nebenstehenden Fahrzeug, um den Fahrer sofort auf Polnisch zu fragen, ob er mich weiter mitnehmen könne. Ich war überrascht. Der Fahrer - ein junger Mann, der seine Freundin dabei hatte - bejahte jedenfalls. Nachdem die beiden sich Kaffee gekauft hatten, ging es also weiter, fast 200 km bis nach Poznan (Posen). Auch mit diesem Herrn unterhielt ich mich sehr gut, und es war witzig, seinen Geschichten zuzuhören oder ihm meine zu erzählen. Er hatte außerdem eine Menge Kritik an der polnischen Regierung und den Autobahnen, der Maut usw. auszuüben, die ich mir interessiert anhörte.
In der Nähe von Poznan fragte ich wieder etwa 20-30 Minuten herum, bis mich drei polnische Geschäftsleute etwa 100 km weit mitnahmen, bis zum letzten Autobahnkreuz vor der Deutsch-Polnischen Grenze. Mit ihnen redete ich nicht viel, machte mal kurz Palaverpause. An der nächsten Raststätte fand ich so viele Autos vor, dass ich sogar mehrere Möglichkeiten zum Weiterreisen fand, zwischen denen ich mich entscheiden musste. Unterschiedliche Leute, die die etwa 180 Kilometer direkt bis nach Berlin fuhren, und ein deutschsprechender Pole mittleren Alters, der an Berlin vorbei Richtung Hamburg fuhr. Für ihn entschied ich mich letztlich, in der Hoffnung, irgendwie nach Potsdam zu kommen. Wie es der Zufall so wollte, gab es jedoch auf der A10 Richtung Potsdam einen Unfall und mein Lift hatte es eilig, also fuhr er eine Umleitung durch Berlin und ließ mich am Bahnhof Tempelhof aussteigen. Er hatte mir vorher sogar WLAN über sein Handy spendiert, sodass ich bei meiner Stiefschwester die Situation zu Hause anfragen (meine Eltern sollten schließlich zu Hause sein, wenn ich vollkommen überraschenderweise durch die Tür hereinkam!) und mir sogar eine Zugverbindung von Berlin nach Hause heraussuchen konnte. Ich war wieder in Deutschland, nach über vier Monaten. Ein merkwürdiges Gefühl. Ich bezahlte die 3,30 € für das Ticket. Mein Ticket für eine Reise von Tallinn nach Werder, sozusagen. Ich nahm die so bekannte S-Bahn und den so bekannten Bus nach Hause.
Am zweiten Januar um 20.30 schloss ich nun also unsere Hauseingangstür in Werder auf; mit dem Haustürschlüssel, den ich für genau diesen Moment mitgenommen hatte, um nicht klingeln zu müssen, sondern einfach ins Wohnzimmer zu spazieren. Mein Vater und meine Stiefmutter waren... sichtlich erschüttert, würde ich sagen. Positiv überrascht; auf jeden Fall hatten sie mit Sicherheit nicht damit gerechnet. Es war ein überaus lustiger und schöner Moment. Auch wenn ich mich bisher nie wirklich gefühlt hatte, als hätte ich Heimweh, war es gut, mal wieder zu Hause zu sein. Dort blieb ich auch für die nächsten acht Tage.
So, nun habe ich mal wieder eine ganze Menge geschrieben (zeigt euch dankbar!), und es ist Zeit für eine Unterbrechung. Was ich zu Hause in Deutschland so getrieben habe und wie meine Reise zurück aussah, erwartet euch dann im nächsten Eintrag. :)