Traumhaft
Ein kleines Mädchen auf Reisen durch ganz Europa - bisher allerdings nur in ihrer Phantasie. Nane beschriebt die Geschichte eines Traumes, der in Erfüllung geht, einer Reise, die schon bald wahr wird.
„Juhuu, Hannah, wir sind gleich in Paris! Endlich haben wir es geschafft“, schrie das kleine Mädchen mit den Sommersprossen mir plötzlich ins Ohr und packte eifrig ihre Blätter ein, auf denen sie die vorbeifliegende Landschaft eingefangen hatte. Erschrocken, wie ich war, wusste ich nichts zu antworten; nichts, das ihrer Begeisterung hätte gerecht werden können. Der Zug hatte uns also nach Paris gebracht. Ich wusste ja nicht, wo Emma heute mit mir hinwollte. Paris - davon hat mir mein Bruder mal erzählt, aber ich wusste nichts mehr. Viel Zeit zum Überlegen hatte ich sowieso nicht, denn schon schwappte der Redeschwall des kleinen frechen Mädchens mir ins Gesicht: „Mama sagt immer, in Paris sind alle Leute schön gekleidet. Deshalb nimmt sie auch nur ihre schicksten Sachen mit, wenn sie dahin muss. Das blaue Kleid, die gute Hose und viele Blusen.“ Sie lachte. „Und die Stöckelschuhe, mit denen sie immer so lustig aussieht, wenn sie läuft. Wenn sie dann aus Paris zurückkommt, sagt sie immer 'Bonschur' und 'Mersie' und einmal hat sie mir sogar schon gesagt, was das heißt, damit ich später auch überall hinfahren kann und die Leuten verstehe.“ Die großen kastanienbraunen Augen leuchteten im dunklen Licht, während sie sich an die Geschichten, die ihre Mutter ihr nach den Reisen erzählte, erinnerte. „Schau mal, da draußen, ist eine Frau mit so einem französischen Hut, den sonst immer die Maler aufhaben. Knallrot. Siehst du, sie hat ein Kleid und Stöckelschuhe an, genau wie Mama immer erzählt hat. Hast du gesehen, wie böse sie geguckt hat? Das machen die hier so, die sind nämlich ein bisschen eingebildet. Aber trotzdem ist Paris die schönste Stadt, von der Mama mir jemals erzählt hat. Ich glaube, es ist auch ihre geheime Lieblingsstadt“, fügte sie flüsternd hinzu, „davon erzählt sie nämlich besonders viel.“ Emma kicherte. „Wie heißt nochmal der Platz, mit den Malern? Es muss irgendwo bei einer großen Kirche sein. Mama ist da jedesmal, wenn sie in Paris ist. Ein paar der Maler kennt sie und die meisten kennen sie und ihre Bilder natürlich. Wenn ich später auch mal Künstlerin bin, will ich einen Tag irgendwo in Paris sitzen und die Menschen malen, die vorbeilaufen; alle auf eine Leinwand, damit sie dichtgedrängt sind, genau wie es hier in Paris ist. Aber weißt du, was am schönsten an der Stadt ist? - Die Tauben, wie sie durch die Stadt fliegen. Gehen wir gleich noch auf den großen Platz, wo das Museum mit der Spitze steht, um die schönen weißen Tauben zu füttern? Bitte, bitte. Aber vorher möchte ich noch ein Baguette essen, mit Käse, von dem wir einfach so abbeißen. Das habe ich einmal mit Mama gemacht. Wir sind zu Hause in einen Park gegangen und haben das so gegessen. Dabei hat sie nur Fränzösisch geredet und war sehr elegant und hübsch, damit ich mir vorstellen kann, wie es in Frankreich wohl ist. Und weißt du was, das Picknick war total schön, obwohl ich kein Wort von Mama verstanden habe. Ich glaube, ich fühle mich in Paris sehr wohl. Du kannst doch französisch, oder?“ „Oui oui“, sagte ich und lächelte sie an. Sie war einzigartig und so lebensfroh, wie ich selten ein kleines Mädchen erlebt hatte. Wenn Emma und ich unterwegs waren, gab es keinen Moment, in dem sie traurig oder nachdenklich war. Sprühend vor Energie und Aufregung erzählte sie und hörte nicht mehr auf, wobei die buntesten Geschichten und die schönsten Bilder entstanden. „Kannst du mir einen Satz auf Französisch beibringen? Bitte, ich möchte so gerne etwas sagen. Lass mich doch das Baguette bestellen. Ja? Und du sagst, dass wir auch noch Käse brauchen und dann gehen wir irgendwo hin und essen alles auf und liegen in der französischen Sonne. Weißt du, wo der große Fluss ist? Da war Mama bis jetzt nur einmal, aber sie meinte, dass es dort wirklich traumhaft war,vor allem mitten in der Nacht. Auf einer Brücke hat sie mit vielen jungen Menschen, die sie eigentlich gar nicht kannte, gesungen, Gitarre gespielt und Wein getrunken und eben Baguette gegessen. Jetzt ist es zwar nicht Nacht, aber wir können ja trotzdem Baguette auf einer Brücke essen.“ Als Emma stolz strahlend auf einem holprigen Französisch den Wunsch nach einem Baguette äußerte, musste ich wieder ein wenig grinsen. Dieses Mädchen wusste ganz genau, was sie wollte, und auch, dass sie es meistens bekam. Wir suchten uns also, vollgepackt mit Baguette und Käse, eine Brücke, auf der wir uns in die warme Mittagssonne legen und Franzosen beobachten konnten. „Das ist vielleicht lecker, sag ich dir. Sagt Mama auch immer- wenn man in Paris ist, muss man auch Baguette essen, egal wie kurz man nur da ist. Und wir sind ja gar nicht mehr lange hier. Wo wollen wir überhaupt als nächstes hin? Dieses Mal darfst du aussuchen.“ Träumend starrte ich in die Luft. Wo wollte ich jetzt hin? Paris gefiel mir, meinetwegen hätten wir hier bleiben können, aber ich wusste, das hätte die Reiselust der Kleinen nicht zugelassen. „Amsterdam“, hörte ich mich selber sagen. Amsterdam, wie bin ich denn darauf gekommen. Zu spät, Emma ließ schon die Bahnhofsansage des Zuges nach Amsterdam verlauten. „Im Zug schlafen wir aber, ok? Ich bin ganz schön müde von dem langen Tag in Paris. Aber ich liebe Paris, später will ich da ganz oft hinfahren.“ „Und wo willst du später mal wohnen?“ Sie guckte mich an, zog eine Augenbraue hoch und sagte ganz selbstverständlich: „In Europa natürlich. Mal in Paris, mal in Italien, mal in Malmoe, mal in irgendwo anders. Aber immer in Europa- zu Hause. Wie Mama, die sagt auch immer, Europa ist ihre Heimat, wenn sie gefragt wird.“ Für die vaterlose Emma war die Mutter ihr größtes Vorbild, obwohl sie nicht viel Zeit mit ihr verbrachte, nicht einmal soviel wie mit mir. Immer, wenn die Mutter eine Ausstellung ihrer Bilder im Ausland hatte, kam ich, holte Emma aus dem Kindergarten ab und verbrachte die Nachmittage und Abende mit ihr. Meistens reisten wir dann in der Weltgeschichte herum, genauso wie die Mutter. Der Zug brachte uns, wohin wir wollten und dabei gab es Kekse, die sich gelegentlich, ganz nach Bedarf, in Baguette, Fish&Chips oder Pfannkuchen verwandelten. Unsere Phantasiereisen waren die schönsten, die ich jemals unternommen habe. Frei von Sorgen konnte ich mit dem kleinen, kreativen Mädchen Europa kennenlernen. Zu fast jeder Stadt hatte sie eine Geschichte zu erzählen und wenn nicht, lasen wir uns in dem großen roten Buch der Mutter schlau oder erlebten gemeinsam unsere eigenen Geschichten. Auf der Zugfahrt freuten wir uns jedesmal schon und überlegten uns, wie es alles aussehen könnte und was wir als Erstes machen wollten.
Auf dem Weg nach Amsterdam blätterte die Kleine eifrig in dem dicken Buch, als das Telefon klingelte. Die Mutter klang sehr erfreut und konnte es kaum erwarten, ihre Tochter zu sprechen. Die kam schon angeschlittert und zappelte nervös. „Sonst ruft Mama nieee an“, stellte sie fast verärgert fest. Den viel zu großen Hörer an ihr Ohr pressend lauschte sie aufmerksam. Das anfangs skeptische Sommersprossengesicht entspannte sich und verwandelte sich nach kurzer Zeit zu einem Grinsen, dann zu einem Lachen bis Emma einen Freudesschrei nicht mehr unterdrücken konnte, den Hörer fallen ließ und im Kreis durch das Wohnzimmer rannte. Schließlich ließ sie sich auf die Couch fallen, auf der wir eben noch nach Amsterdam reisen wollten. Nachdem ich vorsichtig den Hörer weggelegt hatte, war sie schon wieder aufgesprungen und raste in ihr Zimmer, riss den Schrank auf und schmiss ihre schönsten Klamotten in den alten Lederkoffer, den sie einmal zum Geburtstag bekommen hatte. „Es geht los! Ich fahre zu Mama! Ich seh es alles! In Echt! Es geht los! Hannah, verstehst du?! Ich werde Europa sehen und du kommst mit! Mama nimmt uns zu ihrer nächsten Ausstellung mit! Ich darf mit! In London am Bahnhof trifft sie uns! Und dann fliegen wir nach Paris. Hannah, weißt du noch, das ist die schönste Stadt, von der Mama mir jemals erzählt hat!“ Ich freute mich. Freute mich, Paris zu sehen, aber noch mehr freute ich mich für Emma, die endlich ihren großen Traum erfüllt bekam. Sie durfte Europa, ihre größte Liebe, endlich erleben.
Am nächsten Tag saßen wir das erste Mal in einem echten Zug.