Tourist in der eigenen Stadt.
Wie ist es, als Reiseführer und zugleich Tourist die eigene Stadt zu erkunden? Wie ich Shenyang noch einmal ganz anders erlebte.
Es war so weit. Meine Mutter, mein Vater und einer meiner Brüder saßen im Flugzeug, auf dem Weg zu mir und meinem derzeitigen Zuhause. Dass sie gerade auf der Strecke unterwegs waren, die ich vor gut 10 Monaten alleine zurückgelegt hatte, irritierte. "Wie wird es ihnen gefallen? Werden sie sich mit mir sicher fühlen? Haben ich sie gut genug auf die neuen Eindrücke vorbereitet? Werden Sie China am Ende zufrieden und mit einer Vielzahl an Eindrücken verlassen?" All diese Fragen begleiteten mich in der Tagen vor ihrer Anreise. Im Taxi, auf dem Weg zum Flughafen stieg zuerst die Freude, dann die Nervosität. War es wirklich so weit? Heute? Ja, tatsächlich, das war es. Als ich die drei dann durch die Tür treten sah, die Hände voller Koffer, konnte ich die Situation nicht schwer begreifen. Sie waren tatsächlich hier. In der Stadt, von der ich so viel berichtet, in der ich so viel erlebt hatte. Glücklich und voller Aufregung fuhren wir zum Hotel neben meiner Universität. Danach fand der erste Rundgang statt: Von meiner Stammbäckerei, über meinen Stammmarkt, meinen Lieblingspark voller Sportler, Tänzer, Musikanten, Kindern und Leben (und heute auch einem Hochzeitsmarkt) bis zu meinem Wohnheim und meinem Büro. Die Hitze begleitete uns. Den Drei meinen Alltag in Teilen vorzustellen, machte mich sehr froh. So konnte ich sie auf schöne Seiten des Lebens hier (Vielfalt des Essens, Alltag in den Parks, Offenheit der Einheimischen etc.) und die eher ungewöhnlichen Seiten (verschmutzte Luft, andere Maßstäbe im Wohnheim und am Arbeitsplatz, Aufmerksamkeit aufgrund europäischen Aussehens, kein Rauchverbot in Restaurants etc.) aufmerksam machen. Nach einer kurzen Mittagspause fanden wir uns gemeinsam in dem Restaurant ein, das mir in den ersten Tagen nach meiner Einreise gezeigt wurde. Bei Kohl, Gubarou (süß-saures Fleisch), Brokkoli, Pasta, etwas Kuchen und chinesischem Bier wurden sie mit den verschiedenen Soßen und andersartigen Zubereitungsarten der Chinesen vertraut. Das Essen schmeckte und wir waren froh bei einander zu sein. Den Abend schlossen wir noch mit einem Spaziergang am Hun He (Hun Fluss) ab. Dabei konnten wir die beeindruckende Hochhäuser-Skyline Shenyangs bestaunen. Mein Vater: "Es endet ja gar nicht" Überall Hochhäuser!"
Am nächsten Tag hatten wir einen Termin im Stadtplanungs-Museum Shenyangs, wo uns sowohl Geschichte, als auch Erfolge und die geplante großartige Zukunft Shenyangs präsentiert wurden. Einige gigantische Stadt im Wachstum, circa 8 Mio. Einwohner, von der in Deutschland kaum jemand je etwas gehört hat. Auch von den drei UNESCO-Weltkulturerben („kleine“ verbotene Stadt, Nord- und Ostgrab aus der Qing-Dynastie) wissen nur die wenigsten. Mit neuem Wissen in den Taschen machten wir uns am Nachmittag zum Ostgrab, etwas außerhalb der Stadt, auf. Für wenig Geld (5€ pro Person) konnten wir uns eine schöne Grabanlage, in der Natur und Ruhe gelegen, mit detailreichen Dächern anschauen und die anliegende Parkanlage erkunden. Die schönste Begegnung, die wir an diesem Tag hatten, war mit der Familie einer meiner Freundinnen. Ihre Eltern waren extra für ein Treffen nach Shenyang gereist, um mich nach 2/3 Monaten wiederzusehen und meine Familienmitglieder kennenzulernen. Gemeinsam genossen wir Hot Pot, tauschten kleine Geschenke aus. Meine Freundin und ich hielten als Übersetzer her. Auf beiden Seiten war die Freude sehr groß. Der eindrucksreiche Tag wurde mit einem Konzert im Music Conservatory Shenyang abgerundet. Dort fand ein tolles interkulturelles Projekt, zu dem erfolgreiche Musiker traditioneller indischer Instrumente eingeladen worden waren. Zum Beispiel stellte einer der Künstler die Xitar vor, ein Instrument, das äußerlich einer langgezogenen Gitarre sehr nahe kommt. Mich persönlich berührten die Auftritte sehr. Meine Familie erfreute sich mehr an der Moderatorin, die mit den Übersetzungen leicht überfordert war, und an unseren Sitznachbarn, die „heimlich“ Fotos und Videos von uns machten.
Der nächste Morgen begrüße uns mit Regen. Dieser hielt uns jedoch nicht davon ab, die eigentlich größte Sehenswürdigkeit Shenyangs aufzusuchen: Der Kaiserpalast. Oder auch „Verbotene Stadt“. Zwar ist sie um einiges kleiner als der Palast in Beijing, dafür aber sehr detailreich. Bei den Ausstellungen in den Gebäuden konnten wir Haushaltsgegenstände, Waffen, Schmuck und vieles mehr aus der Qing-Dynastie betrachten. Mit durchnässten Schuhen suchten wir anschließend nach einem Taxi, das uns zu einer unauffälligen Gasse brachte. In einem Keller versteckt, wurden wir zu einer Galerie geführt, in der getuschte Gemälde mit Kamelen und Wüstenlandschaften hingen. In dem Restaurant, in das wir anschließend einkehrten, viel nach unserer Bestellung erst einmal der Strom aus. Ein Angestellter führte uns bemüht in ein kleines Lokal, das allerdings nur Fast Food anbot. Gegenüber, im mittlerweile dritten Restaurant, konnten wir dann doch noch etwas bestellen. Wir erfuhren später, dass es sich nicht um chinesisches, sondern taiwanesisches Essen handelte. Die Verkäufer waren unglaublich erfreut, deutsche Touristen zu bedienen und bemühten sich sehr, uns zufrieden zu stellen. Nach einem leckeren Essen erkundeten wir noch die zweite Etage, die sich als Kunstmarkt erwies. Zuerst erblickten wir einen Bereich, in dem eine Art Kriegsszene inklusive Soldaten-Kabine und Wagen in Tarnfarben hergerichtet worden war. Wir posten – für mich sehr unangenehm, muss ich sagen - vor ein paar Requisiten. Im anschließenden Markt wurden wir von ein paar Verkäufern angesprochen, die uns Papierkunst, Porzellan, handgefertigte Taschen und mehr vorstellten. Wir worden zu taiwanesischenm (grünen) Tee eingeladen. Ich konnte mich schönerweise etwas mit dem Verkäufer austauschen und versuchte, zwischen beiden Seiten zu vermitteln. Meine Familie und ich waren von den spontanen Eindrücken sehr begeistert. Am Abend fanden wir uns erneut zusammen. Die deutsche Ecke stand an. Ich, vorne als Leiterin, meine Familie als Unterstützung an den verschiedenen Gruppentischen. Wir sprachen darüber, wie man Personen, Eigenschaften, Situationen und Gefühle beschreiben kann. Ich denke, alle Anwesenden waren über den Kultur- und Gedankenaustausch sehr froh. Zum Ende machten wir noch eine „Komplimente-Runde“, in der jeder noch ein paar gute Worte mit auf den Heimweg bekam.
Der Tag vor unserem Abreisetag basierte größenteils auf spontanen Entscheidungen. Da der starke Wind einen Morgenspaziergang am Fluss eher ungemütlich machte, und die toten Fischkadaver am Flussrand meine Familie auch weniger überzeugen konnten, machten wir uns auf zu meinem Lieblingscafe. Bei leiser, chinesischer Musik, Kaffee, Blumentee und einem Johannisbeer-Soft-Drink spielten wir eines der vielen Gesellschaftspiele, die mein Bruder extra mit nach China eingeflogen hatte. Zu Mittag stand eine Verabredung mit einer Bekannten (Deutschlehrerin der Nordost-Universität) an. Gemeinsam genossen wir leckeres Sushi. Wir entschieden uns dazu, zur Luxun Kunstakademie zu Fuß zu laufen. Dort entdeckten wir eine moderne Ausstellung, die voll von Gesellschaftkritik war. Themen waren zum Beispiel Unterdrückung und Anonymität. Aber auch farbenfrohe Bilder, die zum Beispiel Wellen darstellten, ergänzten die Ausstellung. Die Modenshow, die wir uns eigentlich anschauen wollten, fand leider später als gedacht statt. Deshalb entschieden wir uns für ein paar Drinks im Hyatt der Stadt, um den grandiosen Ausblick genießen zu können.
Am nächsten Morgen saßen wir schon im Zug Richtung Peking. Und ich resümierte. Die Stadtführerin zu geben, gefiel mir. Ich konnte „meine“ Stadt noch einmal intensiv kennenlernen und betrachten, bevor es in wenigen Wochen zurück nach Deutschland geht. Der Austausch mit den Einheimischen tat mir und auch meinen Familienmitgliedern sehr gut. Allgemein ein guter Einstieg zu unserer gemeinsamen Reise, wenn das Wiedersehen nach längerer Zeit doch einige Fragezeichen in den Raum geworfen hatte. Die Mischung zwischen Wir-kennen-einander-sehr-gut und Wir-haben-die-Veränderungen-des-Gegenüber-nicht-mitverfolgen-können führte dabei auch zu einigen ungewohnen Gesprächen und Situationen. Diese beinhalteten häufigen Rollentausch. Alles in allem hatte ich mit meiner Familie eine gute Zeit in Shenyang. Ich konnte mir selbst und meiner Familie vor Augen führen, wie viel diese Stadt zu bieten hat, besonders kulturell. Mit wie viel Freude die Einheimischen uns hier begegnen, erleichtert das Ankommen in so einiger großen Stadt sehr. Nach Shanghai und Beijing bezeichnete mein Vater Shenyang gerne als „Dorf“, da es im Vergleich ursprünglich gehalten ist und ein Gefühl von Sicherheit und großer Gemeinschaft ermöglicht.