Tage wie diese – Tag 4
Bilanz:
2 Stunden, 10 Minuten
16 km
Obschon ich tags zuvor schon früher ins Bett gegangen bin, war an pünktliches Aufstehen nicht zu denken. Bis halb acht ließ ich mich liegen, dann ging's jedoch rund. Schnell Zähne putzen, Waschen und Anziehen. Der Sonnenbrand ist erstaunlich schnell abgeklungen. War die selbst verordnete Ruhe doch nicht so verkehrt. Was den Morgen verdirbt, war lediglich die Kälte. In meinem Zimmer steht zwar eine Heizung, allerdings wurde der Knauf abgenommen und mein Schweizer Offiziersmesser lag leider noch in Náchod. Zudem sagte mir David, dass der Generalschalter für die Heizungen sowieso noch auf „Sommer“ eingestellt sei. Die Fenster dämmten kaum und so blieb die einzige Wärmequelle mein eigener Körper. Außerdem hatte die Bettdecke die ärgerliche Bewandtnis, dass sie zu kurz war. Ich hatte die Wahl. Entweder ein kalter Oberkörper oder kalte Füße.
Entsprechend ungern stieg ich morgens aus dem Bett. An langen Kleidern hatte ich kaum etwas mitgenommen. Und ich haderte noch mit mir, ob ich die Schwimmhose einpacken soll. Wer Eisschwimmen mag, kann das hier machen. Bloß fehlt dazu die Sauna. So eine schöne Lungenentzündung hat doch auch noch keinem geschadet.
Jetzt aber genug der Albernheiten. Als ich in den Speisesaal ging, war ich erstaunlicherweise allein. Nur die Köchin war da und brachte Essen herein. Sie begrüßte mich mit den Worten: „Dobré ráno.“, was „Guten Morgen“ bedeutet. Das verstand ich immerhin und antwortete ihr. Die Wörter an sich waren nicht das Problem. Auf die Aussprache kommt es an. Ich habe das Ziel, möglichst nah an die original tschechische heranzukommen. Wie schwierig das ist, fiel einem auf, wenn man mit den Kindern sprach. Schon der kleinste phonetische Fehler und die Kinder kicherten. Besonders heikel ist das bei Wörtern wie dívka und děvka. Das eine Wort bezeichnet eine ehrenwerte Frau, das andere eine nicht so ehrenwerte Frau.
Ein Blick aus dem Fenster offenbarte, wo die anderen waren. Die Lehrer waren mit den Kindern beim Frühsport. Sie liefen gemeinsam eine Strecke von einem Kilometer. Bei diesem Wetter ein Himmelfahrtskommando. Sie würden das jeden Morgen machen, sagte Jarda. Wie mir das stets entgehen konnte, blieb fraglich. Ich war froh, dass sie mich nicht gefragt hatten, mitzulaufen. Natürlich hätte ich eingewilligt, schließlich bin ich an der Plhov-Schule der Nachfolger einer außerordentlich sportlichen Freiwilligen aus Deutschland. Da konnte ich nicht jetzt schon schlapp machen. Morgen ist auch noch ein Tag, da werde ich es mal probieren. Jetzt gab es auf jeden Fall erst einmal Frühstück.
Und so gleich jedes Frühstück aufgebaut war, so unterschiedlich war es doch jeden Tag. Mittlerweile hatte ich ein gutes Mischungsverhältnis beim Joghurt gefunden. Wieder nahm ich reichlich von der Erdbeermarmelade. Das machte den kalten, säuerlichen Joghurt genießbar(er). Und schließlich sollte schon bald auch die nächste Tour anstehen. Keine Mammuttour wie tags zuvor, nur eine kleine Ausfahrt. Vom Vortag war mein Bauch noch so voll, dass ich kein zweites Mal losmusste, um Essen zu holen. Wieder gab es diesen Milchkaffee oder was auch immer das war. Bereits der Geruch war kaum auszuhalten. Kein Kaffee für mich an diesem Morgen. Stattdessen ein Glas Milch. Die macht ja angeblich müde Männer munter. Ich kam trotzdem kaum in die Gänge. Einzig und allein die Torschlusspanik jeden Morgen hält mich auf Trab. Täglich begannen um neun die Aktivitäten. Man sollte pünktlich auf der Matte stehen.
Die Ausfahrt würde nicht besonders lange dauern, daher tut es heute auch eine Kleiderschicht weniger, zumal wir nicht mehr wirklich im hohen Teil des Adlergebirges waren, der ja auch nicht gerade sonderlich hoch ist. Den Rucksack konnte ich getrost im Zimmer lassen. Wenn mein Reifen platzt, habe ich eben Pech gehabt. Einen 29-Zoll-Schlauch wird keiner der Anderen dabei haben. Das Getränk passte noch ans Fahrrad und in die Hosentaschen kommen Taschentücher. Diesen Minimalismus galt es erst einmal zu toppen. Beim Betreten der Fahrradhütte fiel mir wieder ein, was ich noch machen wollte. Gestern hatte ich ja Luft aus den Reifen gelassen und die Traktion hatte sich danach auch erheblich verbessert. Was aber blieb, war der geringe Luftdruck, der einen auf der Straße bremst. Zeit war nun keine mehr. Muss ich eben stärker treten. An der Kreuzung fuhren wir diesmal nicht direkt rechts, sondern nach links. Es ging bergab. Nach ungefähr zwei Kilometern hielten dann plötzlich die Kinder vor mir ganz abrupt an. Ich rechnete schon wieder mit einem Scherz seitens der Jungs, doch es war tatsächlich etwas passiert. Der Hinterreifen von Filips Fahrrad war geplatzt. Warum ist es immer der Hinterreifen? Meine Fahrradvergangenheit ist nun auch schon recht lang und jedes Mal war es der nur schwer zu erreichende Hinterreifen. An ein schnelles Ende dieses Schlamassels war nicht zu denken. Deshalb fuhren wir weiter. David kümmerte sich um den defekten Reifen.
Nochmal ging es nach links und nach ein paar hundert Metern bergauf wieder links. Dreimal links ist schließlich rechts, jedoch mit Umweg. In einem kleinen Örtchen kamen wir zum Stehen. Ein Junge hatte Probleme mit seiner Schaltung. Obwohl die meisten Kinder mit Rad und Rat und Tat zur Seite standen, ließ sich das Problem nicht lösen. Ein Innensechskantschlüssel wäre vorhanden gewesen, aber selbst das war nicht des Rätsels Lösung. Die Schaltung des Fahrrads zu reparieren dauerte ewig und blieb erfolglos. Das ist eben der Nachteil bei Fahrradtouren mit größerer Teilnehmerzahl. Es muss nur ein Bauteil kaputt gehen und schon hält man die ganze Gruppe auf. Dafür können die Kinder ja nichts. Nicht jeder hat das neueste Fahrrad. Fahrräder von Scott, Haibike oder Merida waren eher die Ausnahme. Bei der Zuverlässigkeit der anderen Fahrräder hapert es eben ein bisschen. Immerhin fuhr das Fahrrad mit der defekten Schaltung noch. Nach einer halben Stunde ging die Fahrt weiter. Unerwarteterweise auf einem Feldweg. Die Kinder kamen kaum voran. Ich war dagegen wieder in meinem Element. Der Luftdruck war von gestern ja noch niedrig, sodass ich mich mal richtig austoben konnte. Steine, Staub, Straße, hier gab es alles. Das einzige Verschleißteil waren meine Handgelenke. Auch die Reifen und die Federelemente können nicht verhindern, dass die Stöße von meinen Händen mit abgefangen werden müssen. Gestern war die große Fahrradtour mit besagter legendärer Abfahrt durch den Wald. Für den Rest des Körpers war das ja ganz lustig. Adrenalin in allen Arterien, bloß die Handgelenke litten darunter. Erst jetzt, am Folgetag, machten sich die Schmerzen bemerkbar. Jetzt war die Frage, ob ich weiterhin vorderradbetont fahre oder mich aufs Hinterrad verlagere und damit etwas Kontrolle abgebe. Die Handgelenke wollten nicht mehr, daher fuhr ich fortan etwas gediegener.
Bald schon erreichten wir einen Bauernhof. Zwei Hunde und viele Gänse begrüßten uns mit Gebell und Geschnatter. Um wieder zur Straße zu gelangen, mussten wir durch den Garten. Die Straße führte uns in ein Wohngebiet mit einem großartigen Ausblick auf einen dunklen Felsen. Fuhr man die Straße zu Ende, kam man wieder auf die Hauptstraße, die die ganzen Örtchen verband. Wieder waren wir ähnlich weit weg von der Unterkunft wie am Tag zuvor. Straße zu fahren gehört zu den eher unbeliebten Tätigkeiten von mir. Nach einer Weile kamen wir wieder in Rzy an, wo die “neuen“ Kinder schon auf uns warteten. Während das deutsche Schulsystem klar zwischen normalen und verhaltensgestörten Kindern trennt, müssen die tschechischen Schulen und Lehrer mit allen Kindern fertig werden. Im Unterricht gibt es für die besonderen Kinder eine Betreuerin, die den Kindern dabei hilft, im Unterricht mitzukommen. Als normaler Schüler in Deutschland erfährt man nie wirklich etwas von der anderen Seite, man weiß zwar, dass es solche Sonderschulen gibt, allerdings sind diese nicht greifbar für einen. In Tschechien ist die Handhabung etwas anders und so ist man als Lehrer und Freiwilliger gleich mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert.
Für den restlichen Tag waren weitere Tätigkeiten geplant, bei welchen jedoch weiterhin die bisherigen Gruppen beibehalten werden. Mir kann das nur recht sein. Nach all dem Trubel gab es erst einmal Mittagessen. Wieder diese seltsamen Mehlwürste, da schöpfte ich mir lieber mehr vom Salat, der, das muss man wirklich sagen, schmackhaft ist, was erstaunt in einem Land, in dem Gemüse so gut wie keine Rolle in der Ernährung spielt – jedenfalls nicht in der klassischen. Nach dem ausführlichen Mittagessen fiel ich in mein übliches Nachmittagsloch. In dieser Phase ging gar nichts. Ausgerechnet jetzt machten die Mädchen, die im Zimmer neben mir einquartiert wurden, besonders viel Lärm. Wie gut, dass ich Ohrstöpsel eingepackt hatte. Das Zimmer schloss ich vorsichtshalber ab. Man kann ja nie wissen, ob nicht vielleicht auch ungebetene Gäste hereinkommen könnten. Dann die Ohrstöpsel rein und hinlegen. Ich hatte Jarda extra noch gefragt, ob am Nachmittag noch etwas Wichtiges (für mich) stattfinden würde. Er verwies nur auf die Aktivitäten mit den Kindern, sodass ich mich entspannt hinlegen konnte.
Viel zu spät wache ich auf. Aus dem geplanten 40-Minuten-Mittagsschläfchen wurde ein ausgedehntes, zweistündiges Dauerdösen. Trotzdem blieb es ruhig an der Tür. Ich berappelte mich langsam, putzte mir gemütlich die Zähne, las ein Buch und dann gab es auch schon Abendessen. Beim Abendessen fragt mich der ein wenig Deutsch sprechende Petr und eines der Mädchen, ob ich denn geschlafen hätte. Ich rechne erst noch mit Kissenabdrücken in meinem Gesicht, oder meinem trägen Verhalten als Indiz für mein verlängertes Nickerchen. Dann klären die beiden die Sache jedoch für mich auf. Sie hätten beide mit voller Kraft gegen meine Zimmertür gehämmert, um mich über den bevorstehenden Fahrradtrip zu informieren. Als ich ihnen versichere, dass ich tatsächlich nichts gehört hätte, konnten sie das kaum glauben, kamen aus dem Staunen kaum mehr heraus. Was ich jetzt jedenfalls mit Gewissheit sagen konnte, war, dass diese Ohrstöpsel funktionieren. Mein Schlaf ist für gewöhnlich nicht besonders tief. In diesem Fall konnten mich aber nicht mal die energischen Schläge zweier Kinder gegen die Tür aus der Ruhe bringen. Stolz war ich auf diese Leistung keineswegs. Es war eher peinlich, so ein wichtiges Ereignis im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen zu haben. Man könnte damit argumentieren, dass ich über für mich verpflichtende Aktivitäten nicht vorher ausreichend informiert worden bin, aber am Ende bringt jede Diskussion nichts. War eben ein ärgerliches Versäumnis. Immerhin konnten die Lehrer David und Jarda der Sache noch einen gewissen Witz abgewinnen. So fragten sie mich mit schelmischem Grinsen, ob ich denn gut geschlafen hätte. Beschwichtigten dann jedoch gleich und sagen, dass es nur zwanzig Kinder gewesen seien und meine Präsenz sowieso nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Da war ich ja erleichtert und konnte mir das Abendessen schmecken lassen. Es gab typisch tschechische Küche. Rinderbraten in dünnen Scheiben mit Bratensoße und Knödeln.
Nach dem leckeren Abendessen ging ich in mein Zimmer, wo ich es allerdings nicht lange aushielt. Die Mädchen im Zimmer neben mir waren unzumutbar laut. Ich ging wieder zurück in den Speisesaal, wo ich die Lehrer traf. Um neue Lehrmethoden im Fach Mathematik ging es unter anderem. Aber auch über die Problemkinder redete man. Um halb elf verabschiede ich mich aus der Runde und legte mich schlafen. Der Zeitpunkt des Einschlafens war jedoch trotzdem erst gegen Mitternacht. Die Mädchen nebenan haben noch die ganze Nacht Radau gemacht. So hatte ich einen Grund, mich wieder auf meine Wohnung in Náchod zu freuen.