Straßenszenen
Jetzt ist es raus: Johannson bekennt sich zum Warmduschen. Kein Wunder, wenn man seit Tagen mit eiskaltem Wasser vorlieb nehmen muss. Da hilft es auch nicht, gleich mehreren harten Kerlen zu begegnen, die ihm in Sachen Raubeinigkeit ein Vorbild sein könnten.
Es ist Mittwoch, kurz vor Mitternacht, und ich habe immer noch nicht gepackt. Gerade erst habe ich den Bericht über den Working Holiday fertig geschrieben, da sind mir schon wieder neue Eindrücke über den Weg gelaufen.
Leben im Iglu
Alles fing damit an, dass seit Montag unser Warmwasserboiler ausgefallen ist. Das heißt, wir haben jetzt seit drei Tagen keinen Tropfen heißes Wasser mehr. Zum Glück ist es nicht mehr so kalt wie vor einigen Monaten, denn jetzt funktionieren auch unsere Heizungen nicht mehr. Der Klempner hat in so typischer Manier fast die ganze Maschine für kaputt befunden und wartet immer noch auf die Ersatzteile.
Gott sei Dank bin ich ab morgen in London. Die da unten werden sich wahrscheinlich in ihren Klischees bestätigt fühlen, wenn einer aus Durham kommt und ruft „Oh, Ihr habt warmes Wasser!“. Erst dachten wir, das wäre an einem Tag behoben, aber jetzt habe ich schon eine halbe Woche Kaltduschen hinter mir. Oh mein Gott, ist das furchtbar... Und ich muss mich waschen. Wenn ich etwas mehr hasse, als kaltes Wasser über mich zu kippen, dann ist es, mich unsauber zu fühlen. So quäle ich mich jeden Morgen und Abend unter den Duschkopf und versuche nicht zu schreien. Nennt mich wie Ihr wollt, ich stehe dazu: ich will warm duschen.
Dadurch ist im Moment auch unsere Waschmaschine nutzlos. Und das gerade dann, wenn ich für fünf Tage wegfahren will und kaum noch saubere Kleidung habe. Zum Glück hab ich Paul hier, der hat mich zu einem Waschsalon gefahren. Schon wieder etwas zum ersten Mal ausprobieren für mich.
Das war in Horden, einem ärmeren Teil von Peterlee. Die folgende Stunde hat mir einige Einblicke in die Gegend hier gewährt. Zuerst der Salon selbst. Ein mittelgroßer Raum, voll gestopft mit großen, ratternden Maschinen und noch größeren, noch lauteren Heißlufttrocknern. Diese Maschinen allein sahen alles andere als jung aus: zerbeult und jede zweite mit einem „außer Funktion“ Schild. Sie erinnerten mich stark an technische Ausrüstung in der DDR, beziehungsweise in der Zeit kurz nach der Wende, von der ich ja mehr mitgekriegt habe. Außerdem waren die Deckenbalken an manchen Stellen schief; winzige, selbst gemachte Reklameschildchen klebten an den staubigen Wänden, überall fanden sich kleine Notizen (Keine Schecks!) und ein Sunderland-Wimpel. Die Kasse, im hintersten Winkel entdeckt und eindeutig weit vor der Erfindung der ersten Binärschaltung gebaut, mit riesigen Tasten und einer analogen Anzeige. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich so etwas gesehen habe, war in einem Laden in Treuenbrietzen, als ich noch sehr, sehr jung war.
Draußen vor dem Fenster
Die einzige Mitarbeiterin und ein Helfer waren sehr freundlich, haben einen Vertreter für Billigstwaren mit Koffer im Schlepptau aus dem Laden gedrängt und mich mit einem Kaffee und einem Sitzplatz am Schaufenster versorgt, von wo man ein gutes Stück der Hauptstrasse sehen konnte.
Es war gerade Mittagszeit und viele Schulkinder unterwegs, sich Lunch zu kaufen. Allein ihre Kleidung: Abgenutzte, alte Hosen und etwas zu große Pullover, oft gefälschte Markensachen. Diese Sachen, deren Qualität man irgendwie schon an der Farbe erkennt, oft matt und schmuddelig, die Mädchen fast immer in Rosa. Alle mit nur wenig variierenden Standardfrisuren, die Mädchen in der überwältigenden Mehrheit blond, die Jungs schon jetzt oft fast kahl rasiert. Basecaps überall. Wir reden hier immer noch von 8-jährigen. Ab etwa 10 Jahren – und oft für den Rest ihres Lebens – laufen die Mädchen in dieser Art von Britney-Spears-Outfit rum; niemals ohne Minirock, niemals nicht bauchfrei.
Trotz des wahnsinnigen Schönheitsdrucks hier sind fast alle bereits auf dem Weg zum Übergewicht oder abgehungert bis auf die Wangen. Das ist auch kein Wunder, denn sie holen sich ihr Lunch immer, immer aus den billigsten Läden in Schulnähe. Vom Schaufenster aus sehe ich sie in Gruppen an den zugenagelten Geschäften und den schmutzigen, noch offenen vorbeilaufen und in der nächsten Bäckerei für ein Industrie-Sandwich oder im Fish&Chips-Shop für eine Ladung Fett mit Essig verschwinden. Es ist nicht, dass ich Mitleid mit ihnen hätte. Schon in ihrem Alter sind sie hart und arrogant. Was aus ihnen wird?
Während ich wartete, kam ein Mann ins Geschäft, mit der Wäsche seines Rugbyteams. Sein Alter konnte ich schwer schätzen, sein Gesicht war zerfurcht wie einer unserer Äcker nach der Saat. Die Arme voll von Tattoos, auf den Fingern bereits verwaschen, und immer noch mit Haaren so kurz, dass er sofort bei den Marines aufgenommen würde. Nicht, dass er unfreundlich gewesen wäre. Aber ich würde ihm nicht in einer dunklen Strasse begegnen wollen.
Fischers Fritz und weitere harte Kerle
Am Nachmittag war ich mit Paul Schlaglöcher füllen. Wir haben vor dem Haus eines der wenigen uns freundlich gesinnten Menschen hier gearbeitet, einem ehemaligen Fischer, der uns zum Kaffee rein gebeten hat. Ein Mann, dem die Härte aus dem Gesicht spricht, wenn es die Sprache nicht schon selbst tut. Ein Mann mit einem Gewehr. Mit dem er auf Leute schießt, die seine Hummernetze stehlen wollen. Oder auf Leute, die zu lange vor der Baustelle seines Hauses standen. Von der ganzen Region kann er mit Paul Geschichten erzählen, über die ich immer wieder fast hysterisch lachen muss, so unglaublich sind sie. Überhaupt sind die Leute hier eines unser Lieblingsthemen. Aber neben allem Zynismus bleibe auch ich nicht ganz unberührt.
Auf dem Weg von Horden zurück habe ich mich mit Paul über das Bedürfnis unterhalten, bei jeder Gruppe Charver aus dem Landrover zu springen und sie zu einem anderen Gesichtsausdruck zu überreden (zugegeben haben wir es anders formuliert) oder ihnen zumindest etwas mehr Sprache als „O! A! Fuck!“ beizubringen. Die Strassen sind voll mit ihnen. Wir haben auf einem Spielplatz gehalten, auf dem grad ein Kletterfelsen gebaut wird (wenn er nicht geklaut wird). Selbst in den fünf Minuten, die wir uns dort mit den Bauarbeitern unterhalten haben, kam eine neue Gruppe aufgestylter 10-jähriger Mädchen vorbei, in dem, was wir die Peterlee-Uniform nennen. Sie werden nie erwachsen, sie werden sich nicht ändern. Ich sehe ihre Eltern und ich sehe ihre Großeltern. Und die haben selbst so wenig das Anrecht auf dieses Attribut wie sonst fast jeder, den ich getroffen habe. Ich wusste, dass dieses Milieu hier existiert, habe es erwartet, wollte es ja auch sehen und habe mich schon gewundert, es so lange nicht gefunden zu haben. Gestern konnte ich es ganz plötzlich massiert beobachten. Nicht, dass ich sentimental genug für so etwas Einseitiges wie Mitleid wäre, oder dass es mich zu so etwas Diffusem wie „Nachdenken“ brächte. Aber es verfehlt zumindest seinen Eindruck nicht.
Wie soll jemand hier aufwachsen, ohne selbst ein Charver oder in den Wahnsinn gemobbt zu werden? Vor allem, wenn er fremd oder anders ist. Asia will mit ihren Kindern nach Easington ziehen. Was mir Angst macht ist, dass so etwas mit einem netten, aufgeweckten Mädchen wie Madzia passieren könnte.
(Nein Rebekka, hab keine Angst, die Leute hier verdienen immer noch ihren Ruf als das Salz der Erde.)