Stadtluft macht frei!?
Ein Artikel über die Beobachtung des urbanen Lebens in einer Großstadt wie London - und die gesellschaftlichen Folgen des Wandels hin zu dem Leben in Städten.
Urbanes Leben ist etwas Wunderbares. Es steht für Nähe zu Freunden, Arbeitsstelle und Einkaufsmöglichkeiten. Kinos, Restaurants und Fitnesscenter befinden sich in unmittelbarere Nähe. Museen, Universitäten, Bibliotheken und Opernhäusern sind bequem zu erreichen – ein Leben in der Stadt kann niveauvolle Unterhaltung, kulinarische Genüssen und eine Abwechslung bieten, wie sie in einem Leben auf dem Dorf nicht zu finden ist.
Urbanität bedeutete für uns lange Zeit Progression, Fortschritt, Wachstum und Freiheit. Ein Vasalle war beispielsweise von seinem Lehnherren befreit, wenn er es schaffte, sich für eine längere Zeit in einer Stadt aufzuhalten. Noch heute begleitet uns dieser Gedanke mit dem Sprichwort: „Stadtluft macht frei.“ Diese Reize spielen Städte auch heute noch aus; in den aufstrebenden Staaten wie Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (die sogennanten BRCIS-Staaten) entstehen Megastädte, nicht selten mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Dominiert von Wolkenkratzern strahlen diese Städte heute die beschriebenen positiv konnotierten Attribute aus. Dem gegenüber stehen hunderttausende Wellbechhütten in Slums, die gewissermaßen eine schützende, gürtelartige Subkultur zum Hinterland darstellen. London hat zwar keine Slums, aber in einigen (nordöstlich) gelegenen Stadtteilen – wie beispielsweise Tottenham – brodelt es. Soziale Brennpunkte, Sozialbauten und eine hohe Arbeitslosigkeit prägen diese Viertel. Wer als Arbeitsmigrant in den BRICS-Staaten in die Megametropolen zieht, erhofft sich die Freiheit, die schon den Vasallen im Mittelalter versprochen wurde. Sie streben nach Arbeit, Wohlstand, Bildung und Anerkennung. Kann eine Stadt diese Versprechen einlösen? Fragen wir doch mal ihre Bewohner.
Wer in London – am besten zur Rushhour – sich im Banken- und Börsenviertel aufhält, Tube fährt oder Einkaufen geht, gewinnt einen anderen Eindruck. Leere Gesichter, geprägt von tiefen Furchen, Tränensäcken und Augenringen.
Der Arbeiter von heute muss nicht mehr am Fließband schuften oder gar in einem Tagebau oder einer Mine arbeiten – das erledigen andere, irgendwo, in der Anonymität der Globalisierung. Nein, der Arbeiter von heute wohnt in einem schicken Hochhaus – ohne seine Nachbarn zu kennen-, Glaswände schützen ihn vor der unbekannten Welt da draußen, er verfügt über iPad und iPhone, eine Gold-Card seiner Fluggesellschaft. So kann er schnell fliehen, seine Ruhe- und Rastlosigkeit ist Ausdruck des Zwanges, in dem er sich befinden muss. Ist das Freiheit? Kann die Anonymität der Großstadt als Freiheit definiert werden? Das Desinteresse? Die Unverbindlichkeit? Ist das Fehlen einer guten Nachbarschaft, wie unsere Großeltern sie noch in ihrer Straße oder in ihrem Dorf gepflegt haben, eine Freiheit von Verantwortung? Eine Freiheit von Solidarität?
Wir müssen uns die Frage stellen, ob in dieser Anonymität, in diesem organisierten Leben, noch Revolutionen möglich wären. Egal ob Paris (1789), Berlin (1918) oder Leipzig (1989), immer wieder gingen große politische Bewegungen von Großstädten aus. Der Zusammenschluss von Menschen in einer Stadt, das Solidarisieren mit Fremden zur Abwehr eines Einflusses von Außen schafft Freiheit - die Freiheit, dass eigene Schicksal zu steuern. Der Mensch ist nicht dazu verdammt, die gesellschaftlichen Umstände, in denen er lebt, zu akzeptieren. Wir haben die Freiheit, unsere Umstände, in denen wir leben wollen, selbst zu bestimmen. Ein liberales Lebensgefühl kann sich im 21. Jahrhundert nur dann einstellen, wenn wir es schaffen, trotz kultureller Grenzen in einer Metropole und trotz großer Einkommens- und Bildungsdifferenzen, ein gemeinschaftliches Gefühl zu entwickeln. Dann – und nur dann – kann es uns auch in den Städten gelingen, gesellschaftliche Brücken zu schlagen und dann kann auch Stadtluft Freiheit verschaffen.