Stadtansichten
Morgenstund hat Fit im Mund
Morgenstund hat Fit im Mund
Dadurch bin ich am nächsten Tag erst um elf aus dem Bett gestolpert. Macht ja nichts. Es ist gut, nicht mehr nur das Wochenende für die Stadt zu haben und am Sonntag wieder abfahren zu müssen. Wenn ich eine Kirche nicht schaffe, gehe ich eben morgen nach der Arbeit hin. Darum nehme ich mir jetzt auch die Zeit, erst einmal bei den depressiven Polomarket-Kassiererinnen einzukaufen, denn in unserem inzwischen eingeschalteten Kühlschrank der Marke Gefriercontainer (und dem Geräuschpegel eines Rasenmähers im Flur) herrscht gähnende Leere. Manchmal, wenn ich zu spät zurück komme und die Geschäfte zu haben, besteht meine Tagesmahlzeit daher aus einer Tomate und Stachelbeeren. Was mir bestimmt nicht schadet. Nach dem Essen jedenfalls nehme ich die Küche mit dem Wischmop ins Visier und gehe anschließend dem Bad mit einer tödlichen Mischung aus Fit und Kalkreiniger ans Leder. Ordnung muss sein.
Randfiguren
Und dann geht es in die Stadt. Es stimmt, dass es hier mehr Armut gibt. Häufig sieht man Leute im Vorbeigehen einen Blick in Mülleimer werfen und inzwischen kenne ich schon die Bettler an den lukrativsten Orten der Stadt. Die Mutter und ihre kleine Tochter vor der Heiliggeistkirche, den Mann mit der kleinen Katze. Das Mädchen das neben dem Eisladen kniet, dem ich nichts gebe aber dann auch doch lieber noch kein Eis kaufe. Die vielen Kinder, Frauen und Männer, welche mit den verwaschenen Fotos ihrer Familienangehörigen die Cafes und Bars abklappern.
Dann läuft man durch die ul. Szeroka, die Hauptstraße, zum Marktplatz mit ihren pitoresk restaurierten alten Häusern und Geschäften, über die die Tüten von Puma und Orange fliegen. Am Rand stehen dazu Schüler mit Geigen und Hippies mit Gitarren. Man spielt Strauß. Wie in so vielen Orten, die dem eisernen Vorhang entstiegen sind, habe ich das Gefühl, dass man so schnell wie möglich in die Zwanziger Jahre zurück will.
Kirchenasyl
Mich zieht es für die nächsten drei Stunden in das ursprünglich gotische Rathaus mit genug Fenstern für jeden Tag und Räumen für jede Woche im Jahr und vor dem Kopernikus von seinem Sockel blickt. Eins muss ich eingestehen, mit der Backsteingotik werde ich mich so schnell nicht anfreunden. So farblos und dick...was habe ich in Spanien dagegen Älteres und Eleganteres der Mauren gesehen. Und so wirklich beeindruckend finde ich das Rathaus auch nicht. Die Räume zu leer, die Bilder der Ratsherren wie Karikaturen. Allein die Hallen im Erdgeschoss sind gefüllt mit Fundstücken, Kirchengütern und Alltagsgegenständen. Vom Turm dagegen hat man eine sehr schöne Sicht, über die Weichselbrücken und den Fluss, die Altstadt und meine Wohnung.
Genug davon. Jetzt möchte ich in eine Kirche, da ist es ruhig, kühl und man kann sitzen. Die wichtigste hier ist die St. Johannis’ Kathedrale. Doch nein, eins habe ich vergessen: Samstags sind die Kirchen in Polen Tretminen voller Glück und Liebe. Überall wird geheiratet, nirgends ist man vor expressiver Zweisamkeit sicher. Furchtbar! Außerdem sind die Kirchen zu. Alle bis auf eine, St. Marien, bloß schnell rein hier. Wie ich hier zum ersten Mal sehe, sind die Gotteshäuser in Torun bemerkenswert gut ausgestattet, da die Stadt im Krieg für polnische Verhältnisse unbeschädigt blieb. Neben dem eleganten Hauptaltar mit seiner Krone auf Säulen gefällt mir besonders die Fülle und Qualität der Wand- sowie Holzmalereien.
Wie man in Polen Verständigungsprobleme löst
Damit ist mein Programm für heute eigentlich schon erledigt. Ewa, Inhaberin und zukünftige Mitbewohnerin meiner/ihrer Wohnung ist auf einem Trainingskurs und wollte vielleicht heute zurückkommen, um einige wichtige Dinge abzuholen. Problem: Nur ich habe einen Schlüssel und mein Handy hat durch die vielen Geburtstagsgrüße kein Guthaben mehr, so dass wir uns nicht absprechen können, wann ich zu Hause sein soll. Was tun? Ich wollte mir sowieso ein polnisches Telefon kaufen, also rein in den nächsten Orange Laden. Pre-paid Handys ab 230 Zlotych... nicht so schön. Man rät mir, ins Servicegeschäft im Eckkeller nebenan zu gehen, um nur meine SIM-Karte zu tauschen. Doch das hat zu und ich muss unbedingt eine Nachricht verschicken. Also zurück in den Laden: Ich brauch das Telefon! „Ach, Du musst nur eine Nachricht verschicken? Komm, dann benutz doch einfach mein Konto auf der Firmenwebseite! Bezahlen? Nein, brauchst Du nicht.“ Der freundliche Verkäufer mit dem imperfekten Englisch hätte 230 Zlotych verdienen können.
Amateure
Für alle Fälle bin ich um sieben zu Hause. Es kommt zwar niemand, aber jetzt ist es ohnehin Zeit für das Spiel gegen Portugal. Ja gut äh, eins ist völlig klar: von Fußball hat dieses Volk überhaupt gar keine Ahnung. Wann immer man in eine Kneipe geht, um sich ein Spiel anzusehen kann man sicher sein, dass die Polen die falsche Mannschaft unterstützen. So natürlich auch im Halbfinale gegen Italien – ein Tor in den letzten Sekunden und ein Jubelschrei explodiert um mich herum. Nur Dominik drückt sein Mitgefühl aus. Aber damit nicht genug. Ein paar Tage später sitze ich zufrieden in einer der schwimmenden Schiffskneipen auf der Weichsel und keinen interessiert das kleine Endspiel so wirklich. Nur ein kleiner Junge ist auf meiner Seite. Erst der Ehrentreffer der Portugiesen löst frenetischen Jubel aus: dieses Volk kümmert sich kein Stück um seine Stürmer. Noch nie hatte ich so das Bedürfnis, selbst eine Fahne zu schwenken.
Und um sich selbst endgültig zu degradieren, wem drückt man im Finale die Daumen? Italien! Dieses Land von dem jeder rechtschaffene Mensch hoffen muss, dass es mit 10:0 bestraft wird! Was seit 2000 Jahren nichts auf die Reihe bekommt! Italien. Ein Land, das auf Polnisch so klingt, als nieste ein Hirsch in einem Abwasserkanal: „Wu-oche“. Das ist nicht mal mehr nur eine Frage des Geschmacks sondern ganz einfach des Anstands. Und mit welcher fachlichen Qualifikation tun sie das? Worin bitte ist Polen sportlich so halbwegs erfolgreich? Eishockey und Skispringen. Möge die Hand Gottes sie strafen!