Spaziergang ins Konzentrationslager
Als FelixK einige Tage im polnischen Ort Oswiecim – Auschwitz – verbringt, liegt es nahe, auch das Lager Birkenau zu besuchen. Doch statt auf festgelegten Wegen, nähert er sich diesem Ort des Schreckens auf recht ungewöhnliche Art und Weise.
Im Februar dieses Jahres habe ich eine Studienfahrt ins polnische Oswiecim (Auschwitz) unternommen, auf der ich an einem Abend folgendes erlebt habe:
Ich gehe los, um noch etwas zum Thema "Auschwitz" zu erleben. Kein Ziel scheint mir passender als das Lager "Birkenau". Ob ich es erreiche, weiß ich nicht. Davon hängt es auch nicht ab. Zuerst weiß ich die Richtung, doch wenig später habe ich keine Ahnung mehr, ob die Richtung, in die ich gehe der entspricht, in der sich das Lager befindet. Alles um mich herum ist mir fremd: primitive alte Bauten, eine andere Sprache und arktische Temperaturen sind mir ungewohnt.
Bald zieht es mich in eine bestimmte Richtung. Die Straße, auf der ich laufe, schlängelt sich eine große Brücke hinauf. Bevor ich jedoch oben ankomme, bemerke ich ein altes gebrechliches Ehepaar, dass meine Anwesenheit offensichtlich beunruhigt. Die Dame dreht sich immer wieder um und spricht zu ihrem Mann, dem sie dabei nervös am Arm zieht. Ich will das nicht; würde gern rufen, dass ich friedvoll bin. Weiß aber, dass sie mich nicht verstehen würden. Und die Erkenntnis, dass es sich bei mir um einen Ausländer handelt, hätte sie, wie man es von Vorurteilen kennt, noch mehr beunruhigt. Ich gehe ihnen weiter hinterher. Es tut mir Leid, doch sie brauchen keine Angst zu haben, denn ihnen wird nichts passieren. Sie bringen all ihren Mut auf und bleiben stehen, während ich an ihnen vorbeigehe und ihre Erleichterung fühlen kann.
Ich verlasse die Ortschaft und es wird dunkel um mich herum. In einiger Entfernung erkenne ich vor mir ein großes Verkehrszeichen unter einer Laterne schwach aus der Finsternis herausragen. Ich beschließe umzukehren, falls ich dort keinen Hinweis auf das Lager "Birkenau" finde. Vorsichtigen Schrittes mit gesenktem Blick laufe ich weiter, um auf dem schwarzen Eis nicht zu stürzen. Als ich nach einiger Zeit aufblicke, treibt mir mein Anblick einen eisigen Schauer über den Rücken. Ich erstarre vor der Front des riesigen Lagers, dem ich in diesem Moment bereits ganz nahe bin.
Im Zentrum meines Blickes ragt der Wachturm gen Himmel. Auf ihn zu verlaufen die Schienen, auf denen ich stehe. Ich will begreifen, was das alles um mich herum zu bedeuten hat, und stiefle durch den tiefen Schnee, über die Schwellen, dem Lager entgegen. Ich komme ihm näher – aber nicht unerbittlich, denn ich bin frei. Ich entscheide, wohin ich gehe, wann ich anhalte, um inne zu halten. Ein Privileg, dass mich von den Menschen unterscheidet, die in Viehwaggons deportiert, unaufhaltsam ins Lager hineingepresst wurden.
Ich komme an. Stehe nun vor dem Tor und gehe hindurch, mit einem unbekannten Gefühl im Bauch. In meinen Gedanken ist das Lager bevölkert: Menschen werden umher getrieben, geschlagen und schreien. Ich bin gefesselt, aber beunruhigt. Ich will das nicht und gehe bald wieder hinaus. Ich bin so frei, einfach wieder zu gehen. Und realisiere das als tiefes Glück, dass leider keine Selbstverständlichkeit ist auf dieser Welt.
Voller Ehrfurcht vor den Opfern blicke ich auf das Gebäude, drehe mich um und gehe fort. Mal vorwärts, mal rückwärts. Mein Blick starrt immer wieder auf den Bahneingang. Für über eine Millionen Menschen blieb es die Sackgasse, die an das Ende ihres Lebens führte. Ich renne davon. Laufe einfach weg...
Langsamer werde ich erst, als mir meine Mutter mit einem Anruf signalisiert, dass sie an mich denkt. Vor 60 Jahren hätten das sicher auch viele Mütter getan... vergebens, denn ihre Kinder waren bereits tot oder sicher dem Tode geweiht.
Mit einem letzten Blick verabschiede ich mich vom Lager. Ich will das hinter mir lassen. Ich weiß, wir müssen wissen, was es zu lernen gilt.
Ich fange wieder an zu laufen. Alles ist wieder wie auf dem Hinweg, nur dass ich die Temperatur nicht mehr einschätzen kann, man keine Sprache braucht, um würdig miteinander umzugehen. Und primitive alte Bauten auch etwas Feines sein können, wenn man darin frei und in Würde leben kann.