Schafmist und Schneekugeln
Heute Abend geht es los. Nach einer wahren Freiwilligendienst-Odyssee kann dasfraeuleintanzt endlich ihren EVS im nordirischen Belfast antreten. Der Koffer ist voll, der Kopf auch. Die Gedanken vor der Abreise. Über elterliche "Loslassliebe", Schafmist und Vorurteile.
„Du brauchst noch dringend Tabletten gegen Kopfweh und Nasenspray und neue Zahncreme, Reisewaschmittel wär auch nicht schlecht. Hast du Aspirin dabei?“ Mama ist aufgeregt. Für sie beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Heute Abend fliege ich nach Nordirland. Für mich irgendwie auch. Nur ist das noch nicht bei mir angekommen. Ich bin Annkathrin, 18, in diesem Frühjahr habe ich mein Abitur gemacht. Jetzt werde ich für ein Jahr in der nordirischen Hauptstadt Belfast einen EVS, einen European Voluntary Service, leisten.
Wenn ich an das Jahr, das vor mir liegt, denke, ist das ein bisschen so, als würde ich eine Schneekugel schütteln. Ich sehe mich inmitten sattgrüner Berge in Schafscheiße treten, während mir rothaarige Rauschebärte in rot-karierten Baumwollhemden und Barbour-Jacke die Pranke auf die Schulter hauen und dabei mit einer von durchzechten Pubnächten gefräßten Stimme „Let`s have some whiskey!“ röhren.
Ganz ehrlich: Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was mich erwartet. Deshalb hangele ich mich vielleicht auch noch von Klischee zu Klischee. Je stärker ich meine Kugel schüttele, desto trüber wird das Bild vom herabfallenden Schnee. Oder in meinem (irischen) Fall: Regen.
Während meine Mutter also ihre „Packvorschläge“ runterrattert als würde ich im nächsten Jahr nicht drei, sondern zwölf Flugstunden entfernt leben, nicke ich nur lethargisch. Es ist eben doch nur Nordirland. Nicht Afrika. Nicht Lateinamerika. Nicht mal Australien. Und das ist vielleicht auch der Grund für mein (nichtvorhandenes?) Gefühlsdurcheinander.
Eigentlich war das anders geplant. Schon in der elften Klasse stand fest: Ich will einen Freiwilligendienst im Ausland leisten. Lateinamerika hat mich interessiert, eine neue Sprache lernen, exotische Natur, andere Kulturen. Meine Eltern waren skeptisch, besorgt. Versteht mich nicht falsch, ich durfte als Kind im Matsch spielen, Regenwurmsuppe kochen und meinen Koffer kann und werde ich schließlich auch alleine packen, aber ich glaube das ist einfach so eine Art elterliche „Loslassliebe“ – und darüber bin ich eigentlich auch froh.
Eigentlich. Zuerst war ich ziemlich sauer. Aber anstatt mich durchzusetzen, habe ich mich nach Alternativen in Europa umgesehen. Und vielleicht kamen mir die Bedenken meiner Eltern gerade recht, um mir meine persönlichen Zweifel nicht eingestehen zu müssen. Der Europäische Freiwilligendienst oder auch EVS erschien als Alternative. Die EU ermöglicht allen Euopäern*innen zwischen 17 und 30 Jahren ein Jahr freiwillig in sozialen Projekten im europäischen Ausland zu verbringen. Zwar übernimmt die EU einen großen Teil des finanziellen Aufwands und Spenden muss auch niemand aufbringen, allerdings wird von den Freiwilligen auch viel Eigeninitiative verlangt: Eine Entsendeorganisation im Heimatland und unter tausenden von Möglichkeiten ein Aufnahmeprojekt finden.
Mit der AWO Stuttgart habe ich schnell und unkompliziert eine super Entsendeorganisation gefunden. Und auch die Suche nach einem Aufnahmeprojekt gestaltete sich –wider Erwarten- leicht. „Dreißig bis vierzig Bewerbungen sind realistisch“, so noch die „Drohung“ auf dem Infoabend. Ich habe mich für vier Projekte beworben, sozusagen zum Warmlaufen – und wurde genommen. Wenn der Weg zu meinem Freiwilligendienst sonst auch noch lang werden würde, das war pures Glück. Völlig unvoreingenommen hatte ich nach Projekten gesucht. Mein Motto: „Projekt vor Land.“ Jetzt hatte mir mein absoluter Favorit, der „Belfast and Lisburn Women´s Aid“ in der nordirischen Haupstadt, tatsächlich einen EVS-Platz angeboten. Viel Zeit zu überlegen bleibt mir nicht. Weihnachten 2014 sage ich zu.
Kennt ihr das? Sobald man sich einer Sache sehr sicher ist, beginnt man zu zweifeln. Hätte ich nicht doch aus Europa raus sollen? Ist das Projekt richtig? Zwischen Zusage und Abflug standen deshalb schlaflose, verzweifelte Nächte, eine Bewerbung um einen Platz in Südafrika, eine ängstliche Absage eines Angebots in Indien und gefühlt tausend Gespräche mit meinen Eltern. Dann, zwei Monate vor der geplanten Irland-Ausreise, die Nachricht, dass die EU das Projekt zum ersten Mal noch nicht finanziell bewilligt hat. Meine Zukunft, eingequetscht zwischen Aktenordner, gefangen im europäischen Bürokratiestau. Weltuntergangsstimmung. Das Ausreiseseminar muss ich trotzdem besuchen, obwohl nicht mal sicher ist, ob ich überhaupt ausreise.
Der 27. Juli 2015. 18.03 Uhr. Genau zwei neue Mails sind in meinem Posteingang. Eine teilt mir mit, dass aus dem erhofften Platz in Südafrika nichts wird, die andere, dass die EU das nordirische Projekt bewilligt hat. Ich glaube normalerweise nicht ans Schicksal…
Trotzdem plagen mich auch noch eine Woche vor dem Abflug Zweifel. Und während meine Mutter die Packliste ständig erweitert, zweifle ich, ob man zweifeln darf, wenn man sich entschließt für ein Jahr wegzugehen. Aber dann schreibt mir Tereza eine Mail. Die Tschechin wird gemeinsam mit drei anderen Freiwilligen, die aus ganz Europa kommen, meine Mitbewohnerin im nächsten Jahr sein. In Belfast gibt es eine große EVS-Community. „Alleine, ist man hier nie“, schreibt sie. Und auch Lois, die Koordinatorin des Frauenhauses, in dem ich arbeiten werde, meldet sich und gibt mir einen genaueren Überblick über meine Aufgaben. Ich werde hauptsächlich die Kinder der Frauen im Haus betreuen, aber auch mit Jugendgruppen arbeiten und eventuell Workshops für die Frauen geben.
Ich glaube, ich bin glücklich. Das ist in der Flüchtlingsfrage nicht anders als bei meinem Freiwilligendienst: Je weniger man weiß, desto mehr Vorurteile hat man, mehr Ängste. Ich habe schon auf dem Weg zu meinem EVS viel gelernt. Über Mut und darüber, dass es manchmal gut ist sich durchzusetzen und dass es den einen, den perfekten Weg nicht gibt. Abzweigungen bereichern. Meine irische Schneekugel ist schon jetzt nicht mehr so trüb wie am Anfang. Und ich hoffe, das Wetter bessert sich noch.
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