Same procedure as every day, please!
Über kleine und große Rituale im Camphill Alltag
Eine Frage die mir in letzter Zeit sehr häufig gestellt wird ist: "Was macht ihr denn da den ganzen Tag mit den Residents?". Meine Antwort in der Regel: "Nicht viel...". Was auf den ersten Blick vielleicht etwas sonderbar, unmotiviert und langweilig klingen mag, hat meiner Meinung nach aber durchaus seine Berechtigung. Viele der Residents, und bei weitem nicht nur jene mit einer Diagnose im autistischen Spektrum, klammern sehr an Routinen und können mit unerwarteten Geschehnissen nur schwer umgehen. Das fängt schon bei ganz einfachen Entscheidungen, wie der Wahl des Brotaufstrichs an, welche für die meisten Menschen kaum Überlegung erfordern, bei diesen Menschen aber einfach etwas mehr Zeit benötigen und wenn der Lieblingsbetreuer nicht da ist, oder jemand auf einem "falschen" Stuhl sitzt kann das ganz schnell zur Katastrophe ausarten. Mit dem Ziel vor Augen allen Residents ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich wohl und sicher fühlen und entfalten können, sind Rituale und tägliche Routinen unablässig. Über ein paar davon, welche ich alltäglich miterlebe, möchte ich im Folgenden einen Überblick geben.
Generell haben die meisten Residents relativ gleichbleibende tägliche und wöchentliche Abläufe, wobei dies bei manchen eine weniger große Rolle spielt als bei anderen. Für diejenigen, die wirklich sehr von solchen festen Strukturen abhängig sind, sind die die Aktivitäten in einer Art "Tagesplan" ganz kleinschrittig festgelegt und nicht selten werden diese Pläne wiederholt runtergerasselt, beziehungsweise vorgelesen. Zusätzlich werden für manche Residents Klett-Pläne verwendet mit drei Kategorien: "Now", "Then" und "Done". Die einzelnen Aktivitäten (Beispielsweise Zähneputzen, Frühstücken, Spaziergang,...) werden dabei durch kleine laminierte Kärtchen mit Schrift und Bildern verdeutlicht, welche ständig ausgetauscht und aktualisiert werden. Wenn die betreffende Person dann in einen Zustand der Unsicherheit und Überforderung kommt, hilft die Fokussierung darauf was man "now", also im Moment macht und "then", also danach machen wird, die Situation zu deeskalieren. In den meisten Fällen lassen sich schlechte Stimmungen und Ausraster sowieso immer damit erklären, dass irgendetwas nicht so ist wie gewohnt oder erwartet. Das muss zwar nicht zwingend die Schuld der/des Betreuers*in sein, aber es ist dennoch gut sich bewusst zu sein, dass auch sehr kleine, für mich völlig irrelevante Handlungen, eine andere Person völlig aus dem Gleichgewicht bringen können.
Der Morgen beginnt für die meisten Residents in diesem Sinne auch immer zu den gleichen Zeiten und sogar das Frischmachen und Anziehen ist, egal ob mit mehr oder weniger Unterstützung von Freiwilligen und Angestellten, irgendwie ritualisiert. Weil dies hier keine konventionelle Behinderteneinrichtung, sondern eine Camphill Community ist, begegneten man kleinen Gebeten, Psalmen und viiiielen Kerzen an allen Ecken und Enden. Beispielsweise werden in manchen Häusern zum "morning circle" im Schein einer Durftkerze ein tagesabhängiger Spruch aus einem Büchlein verlesen und alle Mahlzeiten starten sowieso mit einem Segensspruch. Das darf man an dieser Stelle allerdings nicht falsch verstehen, die hier gebeteten "Gebete" haben selten einen rein christlichen Bezug, sondern sind vielmehr Lobpreis und Ausdruck der Dankbarkeit, beispielsweise gegenüber der Natur. Nicht nur stellen sie damit gerade vor den Mahlzeiten einen Moment des gemeinsamen Innehaltens dar, der den Residents die Möglichkeit gibt sich mental auf das Essen vorzubereiten, sondern enthalten in der Regel auch immer einen Hinweis auf die jeweilige Tageszeit, der es den Residents erleichtert, sich im Tagesablauf zu orientieren. Ich habe mal eines der häufigsten "Tischgebete" abfotografiert und stelle das Bild in die Galerie.
Im Haushalt hat eigentlich jeder der Residents eine feste und regelmäßige Aufgabe, die er sich auch meist nur schwer abnehmen lässt. So ist de eine für das Geschirrspülen zuständig, während eine andere später alles abtrocknet und in die Schränke sortiert, es gibt immer jemanden, der extra für das Entzünden oder Löschen der Kerzen bestellt ist und sogar wer beispielsweise das Tischgebet beginnt (sei es verbal oder durch eine Geste) ist genau festgelegt. Unter der Woche arbeiten viele der Residents vormittags oder Nachmittags in einem der zahlreichen "Workshops" und der Rest des Tages wird häufig mit Spaziergängen, Spielen und Basteln, Ausruhphasen, besonderen Aktivitäten und vielen Teepausen verbracht. Sogar das Essensmenü ist häufig jede Woche zumindest ähnlich. Besonders auf das freitägliche Mittagessen freuen sich daher viele Residents, denn da gibt es traditionell immer Fish & Chips ;)
Genauso gibt es für viele "besondere" Aktivitäten eine genaue Zeit. Dienstags könnte beispielsweise Karaokenacht sein, Mittwochs wird Yoga gemacht, Donnerstag ist der Spa-Abend und Freitags werden die Sofas für eine "Movienight" verrückt. Viele der Residensts bekommen auch regelmäßig Anrufe von ihren Familien und erzählen einem dann schon Tage im voraus, dass am Sonntagabend wieder der Bruder oder die Mutter anrufen wird, wie eben jeden Sonntagabend.
Einen wichtigen Teil des Camphill Lebens stellt natürlich auch die Feier verschiedenster Feste im Jahreskreis und der Jahreszeiten an sich dar. Neben vielen großen und kleinen Feiertagen mit ihren ganz eigenen Traditionen und Bräuchen spielen dabei auch seasonelle Dekorationen in Haus und Graten eine wichtige Rolle. Ähnlich wie die auf die entsprechende Tageszeit bezogenen Tischgebete, geben solche Dekorationen eine Orientierung im Jahresveraluf und machen den Wechsel des Wetters und der Vegetation bewusst. Erst letzte Woche wurde hier beispielsweise ein Feiertag namens "Candlemass" (entsprechend dem deutschen Maria Lichtmess) gefeiert, bei dem besondere Kerzen in die Erde "gepflanzt" wurden, was symbolisch für das aus der Erde kommende Licht und den herannahenden Frühling steht. Ich habe mir erklären lassen, dass viele dieser Bräuche ihren Ursprung in keltischen Traditionen haben und in einer Zeit entstanden, in denen die Menschen wenig Wissen über die Länge von Tagen, Monaten und Jahren hatten. Solche "Festtage" waren dann hauptsächlich ein Mittel der Druiden und anderen Weisen, ihren Mitmenschen ein Gefühl für die Jahreszeiten zu geben und beispielsweise in den langen dunklen Wintern Hoffnung auf ein baldiges Herrannahen einer wärmeren Phase zu geben.
Auch wenn die meisten hier ankommenden Freiwilligen zu Beginn häufig den starken Drang verspüren, den Alltag ein bisschen aufzumischen und mehr und ganz neue Aktivitäten einzubinden, wird allen doch sehr schnell bewusst, dass man mit solchen Visonen etwas gemächlich vorgehen muss. Ich würde sagen, dass wir uns alle schon sehr gut an unsere "gechillten" Arbeitstage gewöhnt haben, unser Bewusstsein dafür geweitet haben, wie wir den Residents Sicherheit geben oder nehmen können und vor so mancher gemeinsamen Mahlzeit in Causeway ist ganz automatisch ein "May the meal be blessed" zu hören...
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