Reisen gegen die Zeit
"Zack! Schon wieder ein Wochenende rum. Schon wieder eine Woche näher an der Tristesse. Und alles, was ich machen kann, ist die Zeit zu strecken, so gut es geht. Soviel hinein zu packen, dass sie aufquillt und als zähflüssiger Brei nur noch langsam dahin kriechen kann. So bin ich also wieder nach Edinburgh gefahren."
Zack! Schon wieder ein Wochenende rum. Schon wieder eine Woche näher an der Tristesse. Und alles, was ich machen kann, ist die Zeit zu strecken, so gut es geht. Soviel hinein zu packen, dass sie aufquillt und als zähflüssiger Brei nur noch langsam dahin kriechen kann. So bin ich also wieder nach Edinburgh gefahren.
Schönheit
Los bin ich am Freitag, ziemlich spät sogar, aber das war nicht schlimm, da wir ohnehin viel zu tun hatten und ich nicht viel eher hätte wegkommen können. Ohnehin, was ist die Farm zurzeit für ein Paradies! Man möchte es kaum verlassen. Wir haben einen Zaun gebaut, anstrengende Arbeit, aber ich hätte nichts anderes machen wollen. Die Natur dieser Tätigkeit ist in ihrer unkomplizierten Rohheit an sich schon sehr befriedigend. Aber an diesem Tag zählte das wo vielleicht noch mehr als das was: Ein perfekter Sommertag, mit einer Handvoll Schönwetterwolken am Himmel. Und die Sonne wirft solche Farben in das Land, dass es nach den grauen Regentagen kaum zu glauben ist. Da sind unsere Felder, links und rechts, grün und bunt von Wiesen und Wildblumen, mit den gescheckten Punkten der Kühe. Vor allem aber das Panorama unter mir ist unglaublich. Wie es weit und flach und tiefblau von einem Ende des Horizonts zum anderen liegt. Ich arbeite über dem Meer, umgeben von wunderschöner Landschaft, und ich schwitze unter der Sonne und werde dreckig vom Staub. Ich glaub, ich bin sogar etwas braun geworden. Auch, wenn das meiste beim Waschen nach der Arbeit schmutziggrau in den Ausguss fließt, das kann nicht alles nur Dreck sein.
Auf den Trainings haben sie uns gesagt, EVS wäre kein bezahlter Urlaub. Aber sie lügen oder haben die White Lea Farm noch nicht im Sommer gesehen.
Nach der Arbeit das Vergnügen
Ich hab meinen Job ziemlich gut gemacht und bin schon um drei verschwunden. Hey, was war ich stolz, dass ich einen Pfahl mit bloßen Händen aus der Erde gekriegt hab, an dem sogar Paul verzweifelt war und für den er gerade den Traktor holte.
Angekommen in einem Durham von seiner besten Seite wollte ich gucken, ob ich mein Ticket vielleicht auf einen früheren Zug umbuchen könnte, da Claudia diesen Tag noch frei hatte, das Wochenende aber arbeiten musste. Leider ging das nur für siebzehn Pfund, sodass ich mich entschied, lieber fünf Pfund in einem Café auszugeben und dort die zwei Stunden bis zur Abfahrt rumzukriegen.
Schöne Aussichten
Die Reise nach Schottland war wieder wundervoll. Die Bahn hat da dieses Poster „Die Aussicht ist umsonst“, und dieses eine Mal sagt die Werbung nichts als die Wahrheit. Mit der Bahnlinie direkt an den Stränden entlang fährt man durch alles, was ihr schon gelesen habt, und noch mehr. Weite Felder in allen genannten Farben, gelber Raps und Gorsbüsche, alte Eichen, weiße Schafe, graue Schlösser und Ruinen, grüne Wiesen und das Gelb und Ocker der Dünen. Die flache Küstenlandschaft mit einsamen Leuchttürmen und ohne eine Menschenseele. Noch weiter über allem wieder das Meer. Und die Sonne scheint. Ich weiß, ich schreibe das oft, aber die Sonne scheint, und das Land ist so voll von ihr das man es manchmal kaum aushalten kann.
Da war auch wieder meine kleine, bunte Stadt am Meer. Jetzt voller Grün und mit dutzenden Segelbooten in der Lagune. Diesmal konnte ich auch ihren Namen erfahren: wie ich bereits vermutet hatte, ist es Alnmouth, nahe Alnwick, wo ich ohnehin hin möchte. Es liegt nur eine halbe Stunde von Newcastle entfernt, noch prädestinierter für einen spontanen Trip als York. Ich sah auch die zweite Stadt meiner Erinnerung: die mit dem breiten Strom. Und dieses Mal nahm ich auch mehrere lange, schlichte, graue Granitbrücken über dem Fluss wahr. Das ist Berwick-upon-Tweed. Ich hatte mir den Independent gekauft, um die Fahrtzeit rumzukriegen, aber ich kam nicht dazu ihn zu lesen, da ich die ganzen eineinhalb Stunden mit dem Rest des Abteils aus dem Fenster blickte.
“Ich nix spresse Deutsch“
Zu spät losgefahren und zu früh angekommen stand ich um viertel neun abends in Edinburgh Waverley. Die Treppen hinauf – und die Princes Street hatte mich wieder. Diesmal sah ich sie bei Tageslicht, und immer noch ist die Stadt das Schönste, was ich auf der Insel gesehen habe. In einer Kurve erblickte ich vom Bus aus nur kurz zwischen den Häusern eine Art Schloss mit dem Meer dahinter. Nur für einen Moment, dann waren wir schon wieder weggeschwenkt, aber lang genug, um mir ein ebenso spontanes wie lautes „Jeeesus!“ zu entlocken. Ich hab keine Ahnung, was das war und konnte es in den folgenden Tagen auch nicht besichtigen. So geht es mir hier mit so vielen Ecken.
Ansonsten war der Bus wieder etwas nervtötend und hat mich auch noch in ein mir unbekanntes Gebiet gebracht. Aber meine überragenden Geographiekenntnisse haben mich zielsicher zur Wardieburn Unit geleitet, wo ich eine verschlafene Claudia wach klingelte und eingelassen wurde. Jenny war grad nicht da, so hat nur Claudia eine Wagenladung Fotos zu Gesicht bekommen, und wie immer konnte ich mit meinem Arbeitsplatz beeindrucken. Später musste sie dann telefonisch einem Freund in Portugal wieder Lebenswillen einflößen. Aber das war nicht so schlimm, denn zu Besuch kam Miriam, eine Freiwillige aus München, mit der ich mich bis vier über die Vorteile von Stadt- und Landleben unterhalten hab. So lange hat Claudia gebraucht. Wobei ich mich strikt geweigert habe, Deutsch zu reden, weil ich schon längst viel zu müde war, um die Sprache zu wechseln. Danach bin ich dann nur noch auf meine Matratze gekippt.
Samstag: Überraschung!
Hier gibt es eine sehr erfolgreiche Comedyshow namens „Little Britain“. Darin gibt es auch den Charakter eines schottischen Hoteliers, angekündigt mit den Worten „Wenn Sie Urlaub machen wollen und die Antarktis ist bereits ausgebucht, warum versuchen sie nicht einmal Schottland?“ Der nächste Tag begrüßte uns mit einem schweren Regenguss. Ich bin schnell etwas zu Essen kaufen gerannt, und hab es danach vorgezogen, bis zwei zu frühstücken.
Wobei mein Blick auf eine interessante Aufschrift auf der Milchflasche fiel: „2 l“. Unglaublich, weit und breit kein Pint zu sehen. Die benutzen das metrische System hier oben! Der Überraschungen nicht genug. Bisher dachte ich ja immer, dass ich eine der leichtesten Stellen habe, aber Claudia erzählte mir, dass sie – wenn auch in Schichten – nur sechs Stunden am Tag arbeiten müssen. Und auch nicht bereit wäre, mehr zu tun. Na gut, wenn ich mir das durchrechne, machen wir hier auch nicht viel länger. Aber gerade in letzter Zeit gab es gelegentlich Überstunden, und generell steh ich immer für Arbeit bereit oder frag danach. Wenn auch mehr aus schlechtem Gewissen, dass ich eine eigentlich nur für fanatische Umweltschützer reservierte Stelle besetzt habe. White Lea Farm, hier kommen die Elitefreiwilligen durch.
Fetter Fisch & Warme Semmeln
Mit Claudia verließ ich irgendwann das Haus, als sie zur Arbeit musste, und es wieder etwas trockener war. Am Vortag hatte ich noch mit Elise telefoniert und wollte mich am Nachmittag mit ihr treffen. Zuerst fuhr ich aber in die Innenstadt, um dieses Mal etwas Kultur & Bildung nachzuholen, das hat ja letztes Mal nicht so ganz geklappt. Gerade war ich den Berg zur Burg hochgestiegen und genoss den Ausblick vom Vorplatz über die Stadt, da klingelte mein Handy mit einer Nachricht, wo und wann sie zu finden sei. Zum Glück war das kurz bevor ich mich entschied, die elf Pfund Eintritt zu bezahlen. In der Touristeninformation wurde mir von einer unfreundlichen deutschen Mitarbeiterin erklärt, wo ich hin muss. Frustrierenderweise musste ich die Hälfte des Wegs zurück, den ich mit dem Bus in die Stadt gefahren war. Na ja, nur gut, dass ich schnell laufe. Danach war ich schon wieder hungrig, aber wir haben uns sowieso in ein Lokal gesetzt, wo ich schon gewohnheitsmäßig etwas dringend benötigtes Koffein und eine Ladung Fish & Chips bestellte. Letztere zwar weit hygienischer als der normale Chip Shop Stoff, aber nicht so lecker. Auch Elise hat so ziemlich alle meine Fotos gesehen (ich rechne ja immer damit, dass andere Leute Bilder so langweilig finden wie ich, aber Fotos von der Farm werden einem fast aus der Hand gerissen) und war besonders angetan von meinem Winterspaziergang sowie den Lämmern.
Jugendlicher mit Perspektive
Gegen fünf musste sie dann auch zur Arbeit gehen und ich bin zurück in die Innenstadt. Mir war bekannt, dass abends so eine Art Feuer- oder Theatershow geplant war. So lief ich erst wieder zur Touristeninformation, wo mir diesmal weit netter das Wo und Wie und Wann mitgeteilt wurde. Stattfinden sollte das Spektakel auf dem Carlton Hill. Das ist dieser Hügel, wo ich schon letztes Mal mit Elise und Claudia drauf war. Der mit dem königlichen Observatorium und so einer Art griechisch aussehender Tempelruine. Es sollte zwar erst gegen sechs losgehen, aber ich bin schon mal rauf und hab wie schon letztes Mal den Blick auf die Stadt genossen, jetzt sogar mit Licht. Das war wieder schön: das Meer mit seinen Inseln im Firth of Forth, das Schloss und die Berge am Horizont, vor allem aber Arthur’s Seat, ein Edinburgh überragender Hügel, überzogen mit den bekannten gelben Teppichen des Gors und kleinen Punkten, die die Wege hinauf- und hinunterwanderten. Aber dazu später.
Jugendlicher ohne Ziel
Das Ticketbüro war noch zu, bis neun gab es ohnehin noch nichts zu sehen und kein Ziel vor Augen. Eine schlossähnliche Anlage entpuppte sich nur als Friedhof, auf dem Scharen von Goths in dunklen Ecken saßen und vermutlich kleine Kinder grillten. Leider hatten auch schon alle Museen, Galerien und ähnliche Orte zu. Es war kühl und ich hatte irgendwie schlechte Laune, weil ich allein und ohne wirklich lohnende Option rumlaufen musste. Daher bin ich einfach mal meiner Nase nach, durch die Old Town, das heißt die alte Altstadt hinter der Burg (nicht zu verwechseln mit der New Town, die zwar auch alt aber eben nicht ganz so alt ist), bis ich am Museum of Scottland und der Uniklinik vorbei auf die so genannten Meadows kam. Das sind so eine Art Parks voller unterbeschäftigter Studenten. Da hab ich meine Beine auf einer Bank ausgeruht und bin danach langsam zurück, um so gegen halb neun am Carlton Hill zu sein, wo ich Jenny und ihre Franzosen zu treffen erwartete. Dabei sah ich schon Unmengen bemalter und verkleideter Gestalten in dieselbe Richtung wandern, da waren mehr Hippies als im Westend unterwegs.
Café olé: „The Elephant House”
Auf dem Rückweg bin ich aber an einem Café vorbei gekommen. Und auch wenn es diesmal keine längeren Passagen über Käse gibt muss ich auf dieses und später noch ein anderes Etablissement eingehen. Der Name über dem Eingang war „The Elephant House“ und erweckte meine Aufmerksamkeit, weil genau dieser Laden von Elise empfohlen wurde. Da bin ich also rein und war wieder einmal entsetzt, wieso die da oben so etwas haben und wir nicht. Eine Offenbarung von einem Café, direkt an einer der Hauptstrassen der Old Town, aber mit einem geräumigen Hinterzimmer, von dem aus man durch große Fenster auf die Gassen und ruhigen Hinterhöfe der Altstadt und vor allem auf das Panorama der Burg blicken konnte.
Innen erinnerte es mich an einen alten Bibliotheksraum: mit Bücherregalen sowie schweren Holztischen und –stühlen, trotzdem sehr hell durch die weiten Fenster sowie den blauen und orangefarbenen Wänden, an denen zu verkaufende Bilder hingen. Dem Namen getreu waren überall Zeichnungen und Skulpturen von Elefanten zu sehen, zusammen mit Büchern im Stil von 60er Jahren Abenteuergeschichten in Indien. An der Decke ein Ventilator und Lampen mit roten Stoffschirmen. Einrichtung, wie auch Speisekarte, hatten einen indisch-asiatischen Einfluss. Und auch die Musik war ausgesprochen geschmackvoll gewählt. Alles in allem hatte es diese improvisiert wirkende Wohnzimmeratmosphäre, die ich zurzeit so mag.
Dieses Land muss wirklich langsam auf den Geschmack kommen. Früher wäre man gekreuzigt und verbrannt worden, wenn man seine Speisekarten mit französischen Überschriften versehen hätte. Aber diese Schotten sind ja ohnehin allesamt Verräter, rückgratlose Katholiken! Kein Wunder dass die den Erbfeind massiert im Land haben. Die benutzen ja auch das metrische System und alle sonstigen kontinentalen Teufeleien.
Trotzdem will ich so ein Café in Newcastle! Nur eins! Oder bin ich bloß zu doof, es zu finden? Wir haben auch jede Menge Studenten und Hippies, da müssen doch irgendwo solche Läden sein! Das Tyneside Café ist zwar nett, ist aber nicht halb so schön und stilvoll und auch noch teurer. Na ja und außerdem...ich bin allein in Newcastle.
L’Edinbourg (c’est en France)
Irgendwann hab ich mich dann wieder losgerissen und stand halb neun am Carlton Hill, wo ich telefonisch erfuhr, dass Jenny & Co. noch lang nicht hinwollten. Hab mir meine deutsche Erwartung an Pünktlichkeit noch immer nicht abgewöhnt. Die haben mich dann zum Abendessen eingeladen, auch gut. Mit dem Bus den ganzen Weg über die Meadows wieder zurück (als Landei über eine Frau mit Kopftuch und schottischem Akzent staunend) und willkommen in Klein-Frankreich. Jenny war nämlich gerade bei ihrem Freund, der in einer WG von zwei Franzosen und einem Nigerianer wohnt, plus einem nur kurzfristig anwesendem weiteren Franzosen. Die haben dann auch fröhlich die ganze Zeit Französisch geredet, wobei ich erstaunlich viel verstand. Zum Beispiel, dass sie meist irgendwas über Deutsche erzählten.
Überhaupt ist Edinburgh voll von Franzosen. Auf den Strassen hörte man wortwörtlich ständig Sprachfetzen, überall. Wenn es nicht so aus der Mode wäre, könnte man glatt denken, die Franzosen hätten Schottland zu einer Kolonie gemacht. Mit der Truppe bin ich später auf Fahrrädern über Stock und Stein durch die dunkle Stadt gerauscht, das hat Spaß gemacht.
Krieg auf dem Hügel
Noch besser war, dass wir umsonst auf Carlton Hill zu diesem Spektakel gekommen sind, wo wir auch Miriam trafen. Gerade rechtzeitig, um den Anfang des Umzugs zu erleben. Um es mal zusammenzufassen: es ging darum, den Winter zu verabschieden und den Anfang des Sommers zu feiern. Ich liebe den britischen Sarkasmus. Es gab zwei Gruppen von Schauspielern: Eine bis auf Lendenschurze nackte, rot bemalte Truppe, die wild schreiend durch die Gegend gerannt ist. Eine andere prozessierte schweigend in Weiß und in einem geordneten Zug den Hügel hinauf. Wir sind uns noch immer nicht ganz einig, aber ich glaub die Roten waren der Winter und die Weißen der Sommer. Haut zwar farben- und verhaltenstechnisch nicht hin, aber erstere versuchten letztere aufzuhalten – was Anfang Mai für mich nur einen Schluss zulässt. Der tribalistische Charakter dieser Zeremonie mit Fackeln und Feuer in der Nacht, die Trommeln und das animalisch Auftreten des Winters waren ziemlich mitreißend. Am Ende hat der Winter natürlich verloren, durfte dann aber den Sommer heiraten, wie nett. Soviel Harmonie. Ich hätte ihn ja lieber gewinnen gesehen, nicht aus Prinzip, aber die roten Leute hatten wenigstens coole Kriegsschreie. Und mal ehrlich, habt Ihr jemals eine Gruppe schweigend herumlaufender und eher langweiliger Leute in weißen Seidenklamotten gewinnen sehen gegen eine Horde halbnackter schreiender Wilder mit Keulen? Ich jedenfalls nicht und ich hab gerade erst dreizehn Jahre an einer öffentlichen Schule abgeleistet.
Gesucht & Gefunden
Wir dagegen haben uns permanent verloren. Mathieus zwei Freunde sind gleich am Anfang mit einer der natürlich in Massen vorhandenen Französinnen verschwunden. Er selbst war mit Jenny auf einer Bank hängen geblieben, da sie sich beim Sprung von einer Mauer den Knöchel wehgetan hatte. Und in den Menschenmassen habe ich auf der Suche nach einem Platz mit halbwegs guter Sicht auf das Geschehen auch Miriam ständig aus den Augen verloren. Dazwischen rief auch noch Claudia an, dass ich mir von Jenny den Wohnungsschlüssel besorgen soll, weil sie bei Elise übernachtet und ich bin unruhig suchend den Berg hoch und runter getigert, bis mich Jenny anrief und wir uns alle wieder trafen. Inzwischen hatten die Jahreszeiten auch Frieden geschlossen und man wollte uns weiß machen es wäre jetzt Sommer. Den Hügel wieder runter, sich verabschiedet, mit dem Nachtbus nach Haus, ab ins Bett.
Sonntag: No sleep till Gottesdienst
Am nächsten Morgen meißelten sich die Glocken beziehungsweise das glockenähnliche Tonband der nebenan stehenden Kirche einen Weg durch meinen Kopf. Zu meiner Überraschung war es schon Mittag, und nach einer Dusche fiel plötzlich auch Claudia ins Haus. Sie musste, wie auch Elise, arbeiten, sodass ich mir an diesem Tag wirklich mal was von der Stadt ansehen wollte. Auf der Princes Street angekommen hörte ich aber erst einmal etwas von der Stadt und muss zugeben: es ist toll, zur laut gespielten Melodie von „Scotland the Brave“ durch das Zentrum der schottischen Hauptstadt zu laufen.
Heißkalt durch Dean Village
Dazu bin ich zuerst nach Dean Village gegangen, was in meinem schlauen Reiseführer als so eine Art Dorf in der Stadt beschrieben war. Das war es dann auch, aber eher ein Wohnviertel als etwas touristisch Interessantes. Im Endeffekt bin ich eigentlich nur einmal drum herumgelaufen. Da war zwar eine Außenstelle der Galerie für moderne Kunst, aber dazu war ich sowohl zu faul als auch zu müde, um mich zu konzentrieren.
Zurück bin ich entlang eines kleinen, äußerst pittoresken Flusses gelaufen, der mitten in Edinburgh tatsächlich etwas Ländliches hatte, mit überhängenden Bäumen und verwucherten Uferwegen. Der hat mich fast bis ins Zentrum reingeführt. Generell hab ich gestaunt, wie schnell man zu Fuß durch die ganze Stadt kommt.
Was störte war das Klima. Denn, obwohl es nicht gerade warm war, hab ich dauernd geschwitzt wie ein Puma. Zumindest wenn ich die Jacke anhatte; ohne sie hab ich dagegen sofort gefroren.
Zurück auf der Princes Street hab ich aus akutem Koffeinmangel einen Stopp bei Starbucks eingelegt, dem McDonald’s der Cafés, wo reiche Schüler hingehen, um ihre Hausaufgaben zu machen. Bäh, als ich meine Jacke ausgezogen hab fühlte sich mein T-Shirt an, als hätte ich einen Monat nicht geduscht.
Dazu wurde ich zunehmend paranoid. Franzosen wohin man nur blickte: vor mir, hinter mir, überall. Würde ich in dieser Stadt leben, ich bräuchte keinen Sprachkurs mehr. Danach machte ich mich auf den Weg zu Arthur’s Seat und auch auf der Strasse hörte man allenthalben die schwierigste Sprache nach Deutsch und Polnisch.
Über den Wolken...
Arthur’s Seat ist, wie bereits erwähnt, ein Felsen mitten in der Stadt und etwa 650 Fuß über ihr. Extrem schön anzusehen und ein interessanter Kontrast zur Urbanität rund herum. Was ich nicht ahnte: der Weg durch die Old Town zum Fuß des Bergs sollte länger dauern als der Aufstieg selbst. Halb sechs stand ich dort und machte mir Sorgen, viel zu spät anzufangen. So bin ich dann eher hoch gesprintet als gewandert. Wenn auch mit einem kleinen Umweg über eine Art Ruine mit einer Gruppe Franzosen drum herum, von der aus man einen ersten schönen Ausblick auf die Küste und einen Teich voller Schwäne unter sich hatte.
Weiter hoch den Hügel und nach nicht mal einer halben Stunde stand ich schon am Ziel. Und bereits bevor ich oben war wehten mit französische Sprachfetzen vom Gipfel entgegen. Da oben war es windig, sehr windig, aber man hatte einen herrlichen Blick nach allen Seiten. Und ich hatte Glück, denn grad schien die Sonne. Unter einem Edinburgh, das Schloss im Dunst des Abends verschwimmend, die See, viel versprechende hohe Berge hinter der Stadt... Schon wieder hab ich einen Film voll, Dutzende Bilder, die ich mir wahrscheinlich nie wieder angucken werde. Gründlicherweise bin ich auf alle drei Gipfel gestiegen, die es dort so gibt. Ich hab mich einige Minuten hingesetzt, auf das versiegende Tagesleben der Stadt geschaut und mir den Wind ins Gesicht fegen lassen.
Abgestiegen bin ich einen anderen Weg, über einen nahe gelegenen Kamm, von wo man im letzten Abendlicht noch einmal einen fantastischen Blick auf den Berg haben konnte.
Nicht mit mir!
Dann hieß es aber, nach Hause fahren, wo mich gegen acht Claudia und Jenny samt einigen Gästen wieder zurück erwarteten. Auf dem Weg zurück zum Zentrum hab ich mir noch eine Flasche Wein geleistet, leider im falschen Viertel der Stadt. Denn, hätte ich nicht aufgepasst, hätte mich dieses nett lächelnde Mädchen an der Kasse eiskalt abgezockt. Entweder sehe ich so doof und naiv aus oder ich sollte meine Touristenstadtkarte nicht aus der Tasche gucken lassen.
Weil ich noch immer etwas früh war, bin ich noch mal ins nahe gelegene Elephant House gegangen. Man muss das ja ausnutzen, wo man schon mal da ist. Wohlgemerkt, es war Sonntag, und alle Geschäfte hatten bis acht, die Cafés bis zehn Uhr abends auf. Zum Vergleich: in Newcastle ist um fünf Feierabend und sonntags wird erst gar nicht aufgemacht. Das war wieder so nett, ich bin etwas länger geblieben als geplant und musste dann auch noch auf meinen Bus warten. Wodurch ich erst halb zehn wieder im Wardieburn Unit war.
Da waren bereits zwei Gäste da: Carmen, eine spanische Freiwillige, an die ich mich noch grad so erinnern konnte, samt ebenfalls spanischem Freund, der von Claudia die Haare geschnitten bekam. Später ist dann auch Elise eingetroffen und wir haben wieder einen langen Abend gehabt. Sie hat bei uns übernachtet, während die Spanier später verschwunden sind.
Montag: Erste Abschiede
Am nächsten Tag musste ich schon wieder abfahren und hatte nicht so wirklich Zeit, etwas zu machen. So entschied ich mich, erstmal ein langes und befriedigendes Frühstück zu haben. Im dankenswerterweise auch an Feiertagen offenen Co-op um die Ecke erstand ich eine Melone und sogar ein paar frische Croissants – weit besser als die Aufback-Dinger vom Vortag. Damit hab ich dann eine Mahlzeit bereitet, die Elises explizites Lob fand – und, hey, die muss es ja wissen.
Sie ist dann später zwecks Klamottenwechsel sowie Dusche nach Haus gefahren und ich bin mit ihr verschwunden. Weshalb ich Claudia leider bereits dann Tschüss sagen musste und die arbeitende Jenny gar nicht mehr sah. Mit Elise hab ich mich für später in der Stadt verabredet.
Ich war dann trotzdem etwas traurig als ich die kleine bunte Französin auf dem zu großen Fahrrad langsam die lange, noch nasse Strasse lang verschwinden sah, während ich in eher miserablem Wetter allein an der Bushaltestelle stehen blieb, mit kaum noch fünf Stunden in der Stadt. Bevor ich zu sehr über dieser Szene brüten konnte kam zum Glück der Bus. Ich lehnte den Kopf gegen eine vibrierende Scheibe und schloss die Augen bis zum Zentrum.
Nationalstolz
Vorbei an polnischen Labour-Wahlplakaten suchte ich vergebens nach einem bezahlbaren Schließfach im Bahnhof, um meine schwere Reisetasche für ein paar Stunden dort zu verstauen. Wiederum auf einen Tipp Elises hin verbrachte ich die Zeit bis zu ihrem Anruf im Museum of Scottland.
Und siehe da, dort konnte ich sogar mein ganzes Gepäck umsonst in der Garderobe lassen. Das ist ein ziemlich großes Institut, nur die Übersicht leidet etwas, aber ich hab mich irgendwie zur Geschichte Schottlands durchgeschlagen. Die fast ausschließlich im heldenhaften Widerstand gegen die Engländer zu bestehen scheint. Aber wir sind ja auch in Schottland, dem Land, wo Nationalstolz okay ist. Ich mein, man kann’s ihnen nicht verdenken, aber irgendwann beginnt mich das alles zu nerven, wenn jeder zweite Laden irgendwas von „schottisch“ und „stolz“ im Namen hat. Zum Vergleich: in England wird alles vom St. Patrick’s bis zum Australia Day gefeiert, nur der St. George’s Day wird vollkommen und bewusst ignoriert.
Bei Hippies zu Haus: „The Forest“
Ich kam nicht weiter als zur Renaissance, als Elise mich anrief. Wir trafen uns am Museum und entschieden, in ein anderes, nahes Café zu gehen. Das war das schon in Trines Stadtprofil erwähnte „Forest“. Das ist ähnlich eingerichtet wie das Elephant House und ich glaub sogar in derselben Strasse. Vielleicht noch etwas improvisierter eingerichtet, mit noch besserer Musik und ausschließlich von unbezahlten Freiwilligen unterhalten, die, ich glaub, damit die Miete für ihre Wohnungen in den Stockwerken darüber finanzieren. Elise und ihre Cafés, die versteht mich. Sie findet übrigens auch, dass die Zeit wie im Flug vorbeigeht. Na wenigstens schmeiß ich ihr gerade ausgezeichnete Stolpersteine in den Weg (der Zeit, nicht Elise). Der Laden war etwas mehr auf Essen ausgerichtet und vor allem unglaublich billig. Trotzdem haben wir uns an einer großen Kanne Tee festgehalten und zusammen die letzte Stunde herumgebracht, bis ich zum Bahnhof und sie wieder zur Arbeit musste.
Wofür ich ihr wirklich dankbar bin, mal abgesehen von den Cafés, ist ihr Angebot, mit mir Emails auf Französisch auszutauschen. Also, wenn das jetzt nicht in Schwung kommt mit dieser Sprache gebe ich’s auf.
Sinnfrage
An der Princes Mall über Waverley Station hieß es dann auch, von Elise Abschied nehmen. Mit noch einer Stunde in petto hab ich mir noch ein wenig Kultur angetan und bin zu den nahe gelegenen Nationalgalerien gelaufen. Die Haupthallen waren zwar schon zu und ohnehin sauteuer, aber in den Nebenhallen war eine interessante, wenn auch mir völlig unverständliche Ausstellung einer Gruppe moderner Künstler zu sehen. Leider konnte ich nicht mehr als eine halbe Stunde bleiben, aber das war genug, um nicht zu lange auf dem Bahnhof hocken zu müssen. Halb sechs kam mein Zug, in den sich scheinbar alles zwängen wollte, was zwei Beine und eine Fahrkarte hatte. Zum Glück hatte ich eine Platzreservierung. So ging es langsam hinaus aus Edinburgh, den eindrucksvollen Weg zurück nach Newcastle. Was war ich dort hungrig. Und während ich mir eine neue Ladung Fish & Chips kaufte, fragte ich mich, wieso ich nicht die zwanzig Pence mehr für ein halbwegs gesundes Sandwich ausgebe, anstatt diesen Müll in mich hineinzuschütten. Danach hatte ich dann den Rest des Abends Bauchschmerzen.
Willkommen zu Hause
Wie ihr Euch vorstellen könnt, war der Heimweg nicht so wahnsinnig mitreißend. In Durham musste ich noch eine Stunde auf meinen Bus warten, die ich nach Ewigkeiten mal wieder im Angel’s Inn verbracht habe, wo man jetzt auch endlich draußen im Biergarten sitzen kann.
Gegen halb elf war ich zurück in meinem kleinen Dorf voller Charver, minderjähriger Mütter und Krimineller. Während die Busfahrt durch eine milde Regenlandschaft nicht ohne Reiz gewesen war, fing es gerade jetzt an zu gießen. Nachdem ich das ganze Wochenende über trocken geblieben war, wurde ich jetzt auf den letzten 700 Metern klatschnass. Was soll’s, Sachen in eine dunkle Ecke geschmissen und rein ins Bett.
In der Kürze liegt die Würze
Komisch, es kommt nicht vor, als wäre ich erst vorgestern zurückgekehrt. Aber so sollte es sich ja auch anfühlen. Seitdem schreibe ich jedenfalls jeden Abend an diesem Eintrag und ärgere mich tagsüber zusammen mit Paul weiter mit diesem Zaun herum. Morgen Abend, also Donnerstag geht es wieder nach Newcastle, wo Freitag Gibside auf dem Plan steht. Samstag möchte ich wie gesagt nach Alnmouth und eventuell auch Alnwick schauen. Leider kann Hanni nicht mitkommen. Außerdem möchte ich eine neue Arbeitsjeans besorgen (ich hab letztens probiert, meine jetzigen zu flicken, aber scheinbar bin ich dafür nicht so sonderlich begabt), ins Kino gehen, in Chinatwon vorbei gucken, einen Scheck einlösen...
Ach übrigens, ich hab Alice im Wunderland beendet. Es sollte mehr solche Bücher geben. Ich hab zwar keine Ahnung, ob und wenn was mir gesagt werden soll, aber dafür ist es schön kurz.
Das Letzte: Die Wahlen
Morgen sind Wahlen, wunderbar. Noch eine Woche Nachberichterstattung, dann sind wir das Thema los. Nur ich armes Schwein muss mir dasselbe im nächsten Jahr gleich noch einmal anhören.
Hier finde ich die Situation ja noch leidlich interessant. Die Leute wissen zwar, dass Tony Blair gelogen hat, dass sich die Balken biegen, werden ihn aber wahrscheinlich trotzdem wählen. Wer sonst ist denn auch da? Die Grünen als auch die LibDems sind eine verlorene Stimme und die Konservativen werden zumindest hier oben gehasst, wie der Antichrist hoch selbst. Ein recht berühmtes wie auch treffendes Statement zu Michael Howard ist „Er hat etwas von der Nacht an sich“. Würdet Ihr jemanden wählen, bei dem ihr Euch nicht wundern würdet, ihn spätabends mit schwarzen Mantel und spitzen Zähnen vor dem Wohnzimmerfenster schweben zu sehen?
So, jetzt muss ich aber wirklich los und endlich Elise schreiben, bevor ich das Wochenende über ohne Computer verbringe. Besucht Edinburgh!