ProtoLodz
Johannson nutzt die Zeit und das schöne Winterwetter, um Zgierz zu besuchen. In der Nähe von Lodz gelegen, hat es vor allem einiges an früher Industriearchitektur zu bieten.
Eigentlich hatte Zgierz Lodz werden sollen. Einige Kilometer nördlich am Fluss Bzura wurde es früher industrialisiert, stagnierte dann aber durch die wirtschaftliche Repression nach einem der Aufstände und wurde von der widerstandsfähigeren Lodzer Billigware überholt. Heute ist es eine langweilige, hässliche Kleinstadt, Vorhölle zu Lodz quasi. Für nichts wirklich bekannt, außer für Freunde von Industriefrühgeschichte und vielleicht für eine Zigeunerin, die aus der Hand liest. Dort wollte ich mir bei dem schönen Winterwetter nur mal Beine vertreten und einen Blick auf den Marktplatz werfen, den ich mal vom Auto aus gesehen hatte.
Wir hatten einige ernshaft kalte Tage, wie ich so ein Gefühl mit den Obdachlosen hatte sind wohl an die 60 Menschen erfroren. An diesem Tag setzte gerade die Erwärmung ein, alles taute, pünktlich zu Heiligabend verwandelte sich die Welt wieder in Matsch und die Schuhe in Nasskälte.
Man merkte jedoch schnell, die Stadt hat nicht viel, aber das weiß sie zu verkaufen. Schon einige Ecken vom Bahnhof, auf dem kleinen Neuen Markt (wie in Lodz erst durch die Industrieexpansion als neues Zentrum nach dem historischen Alten Markt enstanden) steht eine kleine Bude "IT". Das allein schon ist mutig für einen Ort der garantiert auf keiner Touristenkarte steht. Das Personal ist auch erstaunlich motiviert, kompetent und unfrustriert. Man erklärte mir sehr schnell was sehenswert ist: neben den Fabriken vor allem die Weberhäuser.
In der Tat stellen die Broschüren bei deren Bewerben kein verzweifeltes Haschen nach dem Strohhalm dar. Heute eher als runtergekommene Holzkaten zu bezeichnen säumen sie viele Straßen tatsächlich noch geschlossen. Die Straße zum Museum wird sogar teuer restauriert, um das Bild von damals wiederherzustellen. Die Projektillustration von Mercedes Caprios vor Bistros wirkt zwar lächerlich vor den düsteren Uralteingängen in schwarzem Schneematsch. Aber für so ein Nest beweist die IT erstaunliche Kompetenz, ein Marketingprojekt zu wählen und sich darauf zu konzentrieren.
Ins Museum wurde ich geschickt, weil dort der lokale Geschichtsexperte säße. Wie sich rausstellte hatte der sich an diesem Tag in Archiven in Lodz vergraben, aber die Betreuerin war auch kompetent und noch zuvorkommender als die Information gegenüber mir einzigem Besucher. Sie führte mich durch die beiden Ausstellungen, "Wohnung des lokalen reichsten Fabrikanten" und die Wanderausstellung "Vernichtung der jüdischen Kleinstädte". Die örtliche Gemeinde kam gleich im Dezember 1939 ins Lodzer Ghetto und von da ins Gas, die Synagoge wurde direkt drei Tage nach dem Einmarsch abgebrannt. Das Mädchen nahm diese Ausstellung für mich sogar ab, um die dahinter hängende eigentliche Daueraustellung zur Stadt zu zeigen. Sehr ähnlich wie das Lodzer Stadtmuseum (im Poznanskipalast). Die Fabriken, Paläste und Reichtümer waren natürlich alle einige Ligen unter dem Lodzer Wahnsinn. Aber ein Lodzer Fabrikant, Herbst, hatte auch hier eine Villa. Heute ist die leider eingekreist von Blocks. Irgendwann fiel mir ein, ich müsste ja noch eine Eintrittskarte kaufen – Sie: Ach, es ist Weihnachten.
Nach zwei Stunden kam ich wieder in die dunkelnden Straßen. Entlang vieler weiterer Weberhäuser und verlassenen Backsteinrruinen der Fabriken ging ich entlang der im Krieg zerstörten evangelischen Kirche zum Platz der 100 Verlorenen, wo 100 Geiseln erschossen worden waren. Die katholische Marienkirche auf einem Hügel über dem alten Ortskern steht zwar noch, war aber geschossen. Nicht weit von dort wurde der jüdische Friedhof restauriert, Gräber waren unter der Schneedecke allerdings keine zu erkennen. Zgierz wirkt wie ein 1850 angehaltenes Lodz und kostete mich viel mehr Zeit als erwartet.
Irgendwann musste ich nämlich wieder zum Bahnhof, denn auf dem Rückweg bin ich noch bei Zosia vorbei, einige Märchenkassetten abgeben. Stellt sich raus sie haben in den letzten Wochen genauso versucht mich zu erreichen wie ich sie. An diesem Abend kam gerade eine Freundin aus Berlin vorbei, es gab Fondue. Aber irgendwann musste ich weiter, zur letzten Salsastunde in diesem Jahr. Eventuell fahre ich in Januar noch nach Breslau oder Zakopane.