Paris wird immer Paris sein
Fast drei Wochen nach den terroristischen Anschlägen in Paris besuche ich meine alte Heimat und erlebe dabei eine Stadt, die versucht, Trauer und Alltag zu verbinden.
„Paris wird immer Paris sein“ sang Maurice Chevalier 1939. Der Kabarettsänger war optimistisch, dass der herannahende Zweite Weltkrieg die Stadt nicht zerstören könne. 66 Jahre später spukt der Chanson-Text nun seit Tagen in meinem Kopf rum. Jetzt, im Zug auf dem Weg in die Stadt der Liebe, fast drei Wochen nach den terroristischen Anschlägen, frage ich mich, ob Maurice Chevalier Recht hat. Gibt es nichts, was die Stadt verändern könnte? Nichts, was sie ins Dunkel treibt, aus dem sie nicht herauskommt?
Acht Jahre ist es her, dass ich meine Wahlheimat das letzte Mal besucht habe. Und trotzdem hatte ich mich aufs Nachhause-Kommen gefreut. Die Straßen, die kleinen Cafés, sie alle sind mir in meinen Erinnerungen noch vertraut. Dann kam Freitag der Dreizehnte und mit ihm die terroristischen Anschläge. 130 Menschen starben, 368 wurden mitunter schwer verletzt. Bis heute liegen noch über 60 von ihnen im Koma. Die Nachrichten brachen mein Herz. Ich sah die Bilder von der Konzerthalle „Bataclan“, las in den sozialen Netzwerken die Hilferufe von jungen Menschen,die drinnen gefangen waren, und litt mit jeder Vermisstenmeldung, die nach der polizeilichen Stürmung der Konzerthalle bei Twitter verbreitet wurde. Meine Erinnerungen vermischten sich im Laufe der Nacht mit den schrecklichen Nachrichten. Als wäre es gestern gewesen, sah ich meine Freunde und mich in den Gassen rund ums „Bataclan“ in Bars sitzen, lachen und das Leben genießen. Genau so, wie es die jungen Menschen an jenem Freitag getan haben.
Jetzt sitze ich im Zug und frage mich, ob sie wirklich die Stadt geblieben ist, deren Glanz nicht verdunkelt werden kann? Der Ausnahmezustand gilt weiterhin, Demonstrationen wurden abgesagt, verstärkt Kontrollen an den Grenzübergängen eingeführt. So überraschen mich die Grenzbeamten nicht, die kurzzeitig im Zug auftauchen. Auch habe ich mit den Soldaten gerechnet, die mit Gewehren bewaffnet die Bahnhöfe kontrollieren. Traurigerweise haben diese fast schon einen Stammplatz in meinen Paris-Erinnerungen. Während ich in Paris wohnte, habe ich mehr als eine Terrorwarnung erlebt und mehr als einmal Soldaten am Bahnhof gesehen. Befremdlich ist es mir bis heute geblieben. Die prüfenden Blicke der Soldaten geben mir das Gefühl, sie hätten mich bei etwas ertappt, von dem ich nicht mal wusste, dass es nicht in Ordnung ist. Schuld kriecht in meinem Magen hoch, weil ich einen Koffer hinter mir herziehe. Gleichzeitig fühle ich mich wie ein Eindringling. Ich möchte mich entschuldigen, dass ich in einem Moment des Schocks so einfach rein platze und die Stadt störe.
Den Blicken entkommend laufe ich schnell - und übertrieben unauffällig – aus dem Bahnhofsgebäude raus. Da ist es, das normale Leben. Taxifahrer werben um eine Fahrt, Autos hupen, Menschen reden schnell aufeinander ein. Ich hole tief Luft. Es riecht genau so wie in meinen Erinnerungen: Chanel No. 5 mischt sich mit Abgasen und anderen Gerüchen zum einmaligen Parisduft. Im Herbst ist sogar alles von einer leichten Note von gerösteten Maronen übertüncht. In einer kleinen Gasse strömt der Geruch von Fisch aus einem Restaurant, in der nächsten riecht es nach frischem Kaffee. Während ein Geruch auf den nächsten folgt und trotzdem die bestimmte Parisnote behält, haben meine Beine ohne mich bereits entschieden, was unser erster Stopp in Paris wird. Und auf einmal stehe ich vor einem Meer aus Blumen. Die meisten sind mittlerweile vertrocknet, Blätter, die von den Bäumen fielen, haben sich dazwischen geschoben. Doch die Zeichnungen, Bilder, Fotos und Kerzen halten noch durch. Ich bleibe stehen und betrachte die vielen Trauerbekundungen. Auch muss ich Kraft sammeln. Ich weiß, dass um die Ecke die Konzerthalle „Bataclan“ ist. Dort allein starben 89 Menschen. Ich folge den Blumen, Zeichnungen und Flaggen die Straße entlang. Ab und an bleibe ich stehen, um ein oder zwei davon zu lesen. Es scheinen Hunderte, wenn nicht Tausende. Die iranische Widerstandsbewegung hat dabei genauso Anteilnahme gezeigt wie die chilenische Botschaft in Frankreich. Fotos von Opfern aus Tagen, an denen sie glücklich in die Kamera lächelten, Stofftiere, mit letzten Grüßen versehen, sowie Kerzen und Blumen. So viele Kerzen und Blumen. Mein Nachhause-Kommen wird zum Trauermarsch.
Die Straße vor dem „Bataclan“ ist gesperrt, Polizisten regeln den Auto- und Fußgängerverkehr um den Straßenabschnitt herum. Dutzende von ihnen bewachen die Konzerthalle, andere patrouillieren an den Trauergästen und Schaulustigen vorbei. Nach einer kurzen Weile kann ich die Atmosphäre nicht mehr ertragen. Ich laufe ziellos durch die Straßen, versuche die Bilder hinter mir zu lassen. Plötzlich finde ich mich in der Straße von Charlie Hebdo wieder. Es wird mir klar, dass man der neuesten Geschichte in Paris nicht entgehen kann. An einer Hauswand steht geschrieben „Führe den Krieg in deinem Herz“ („Fais la guerre dans ton coeur“). Und doch hat der Alltag nicht angehalten. Fast schon das Gegenteil. Die Bistros sind voll, die Menschen sitzen vor den Restaurants, reden, rauchen. Als wäre das Leben genießen zum Protest geworden.
Es war ein schwieriges Jahr für Paris, sagt mir am Abend in einer gemütlichen Wohnung über den Dächern von Paris mein Tischnachbar. Auch erzählt er mir, dass er immer noch erschauere, wenn er an den Plätzen vorbei fährt, an denen die Anschläge stattfanden. Ob sich was verändert habe in der Stadt, frage ich ihn? Er wiegt kurz mit dem Kopf hin und her. Man müsse sich das vorstellen, so viele Opfer. Und jedes Opfer hat Familie und Freunde. Wie viele also betroffen wären. Zwei, drei Tage sei man wie im Schock gewesen. Aber jetzt finden die Menschen langsam wieder in ihren Alltag zurück. Es ist wichtig, dass man jetzt zusammen halte. Ich denke an die Freiwilligen, die ich auf dem Weg zum Essen am Place de la République beobachtet habe, wie sie vertrocknete Blumen wegräumten, Kuscheltiere neu sortierten und eine Kerze nach der anderen anzündeten. Es wirkte fast, als wäre das jetzt ihr Alltag. Als wollten sie sagen: Wir gedenken der Toten, wir vergessen nicht, aber wir lassen uns unsere Freiheit nicht nehmen. Erst am Tag vorher fand am gleichen Ort eine nicht-genehmigte Demonstration statt. Weltweit fand der „Global Climate March“ statt und auch in Paris wollte man sich beteiligen. Der bestehende Ausnahmezustand lässt dies allerdings nicht zu. Also funktionierten die Pariser den Klimamarsch um und reihten Hunderte Schuhe nebeneinander auf. Am Ende gab es Ausschreitungen mit der Polizei. Wasserwerfer kamen zum Einsatz. Auch das ist das Paris, das ich kenne. Sich nicht einschüchtern lassen, Regeln und Gesetze herausfordernd. Vielleicht hatte Maurice Chevalier doch Recht, als er sang: Je mehr man die Beleuchtung von Paris vermindert, umso mehr sieht man ihre Courage strahlen, ihre gute Laune und ihren Esprit. Seine Prophezeiung scheint wieder zu stimmen: Paris wird immer Paris sein!