Orientalismus- Immer noch eine relevante Debatte?
Ein Begriff, der wohl vielen nichts sagt und ein wenig angestaubt klingt. Er erinnert an Kameltreiber in der Wüste, an verborgene Goldschätze und geschäftige Märkte.... Halt stopp, genau diese klischierte Karikatur einer Region bezeichnet das Konzept des Orientalismus!
Als Politikwissenschaftsstudentin mit Affinität zur Arabistik begleitet mich Edward Said seit Beginn meines Studiums, aber erstmals zur Anwendung kam seine Idee des "Orientalismus" mit meiner ersten Reise in die arabische Welt. Wie erstaunt ich über die moderne Metropole Beirut war und wie verzweifelt ich nach den Gewürzmärkten meiner Fantasievorstellung gesucht hatte! Das beschreibt ziemlich genau, wovon Said in seinem Meisterwerk "Orientalismus" schreibt: Der Konstruktion einer Region, die so nicht existiert.
Wie wird der Nahe Osten in unseren modernen Medien dargestellt? Entweder romantisiert, als Schauspielplatz von Kriegen, als Ursprung religiösen Fanatismus oder der politischen Extreme. Selten wird er so darstellt, wie er eigentlich ist: Die Lebenswelt von über 411 Millionen Menschen. Problematisch an dieser Darstellung ist das Bild, welches in unseren Köpfen erzeugt wird: Dort steht der aufgeklärte, moderne Westen (wir) einem mysteriösen, barbarischen, undemokratischen Osten gegenüber (den Anderen). Nach Saids Analyse ist das westliche Denken stark von Gegensätzen und Antagonismen geprägt: Um sich selbst zu konstruieren, muss man das andere definieren - So grenzt sich die westliche Welt von der östlichen, muslimischen ab, indem sie sich selbst als Verwirklichung der Aufklärung und des Humanismus darstellt.
Edward Said stellt sich nun die Frage, was die Konstruktion des Anderen über uns aussagt: Warum drängt es uns, uns abzugrenzen? Warum sehen wir Andere so, wie wir sie sehen? Brauchen wir die Illusion von Gegensätzen um uns selbst zu begreifen? Der Universalismus dieser Fragen ist es, was mich an Said so fasziniert- Vordergründig geht es in "Orientalismus" um den wissenschaftlichen Diskurs über eine Region, und doch lässt sich mit Saids Ansatz auch das individuelle Verhalten und die eigene Weltsicht reflektieren.
Der palästinensische Autor ist damit auch überregional von Bedeutung und trägt mit "Orientalismus" maßgeblich zur postkolonialen Wissenschaft und zur Theorie des Kulturimperialismus bei, denn sein Konzept lässt sich auf den Diskurs vieler Regionen übertragen, im Falle Afrikas sogar auf einen ganzen Kontinent. Die undifferenzierten Darstellungen von Regionen als ein Ganzes und die Reduzierung komplexer Kulturen und Gesellschaften auf einige wenige Aspekte deutet er als ein Herrschaftsmuster. Durch diese Vereinfachung drückt sich das ungleiche Verhältnis zwischen Kolonialisieren und Kolonialisierten aus, schon allein der Anspruch westlicher Wissenschaft (vorwiegend im 18.,19. und 20. Jahrhundert, aber immer noch aktuell) andere Kulturen analysieren und interpretieren zu können, nimmt ihnen ihre Autonomie und Würde.
Nach Said muss man als Europäer sich der Tatsache bewusstmachen, dass man in einer Tradition von kolonialen Herrschaftsstrukturen steht, von dessen Auswirkungen wir auch noch heute profitieren. "Orientalismus" ist ein Buch, welches aufgrund methodischer oder inhaltlicher Aspekte kritisiert wird, ebenso wie für seine Vereinheitlichung des Westens, und trotzdem ist die Diskussion nach wie vor höchst relevant und notwendig: Denn Integration und ein friedliches Zusammenleben gelingt nicht, wenn man Unterschiede sucht, sondern in "den Anderen" die Menschen sieht.
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