Obdachlos in Madrid & ein Wort zur Hilfsbereitschaft
Wie oft ich mich gefragt habe, welche Geschichten hinter den vielen Obdachlosen in Madrid stehen, und warum ich dann sogar einer dieser vielen Geschichten erfahren durfte.
Als die beiden Männer in den Metroschacht liefen, dachte ich zuerst, ich hätte eine Halluzination: Mit schon lange nicht mehr gewaschen, geschnittenen oder auch nur gekämmten Haaren, zerfetzter Kleidung und bei einem der beiden deutlicher Alkoholfahne standen sie plötzlich da und riefen sichtlich aufgebracht, "Entschuldigung? Wo geht's denn hier zum Aeropuerto?!", während ich mit einer Freundin auf die Metro wartete. Deutsch hört man in Madrid immer wieder auf den Straßen, nur von diesen beiden Männern hatte ich es nicht erwartet. Ein Sicherheitsmann versuchte mehr oder weniger begeistert, den beiden Männern den Weg zu erklären, und scheiterte an deren fehlenden Spanischkenntnissen.
Ich glaube bis heute, dass das für mich ein Moment gewesen wäre, in dem ich in Deutschland weggeschaut hätte - ein wenig aus Schüchternheit, denn was denken wohl andere von mir, wenn ich diese Männer einfach anspreche, ein wenig auch aus Angst, denn so oft hat man gehört, was doch alles passieren kann. Seitdem ich in Spanien bin, habe ich jedoch das Gefühl, so unglaublich viele Menschen getroffen zu haben, die mir unheimliche Hilfsbereitschaft entgegengebracht haben: Habe ich in Deutschland jemanden auf der Straße nach dem Weg gefragt, wurde mir oft nur mit einer Handbewegung die grobe Luftlinie gezeigt. In Madrid haben sich schon Fremde mit mir auf eine Bank gesetzt, ihr Handy rausgeholt und mir bis ins kleinste Detail und mithilfe von Google Maps den Weg erklärt. Für mich ist diese Hilfsbereitschaft eine Tugend geworden, bei der ich das Gefühl habe, sie hier gefunden zu haben, und von der ich hoffe, dass ich sie für mich mit nach Deutschland nehmen kann, einfach weil ich es hier nicht nur genieße, um Hilfe bitten sondern auch helfen zu können. Da merkt man doch die Offenheit der Menschen, auch wie entspannt sie sind, wenn sie sich spontan Zeit für dich nehmen. In diesem Ausmaß habe ich das in Deutschland nie erfahren.
Und deshalb saß ich dann auch kurze Zeit später mit Collegeblock und Kugelschreiber auf dem Boden des Metroschachts, meine Handy-App und der Sicherheitsmann erklärten mir den Weg zum Flughafen, ich hab übersetzt, aufgeschrieben und den beiden Männern, die immerhin dreimal umsteigen und sichtlich keine Ahnung von der Metro hatten, den Zettel in die Hand gedrückt. Ob sie jetzt zurückfliegen möchten?, habe ich dann gefragt. Nein, hat mir einer der beiden erzählt. Er lebe in Spanien auf der Straße, seit zwei Jahren bereits, seit einigen Monaten in Madrid, wollte nur einmal den Flughafen sehen und hatte gerade einmal die zwei Euro für den Weg zusammen. Warum er überhaupt hierhergekommen sei? Ihm gefällt das Land, die Menschen, die so offen sind, das warme Wetter. Gekommen sei er, um mit dem Rucksack durchs Land zu ziehen, geblieben ist er dann auch, versucht auf der Straße etwas Geld zu verdienen. Wie er das macht, wollte er mir ebenso erzählen wie was der Auslöser dafür gewesen war, dass er nicht in Deutschland bleiben wollte.
Wer schon einmal in Madrid war, der hat auch die Obdachlosen von Madrid gesehen. Wenn ich in Madrid unterwegs bin, sehe ich sie überall, manche Gesichter erkennt man wieder. Die Frau, die immer vor demselben Geschäft sitzt, die andere Frau am Metroeingang, die Männer, die in der Metro Gitarre spielen, die Männer, die in den Zügen um Geld bitten. Wie es dazu gekommen ist, dass sie jetzt hier sind, frage ich mich oft, genau wissen kann man es wohl nicht von allen. Spanien kämpft mit der Krise, mit der Jugendarbeitslosigkeit, auch mit der Armut. "Spanien Live" spricht in einem Artikel von rund 500 Mahlzeiten, die die Madrider Suppenküche "San Francisco" Tag für Tag verteilt. Andere Zeitungen berichten davon, dass ein Großteil der Obdachlose nicht in die Gruppe der Alkoholiker, Drogensüchtiger oder ähnlicher Fälle zählt, es sind ganz normale Menschen, vom Schicksal gezeichnet. Arbeitsplätze gibt es nicht viele, Sozialhilfe ist auch nicht einfach zu bekommen, die Armut schlägt um sich.
Im Januar schrieb der Kölner Stadt-Anzeiger, dass Madrid mit knapp 700 Obdachlosen rechnet, die eine Hälfte davon Spanier, die andere Hälfte Ausländer. Damit hätte ich persönlich nicht gerechnet, war ganz überrascht, als sich zwei Obdachlose in Madrid als Deutsche entpuppten. Ich hätte noch tausend Fragen gehabt, die ich den beiden deutschen Männern im Metroschacht gerne gestellt hätte. Aus Nürnberg kam der eine, "Ich bin a Frank", sagt er da, und als ich es mit einem Lachen wiederholen will, korrigiert er mich, ich kann den Satz wohl nicht aussprechen. Zwei Stationen fuhren sie mit uns mit, bevor sie aus der Metro ausstiegen, der Sicherheitsmann schenkte uns noch ein dankbares Lächeln und zuckte dabei entschuldigend mit den Schultern. Ich war in diesem Moment unheimlich glücklich, nicht weggeschaut zu haben, denn hätte ich weggeschaut, hätte ich nie die Möglichkeit gehabt, überhaupt einmal mit einem von den Menschen zu sprechen, von denen ich mich so oft gefragt habe, welche Geschichten hinter ihnen stehen. Bis heute habe ich das Gefühl, in Spanien immer wieder unheimliche Hilfsbereitschaft erfahren zu haben, und an diesem Abend habe ich einfach einmal wieder gemerkt, dass man für seine Hilfsbereitschaft auch immer etwas zurückbekommt - und wenn es eine Geschichte ist, die mich auf seltsame Art und Weise wirklich berührt hat.