Noch einmal Leeds. Noch einmal EVS. I
Zwischenstopp: Ein Blick nach Harrogate
Zwischenstopp: Ein Blick nach Harrogate
Gute Gründe
Leeds. Noch einmal andere Freiwillige sehen. Es erscheint völlig unsinnig, dass ich in den allerletzten Wochen bin. Dieses Wochenende ist als kleiner Problemfall aus meinen Planungen herausgekommen, nachdem ich am Ende grundlos den eigentlich vorgesehenen Besuch Glasgows um eine Woche verschoben hatte. So kurzfristig kriegt man eben keine Jugendherberge mehr.
Eigentlich entstand Leeds aus einer Überlegung, wohin ich Hanni noch mitnehmen könnte, denn die Stadt ist sehr nah sowohl an York als auch an Harrogate, was auf der Fahrt nach Halifax so den Gefallen des merkwürdigen türkischen Mädchens gefunden hatte.
Zwar war ich nun zum Alleinreisen verdammt, aber immer noch waren Wochenenden zu füllen. Mit nur so wenig Zeit übrig kann ich es kaum noch ertragen, freie Tage auf der Farm zu verbringen. Mit meinem neuentdeckten Talent für Selbsteinladungen und ohne meine nun vergessenen Skrupel habe ich also einen Anruf nach Leeds geschickt und werde nun den Weg selbst gehen.
Überlandfahrt
Eigentlich bereits für Freitagabend geplant, ging die Reise erst am nächsten Morgen los, nachdem mich Hanni kurzfristig gefragt hatte, am Freitag zu ihr zu kommen. Ein Abend mit einem schreienden Baby, einer Tour über den örtlichen Friedhof und durch Hannis neues altes Minizimmer sowie einem Film von Feministinnen für Feministinnen und einem merkwürdigen türkischen Mädchen sichtlich erfreut über jeden bestraften Mann. So sind meine Freunde hier.
Daher war ich erst nach Mitternacht im Bett und musste eine Stunde früher als gewöhnlich raus, Ihr kennt das ja schon. Ganz so schnell wie beim misslungenen Trip nach York war ich zwar nicht in Durham, weil mich natürlich ein Bus im Stich ließ, aber dafür konnte ich auf dem Bahnhof quasi gleich in einen Zug springen.
Auf York stieg ich um nach Harrogate. Auch wenn das eine ganze Weile dauerte, da es sich natürlich um eine von diesen Bummelbahnen handelte. Dafür kann man den kleinen Landbahnen auf den kleinen Landstrecken einen gewissen Reiz nicht absprechen.
Wenn ich daran denke, dass mich meine erste Reise nach Edinburgh einen Monat Planung gekostet hat, scheint es kaum glaubhaft, wie ich inzwischen bloß noch zum Bahnhof gehe und munter von einem Zug in den nächsten springend durchs halbe Land fahre.
Harrogate: Die ersten Eindrücke
Harrogate hatten wir damals nur vom Bus aus gesehen. Mein Gott, das war im April... Es hatte sehr schön, sehr reich ausgesehen, voller Parks und vornehmer Hotels. Durch den morgendlichen Lapsus mit dem Bus war ich erst mittags an meinem Zwischenziel und bereits fünf Stunden wach und unterwegs. Die kurze Nacht (das heißt, die generelle Vernachlässigung der eigentlichen Rolle der Nächte) sowie das eher symbolische Frühstück machte sich inzwischen bemerkbar.
Noch im Bahnhof habe ich erst einmal die Tickets nach Cambridge bestellt. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich überhaupt noch auf meine Ausgaben geachtet habe; dieser Tag allein muss mich Unmengen gekostet haben. Draußen war ich aber erst einmal etwas verloren, weil eben keine Ahnung vom Ort und auch keine sofortige Orientierung, sondern bloß ein paar Läden hier und da, ein Einkaufszentrum und eher Kleinstadtatmosphäre.
Aber wozu wurde das Schlendern erfunden, wenn nicht, um zwanglos kleine Städte zu erkunden? Zuerst habe ich zwanglos einen Buchladen erkundet und sogar etwas mitgehen lassen, für Geld. Dabei handelt es sich um einen Titel namens „Disgrace“ und ich vermute, dass es sich um das Original vom „Menschlichen Makel“ handelt. So ganz sicher bin ich mir noch nicht, aber selbst wenn nicht: es ist schön kurz und die ersten Seiten haben mich gleich im Sturm genommen. Das erste Buch, bei dem ich ehrlich auf ein Happy End hoffe. Denn sonst werde ich mich aus einem Fenster schmeißen, bevor ich überhaupt erst den (also im Buch) soweit so langwierigen wie hoffnungslosen Versuch unternehme, dem rat race zu entkommen...
Hinter der Fassade
Wie dem auch sei, noch war ich mit dem Versuch beschäftigt, meinen Magen zu füllen, denn zuerst kommt das Fressen und dann alles andere. So einfach war das gar nicht! Denn Harrogate besteht primär aus Reihen von extrem stilvollen, extrem teuren Cafés, wo ich mir mit Sicherheit nichts weiter als einen Kaffee leisten werde. Wo sind die billigen Läden für garantiert vitaminfreie Nahrung?
Auf dem Weg kam ich hilfreicherweise an der Touristeninformation vorbei und erstand eine noch hilfreichere Karte. Zu meiner Schande muss ich zugeben, mich in einer dieser „Bäckereien“ mit einem Sandwich versorgt zu haben. Was gar nicht nötig gewesen wäre, denn als ich mich kurz darauf in ein Café setzte, teilte man mir mit, dass man mittags etwas zu essen bestellen müsse und mir war es zu dumm, noch weiter zu gucken. Die gefüllte Kartoffel konnte dann so gut sein wie sie wollte - sauteuer wie sie war, machte sie mir diesen von außen so nett aussehenden Laden vollends widerwärtig. Eine komische Stadt. Harrogate ist, was wir hier „posh“ nennen und wer jetzt nicht weiß was das heißt, schaue sich einfach mal Harrogate an.
Den Schein durchschaut
Harrogate: sehr nahe bei York und im Stil auch ähnlich, jedoch weit mehr französisch und kontinental orientiert als York, welches die traditionelle englische Kultur verkauft. Jede Menge Läden, die Hälfte davon mit französischen Namen. Aber im Gegensatz zu jeder anderen dezidiert frankophoben Stadt auf dieser Insel habe ich keinen einzigen echten Franzosen getroffen. Auch keine Spanier, so etwas Nutzloses.
Statt dessen die extrem zur Schau gestellte Kopie mediterranen Lebensstils. Sogar ein Montpellier-Viertel gibt es dort. Alles in allem finde ich Harrogate, trotz des Zuckers für die Augen, ziemlich langweilig. Außer einigen Parks gibt es eigentlich nichts weiter, wenn man sich nichts gerade ausgesprochen für Einkaufen in teuren Geschäften interessiert. Also gut, ich habe mir eine Scheibe „Eichengeräucherten Cheddar“ geleistet, aber nicht einmal der war überzeugend.
Ohrengraus
Das Café in dem ich war, war eine Verkörperung des Ganzen; wie das Mark Toney in Newcastle von außen weit stilvoller als von innen. Nannte sich auch gleich „Le Jardin“. Die freundlich lächelnden Kellnerinnen sagten an der Tür verlässlich „Hallo“ und „Schönes Wochenende“ mit der menschlichen Ausstrahlung eines McDrive Sprechautomaten.
Mal abgesehen von einem entnervend glücklichen Pärchen am Nachbartisch wurde mir die unfreiwillige Mahlzeit später noch von zwei extrem vornehmen Ladies verschlimmert, die sich direkt in mein Sicht- und Hörfeld setzen mussten. Der Kellner fragt sie, ob sie Pommes mit ihrem Essen haben wollten, und sofort schrillt die Eine gekünstelt empört „Waaaaas hast Du gesagt?!“ als wenn es ein Schimpfwort wäre. Na, zum Glück hat sie ihre Freundin dabei, um mit jemand Kultiviertem über senfgedünstete Artischocken und muschelgefüllte Sonnenblumenblüten zu reden.
Ich hasse diese Reichenorte, wo man sich ohne eigenen Mercedes gleich als Mensch zweiter Klasse behandelt vorkommt. Man fühlt sich dauernd beobachtet und nur widerwillig akzeptiert in ihrer exklusiven Gesellschaft.
Ehrenrettung: Die Valley Gardens
Nun gut, es gibt auch normale Leute, wie mir ein Spaziergang über die Parkfelder beweist, die hier „Fray“ heißen. Auch wenn mir die nette alte Frau nicht nur die interessanten Orte der Stadt erklärt, sondern auch gleich die gesamte Leidensgeschichte ihres kleinen Dackels.
Unbestreitbar schön sind dann die Valley Gardens, also die „Talgärten“. Ein bunter Park, in einer Senke mehr als einem Tal. Einfassungen und einige wenige Gebäude im Stil der Volksparks des frühen 20. Jahrhunderts. Kleine weiße Holzpavillons auf dem grünen Rasen der Wiesen. Gewässer, gut besuchte Tennisplätze und Golfkurse, ein voller Kinderspielplatz, vielfarbige Blumenbeete. Altmodische Laternen säumen die Wege und die Bänke sind voller „Erinnerungen an Unsere(n) liebe(n)...“.
Ein Ort voller Menschen und Leben, ein Geschnatter allerorten, Kinder kreischen. Von einem Terassencafé tönt Gitarrenmusik herüber. Ein zweites hat seine Stühle direkt vor den trüben Ententeich gestellt, in dessen Mitte kleine Bambusinseln stehen und wo Mütter mit ihren Küken hastig das Dickicht verlassen, wenn man zu nahe heran tritt. Durch die Bäume sieht man die Fassaden der ehemaligen Kurhotels. Leute führen ihre kleinen Hunde aus, die andere Familien mit kleinen Kindern anbellen. Jungen kicken Fußbälle durch die Gegend. Jetzt sehe ich es richtig, die Gitarrentöne kommen nicht von einem Café, sondern einer Hochzeitgesellschaft.