„More than Homeless“ – Bewusstsein um das Thema Obdachlosigkeit
Wenn eine Person obdachlos ist, zehrt das nicht nur an den körperlichen, sondern auch an den psychischen Kräften. Schon der Gedanke, obdachlos zu sein, bedeutet doch, dass man niemanden hat, zu dem man gehen kann. Keiner kann einen aufnehmen, oder vielleicht nur für eine Nacht und schon dann fühlen sich die meisten wie Eindringlinge und möchten keine Last für ihre Freunde sein.
Seit August letzten Jahres bin ich ESK Freiwillige bei DePaul UK im Norden Englands, beende also in knapp zwei Monaten meinen Dienst.
DePaul ist eine internationale Wohltätigkeitsorganisation, die sich vor allem um junge Männer und Frauen im Alter von 16 bis 25 Jahren kümmert, welche aufgrund verschiedener Ereignisse obdachlos geworden sind. Weltweit gibt es DePaul Einrichtungen, welche die jungen Leute beziehungsweise Klienten, wie sie oft genannt werden, durch Unterkünfte mit 24/7 Personal- beziehungsweise Sozialarbeiteranwesenheit unterstützen, sowie Jugendzentren, Nightstop für dringende Notfälle und Outreach für jene Klienten, die bereits unabhängiger leben können und möchten, aber noch Unterstützung benötigen, um ihre erworbenen Fähigkeiten und neue Unterkunft beizubehalten und sich allmählich in die neue Gemeinde einzugliedern.
Als ESK Freiwillige besteht meine Aufgabe und die meiner Mitbewohner darin, den jungen Leuten dabei zu helfen, unabhängiger zu werden, neue Dinge zu lernen – wie zum Beispiel kochen, backen oder sich in Debattierclubs besser ausdrücken zu lernen –, aber auch Zeit mit ihnen zu verbringen, ihnen ein offenes Ohr zu bieten, sie aus ihrem Zimmer zu holen und etwas mit ihnen zu unternehmen.
Beispielsweise gibt es bei uns monatlich ungefähr zwei etwas größere Tagesausflüge, bei denen wir zusammen mit den Klienten in eine andere Stadt fahren, eine Farm besuchen oder sogar in einen Abenteuerpark fahren. An Feiertagen wie Halloween oder während der Weihnachtszeit veranstalten wir Workshops, bei denen wir gemeinsam basteln und backen oder zu eine gemeinsamen Weihnachtsessen zusammenkommen. Jährlich gibt es ein bis zwei Trips die mehrere Tage dauern, deren Hauptziel zwar mit der Verbesserung von DePaul oder politischen Anliegen zu tun hat, aber vor allem auch dazu dient, die Klienten besser kennenzulernen und ihnen eine Gelegenheit zu geben, Erfahrungen zu sammeln und neue Leute kennenzulernen.
In all der Zeit lernt man unglaublich viel, nicht nur über das soziale System hier in England oder die Sprache, sondern vor allem lernt man die Geschichten der Jugendlichen kennen, wo sie herkommen, was ihre Ziele und Interessen sind und vielleicht auch wie es dazu gekommen ist, dass sie diesen Dienst in Anspruch nehmen müssen. Aber vor allem lernt man sie als Menschen kennen, denn wie der Titel dieses Beitrags schon sagt, diese Menschen sind mehr als nur obdachlos.
Durch meine Erfahrungen hier habe ich gelernt, wie wenig man eigentlich schätzt, was man hat, und wie gut es einem doch den Großteil der Zeit geht. Oder ums es anders zu sagen: Ich habe gelernt, das was ich habe viel mehr zu schätzen, als ich es vorher tat, denn im Großen und Ganzen geht es mir gut. Natürlich ist kein Leben perfekt, aber welches ist das schon.
Eine weitere Feststellung, die ich gemacht habe ist, dass ich die Menschen die auf der Straße leben bewusster wahrnehme. Gesehen habe ich sie natürlich schon vorher, aber seitdem ich mit jungen Erwachsenen zusammenarbeite, die ähnliche Erfahrungen haben, denke ich bewusster darüber nach, wer der Mensch, der oftmals einfach als „Obdachloser“ abgestempelt wird, eigentlich ist.
Der Gedanke, dass ich am liebsten jedem Einzelnen von ihnen helfen würde, kommt dabei jedes Mal. Aber ich bin nicht reich und habe nicht die Mittel, das zu tun. Was ich allerdings tun kann ist, ihnen zuzulächeln, zu fragen wie es ihnen geht und vielleicht ein paar nette Worte zu wechseln.
Denn manchmal kann das einen riesigen Unterschied machen.
Vor wenigen Wochen gab es einen traurigen Zwischenfall bei unserer Organisation.
Wir hatten schon vorher durch unsere Mitarbeiter von Vorfällen wie diesem gehört, aber nie damit gerechnet, dass so etwas tatsächlich passieren könnte, während wir hier sind.
Ein Klient hat sich tragischerweise das Leben genommen.
Ich kannte ihn recht gut, da ich einige Male mit ihm zusammengearbeitet habe, weshalb diese Nachricht umso schockierender war und es auch einige Zeit gedauert hat, um zu realisieren, dass es tatsächlich wahr ist.
Dass ich dachte, er wäre auf dem Weg der Besserung zeigt, wie schlimm es manchen Menschen geht, auch wenn es von außen nicht so scheint.
Wenn eine Person obdachlos ist, zehrt das nicht nur an den körperlichen, sondern auch an den psychischen Kräften. Schon der Gedanke, obdachlos zu sein, bedeutet doch, dass man niemanden hat, zu dem man gehen kann. Keiner kann einen aufnehmen, oder vielleicht nur für eine Nacht und schon dann fühlen sich die meisten wie Eindringlinge und möchten keine Last für ihre Freunde sein.
Das belastet das Herz ungemein. Und wenn es soweit kommt, dass sie tatsächlich auf der Straße schlafen, müssen sie mit Schimpfwörtern und abwertenden Blicken rechnen, die jegliche Gefühle, ein Mensch zu sein, zunichte machen. Dann kommen vielleicht noch Familienbrüche, Kindheitstraumata oder psychische Erkrankungen hinzu und die Wohnsituation ist nicht mehr das einzige Problem.
Zwar gibt es viele Einrichtungen und Hilfsorganisationen, wie DePaul, die diesen Menschen die Möglichkeit geben, ein eigenes Bett zu haben und sich durch den Staat finanzielle Unterstützung zu suchen, jedoch rücken die psychischen Nöte dabei in den Hintergrund.
Nach meiner Erfahrung hier in England ist es unheimlich schwer, einen Termin bei einem Psychologen zu bekommen. Doch selbst wenn man einen bekommt, bedeutet das nicht, dass die Klienten sich einer wildfremden Person sofort öffnen. Dazu sollte eigentlich ihr Sozialarbeiter dienen, mit dem sie eine Beziehung aufbauen, doch der kann meistens nicht helfen – um es noch einmal zu verdeutlichen, das sind die Erfahrungen, die ich hier gemacht habe –, da er dazu nicht qualifiziert genug ist.
Zwar wird den jungen Leuten dabei geholfen, Grundfertigkeiten zu erlernen, vielleicht ein bisschen Freiwilligenarbeit zu errichten und sich dann für Jobs zu bewerben, doch das hilft alles nichts, wenn sie mental instabil sind oder sogar psychische Probleme entwickeln.
Nennenswert wären dabei Depressionen, Angstzustände, Traumata oder selbst Schlafprobleme, durch welche sie Medikamente einnehmen, die schnell zu einer Abhängigkeit führen können.
Ein weiteres Beispiel sind Selbstverletzungen. Viele der jungen Leute haben Narben durch Wunden, die sie sich selbst zufügen. Doch selbst wenn sie es zugeben und mit ihrem Sozialarbeiter darüber sprechen, wird ihnen selten mehr als ein offenes Ohr angeboten, was zwar viel ausmachen kann, aber meiner Meinung nach nicht genug ist.
Wenn jemand ein traumatisches Erlebnis hatte oder unter mentalen Problemen leidet, was leider auf viele der Klienten zutrifft, kann demjenigen nur dadurch geholfen werden, es aufzuarbeiten, was nur mit jemandem möglich ist, der sich damit auskennt und dazu ausgebildet ist.
Nur dann können sie mit ihrem Leben weitermachen und sich vielleicht eine andere Art von Ventil suchen, ihre Emotionen herauszulassen, wie in etwa Sport, Zeichnen, Kochen oder Ähnliches.
Der Titel dieses Beitrages, „More than Homeless“, war gleichzeitig der Titel einer Kunstausstellung, die vor kurzer Zeit hier stattgefunden hat, welche wir ins Leben gerufen haben.
Inhalt der Ausstellung waren Kunstwerke unserer Klienten.
Dabei benutzten wir Umzugskartons als „Leinwände“ – da diese klischeehaft für Obdachlosigkeit stehen – und baten unsere Klienten, ihre Identitäten darauf mittels Fotos, Zeichnungen, Texten oder Basteleien darzustellen. Ziel des gesamten Projektes war es, die Leute darauf aufmerksam zu machen, wer die Personen hinter der Fassade der Obdachlosigkeit sind, dass auch sie Träume und Ziele haben und um zu zeigen, dass es jedem passieren kann, egal aus welchen Verhältnissen oder Umständen man kommt. Denn jeder hat seine Geschichte und das Recht, als vollwertiger Mensch wahrgenommen und behandelt zu werden, ganz egal wie seine Wohnsituation ist.
Egal wo wir sind oder in welchem Jahr wir leben, es ist wichtig, dass wir alle Menschen mit Respekt behandeln und ihnen so entgegenkommen, wie wir es uns von ihnen wünschen würden.
Es gibt so viele Probleme in der Welt, die größer sind als wir als einzelne Menschen.
Das Mindeste das wir tun können, ist als eine Gemeinschaft zusammenzuhalten. Denn obwohl wir Individuen mit unterschiedlichen Herkünften, unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen Talenten sind, sind wir doch grundsätzlich alle gleich.
Um also so vielen Menschen wie möglich das Gefühl zu geben, als Mensch akzeptiert, geschätzt und geliebt zu werden, sollten wir bewusster durch dieses Leben gehen, jedem mit Freundlichkeit begegnen, vielleicht sogar einfach nur eine andere Person fragen, wie es ihr geht. Denn etwas wert ist das auf jeden Fall.
Link zur offiziellen Website meiner ESK Organisation: https://uk.depaulcharity.org/
Links zum Thema:
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/obdachlosigkeit.html
https://www.crisis.org.uk/ending-homelessness/health-and-wellbeing/mental-health/ (auch eine Organisation hier in England)
https://www.mentalhealth.org.uk/blog/homelessness-and-mental-health