Mein besonderer Mensch
Ich habe viele Personen in meinem Leben kennengelernt und ich werde wahrscheinlich noch viele kennenlernen. Ob diese Menschen in meinem Leben bleiben werden, weiß es ich nicht. Menschen kommen, Menschen gehen. Auf jeden Fall hat jede Person, die ich getroffen habe, eine Spur irgendwie hintergelassen: eine Erinnerung von Freundschaft oder von Hass. Ich habe immer versucht etwas von jeder Person zu lernen und danach sie als Gute oder als Böse abzustempeln. Als europäische freiwillige in Deutschland habe ich eine Person getroffen, die mich komplett verändert hat.
Mit 22 Jahre habe ich mich entschieden ein europäisches freiwilliges Jahr in Deutschland zu machen. Es ist natürlich nicht mein erstes internationales Projekt und ich hoffe, dass es auch nicht das letzte sein wird. Ich wusste nicht genau, wo ich ankommen werde oder welche Personen kennenlernen werde. Nach sechs Monate könnte ich sagen, dass ich hier richtig bin.
Ich war so froh um informiert zu werden, dass ich für einen Europäischen Freiwilligen Dienst in der Hauptstadt Thüringens, Erfurt, ausgewählt wurde. Ein Jahr lang in der Landeszentrale für politische Bildung schien sehr interessant zu sein. Mitarbeiten bei der Herstellung der aktuellen Publikationen hat mir die Möglichkeit gegeben mehr Informationen über Deutschland zu bekommen. Verschiedene Texte zu lesen und zu korrigieren, zahlreiche Gespräche mit Autoren zu führen, Übersetzungen zu verfassen, an Veranstaltungen mitzuwirken, sind nur ein paar von meinen täglichen Aufgaben. Dadurch werden sich meine Deutschkenntnisse und meine digitale und technische Fähigkeiten verbessern. Mindestens habe ich schon von dem Anfang darauf gewartet. Es ist aber nicht nur das, sondern mehr. Viel mehr als ich mir vorstellen könnte.
Im Rahmen des Programmes habe ich eine Person getroffen, die mich komplett verändert hat. Diese Person ist eigentlich mein Tutor, der sich um meine organisatorische Sachen kümmern muss. Wir arbeiten in einem Büro zusammen und wir sprechen oft über die erforderlichen Aspeke eines Textes. Ich bin immer noch begeistert und fasziniert von ihm - zu sehen, wie man so perfekt seine Arbeit machen kann. Dafür habe ich ihn verehrt und stundenlang beobachtet. Er hat niemals einen Witz im Büro gemacht oder gelächelt. Er war die ganze Zeit seriös und respektvoll. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, warum er so distanziert und schweigsam war. Er hat immer nur über die Arbeit geredet. Kurz und deutlich. Nicht mehr, nicht weniger als gesagt worden sollte. Ich war erstaunt.
So ist die Zeit in meinen drei Monaten bei der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen vergangen. Kurz vor Weihnachten kam er zu mir um mich auf einen Kaffee einzuladen. Fünf Minuten war ich stumm. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich habe einfach zugesagt und nach der Arbeit sind wir zu einem schicken Cafe gegagen. Ich habe einen Tee bestellt, er einen Kaffee. Langsam haben wir uns über verschiedene Themen auf Französisch unterhalten. Die Diskussionen sind nacheinander gekommen und alle waren sehr lustig und angenehm. Es war unglaublich schön. Wir haben wirklich viel gelacht und herausgefunden, dass wir viele Sachen gemein hatten. Er war tatsächlich eine andere Person, komplett anders. Es schien als ob er mehrere Identitäten gehabt hätte. Mehrere Facetten seiner Persönlichkeit.
In dem nächsten Tag auf der Arbeit ist er wieder kalt und zurückhaltend geworden. Ich war verunsichert und in die Irre geführt. Ich habe es versucht mich genauso wie er zu verhalten: berufsmäßig und auf die Aufgaben konzentriert. Es hat funktioniert. Am nächsten Tag haben wir uns wieder nach der Arbeit getroffen. Wieder haben wir uns auf Franzözisch unterhalten und wieder viel gelacht. Bei der Arbeit spricht er mir auf Deutsch mit einem befehlerischen Ton und in privat redet er anschmiegsam und witzig auf Französisch.
Von Tag zu Tag habe ich gelernt, verschiedene Facetten meiner Persönlichkeit zu manipulieren. Ich wollte mich unbedingt auch in zwei Personen aufteilen: eine für das berufliche Leben und eine für das private Leben. Manchmal ist es perfekt und ich kann sehr gut auf die Rolle der unnahbaren Frau spielen, aber manchmal nicht.
Eines Tages geschah es, dass mein kaltblütiger Tutor auch bei der Arbeit Witze gemacht hat. Nach einem endlosen Termin mit einer Autorin, haben wir eine Pause gemacht. Plötzlich hat mein Tutor seine sauere Persönlichkeit zu der anderen verändert. Er fragte mich lächelnd, wie ich die Diskussion gefunden habe. Unsere kurze Pause hatte sich auf 3 Stunden verlängert. Drei Stunden lang haben wir geredet, alles mögliche außer Arbeit. Er hat mir viele Sachen von seinem Leben erzählt und ich ihm auch. Der Zauber wurde aber von einem Telefonat unterbrochen:
-Landeszentrale für politische Bildung, guten Tag!
So ist er wieder kalt geworden. Nach dem Gespräch verließ er das Büro ohne ein Wort zu sagen. Ich blieb sitzen und schmunzelte.
Sechs Monate sind noch geblieben. Sechs Monate voll von Lernen und vom Perfektionieren. Täglich versuche ich meine Persönlichkeit nach der Umgebung auszuformen. Es ist nicht schwer, aber auch nicht einfach. Das bedeutet eigentlich professionell zu arbeiten und seine Aufgabe perfekt zu erfüllen. Nach einem Jahr in Deutschland, werde ich bereit sein neutral bei der Arbeit mit der Menschen umzugehen: ohne Gefühle, ohne Gedanken, nur technisch. Und danach im privat ganz locker mit ihnen reden...genauso wie mein besonderer Mensch damals mit mir gemacht hat.