Magna Carta - Anatomie eines Schriftstücks
Wie kann ein einfaches Stück Papier Geschichte schreiben? In Salisbury kann man es erfahren!
Wie wäre es, wenn man durch eine Stadt flanieren kann, und den Geist der Geschichte einatmet? Wie wäre es, wenn man einen Platz betritt, und sich um Jahrhunderte zurückversetzt fühlt? Wenn man das Gefühl hat, gleich kommen Kutschen um die Ecke gebraust; Herren mit Melone und Stock, Damen mit Hüten und weiten Kleidern sich respektvoll auf der Straße grüßen und leichte Konversationen zu pflegen. Willkommen in Salisbury!
Wer in England reist, stößt unweigerlich auf diese Stadt mit ihren 40 000 Einwohnern. Malerisch im Süden Englands gelegen, in unmittelbarer Nähe zu Stonehenge und Winchester, der ehemaligen Hauptstadt England, – von Touristen überlaufen ist die Gegend dennoch nicht.
Doch was versprüht hier den alten Charme? Warum drängt sich hier die Impression einer glanzvollen Vergangenheit auf? Kleine verwinkelte Gassen dominieren die Stadtkarte, alles läuft auf die Kathedrale zu; ihr Turm ist mit 123 Metern der höchste Kirchturm in ganz England.
Den Takt, quasi das Metronom dieser Stadt, ist eine Uhr, die (wahrscheinlich) die älteste, technische und noch im Dienst stehende Uhr der Welt ist – man datiert sie auf das Jahr 1386. Bedingt durch ihre Bauweise - in der Kirche hängen schwere Gewichte, die mechanisch ein akustisches Signal aussenden – gibt sie nicht nur die Zeit für die Gemeinde in der Kathedrale oder der näherhin Umgebung an, sondern für die ganze Stadt.
Im Juni 1215 fand eine kleine Revolution statt – ein Schriftstück veränderte die Weltgeschichte. Jenes Zeugnis befindet sich heute sicher aufbewahrt in einem Nebenraum. Man kann, zumindest aus heutiger Sicht, von der Geburtsstunde des modernen Verfassungsrechts sprechen, so, wie wir es heute kennen.
Verfassungsrecht kann langweilig und dröge sein. In der Schule stöhnte die Klasse jedenfalls immer auf, wenn der Lehrer die „Bill of Rights“ oder das Grundgesetz besprechen wollte. Quellenarbeit in Geschichte ist zeitaufwendig und nicht immer interessant oder gar spannend.
Die Magna Carta jedoch ist spannend -der Inhalt ist revolutionär, die Umstände, in deren er dem König „Johann Ohneland“ abgepresst worden ist, nicht minder.
Der Beiname Johannes erklärt sich ganz einfach – sein Vater (König Heinrich II) überging ihn beim Erbe einfach und führte damit seinen Sohn vor. Der Beiname „Ohneland“ mag zwar eine höhnische Konnotation haben, entsprach aber den Fakten. Neben dieser Demütigung stand er zeitlebens im Schatten seines größeren (und politisch weitaus erfolgreicheren) Bruders – König Richard Löwenherz (während dieser Beiname wohl er nicht den Tatsachen entspricht...). Eine Niederlage in der Dauerschlacht mit Frankreich führte zu einem Aufstand des Adels, welcher sich durch die Schwache Position des Monarchen sowieso gestärkt sah. In gewisser Weise führte also eine Revolution der Aristokraten (also von „oben“) zu mehr Rechten der Bürger (nach „unten“). Die Herren Lords und Earls pressten „ihrem“ König in 63 Artikeln fundamentale Freiheiten ab, die heute die Grundlagen eines modernen Rechtsstaats bilden.
Ein Artikel besagt beispielsweise, dass „no freeman shall be taken or improisoned, or be disseised of his freehold, or liberties, or free customs, or be outlawed, our be exiled, or any other wise destroyed (...) but by lawful judgement of his peers, or by the law of the land. We will sell no man, we will not deny or defer to any man either justice or right.“
Die zentrale Forderung des Adels (Erhebung von Steuern nur mit ihrer Zustimmung) findet sich übrigens in der Geschichte wenige Jahrhunderte später noch einmal – im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg: no taxation without representation!