Liebesphilosophie - erhaben über jeden Zweifel
"… sich verlieben - das geht ganz schnell... manchmal!" Die Ankunft in Litauen ist für Andrea wie ein Blind Date. Schnell merkt sie jedoch, dass sich das Land leise in ihr Herz geschlichen hat.
… sich verlieben - das geht ganz schnell... manchmal!
Endlich! Das Flugzeug durchstieß die Wolkendecke und ein erster Blick auf meinen neuen Lebenspartner wurde frei: Litauen! So sah er also aus. Schon vorher auf die Schnelle gegoogelt (fast wie bei einem Blind-date), erstreckte er sich nun umso wirklicher und greifbarer tief unter mir. Wald, Wald, wo hin das Auge blickt, endlose, grüne Weiten!
Doch ich blieb vorsichtig und musterte nach der Landung meinen Zwangspartner skeptisch weiter. Eine komische Beziehung! Während es ihn wenig stört, ob ich mich für ihn interessiere oder nicht, bin ich doch vollkommen abhängig von ihm! Ein Jahr nun muss ich mit ihm leben, spontan entschieden, jetzt überrumpelt!
Aber er hat es mir leicht gemacht, ihn zu mögen. Zum einen ist er ausgesprochen attraktiv! Zum anderen humorvoll, warmherzig, bodenständig und sogar sensibel, wie sich später herausstellen sollte. Als erstes überraschte er mich mit einem großen, bunten Eimer voller …….. kaltem Wasser! Er kam zu spät! Sieben Stunden verbrachte ich auf dem Flughafen, voller Ungeduld, Angst und einer großen Portion Verlassenheits- Komplex, bis er endlich erschien. Wie sich später zeigte sollte das kein Einzelfall bleiben, aber irgendwie schaffte er es trotzdem, mich sofort für ihn einzunehmen. Bescheiden zeigte er mir seine Landschaft- und ich war hingerissen.
Litauens Landschaft ist wie geschaffen für große Mädchen, die noch immer von einem Prinzen auf einem Pferd träumen, der sie vom bösen Drachen errettet- nur war in diesem Fall der Drache ich selber, dessen größte Waffe das Selbstmitleid war! Ich fühlte mich wie eine Prinzessin, die außer Landes vermählt wurde und sich immens dagegen weigerte, den Prinzen, dem sie versprochen wurde, zu mögen. Nach und nach musste sie sich aber doch eingestehen, dass sie ihn mochte, mehr noch, dass sie sich in ihn verliebt hatte!
In der Welt, die an uns vorbeiraste, ging gerade die Sonne auf, und über den endlosen Hügelketten aus Feldern und Wald hing noch der Nebel. Die Blätter färbten sich schon bunt, alles war in ein warmes, ganz sanftes Licht getaucht. Die gelb gestrichenen Bauernhäuser aus Holz, die wie vom Wind verwehte Blätter in die Landschaft gestreut sind, die knorrigen alten Obstbäume und der kleine Gemüsegarten, daneben die angepflockte Kuh, das alles erzählt von einem einfachen, aber friedvollem Leben, das die verwöhnte Prinzessin aus Deutschland sich zwar sicherlich romantischer ausmalt, als es sein kann, jedoch eine Sehnsucht in ihr weckt nach Ungebundenheit und Frieden. Ich hatte mich verliebt in das Freiheitsgefühl, das mich jedes mal wieder überkam, sobald ich aus dem Autofenster schaute.
Nun ist ja die Prinzessin nicht aus dem Mittelalter, sondern eine aufgeklärte EU- Bürgerin aus dem 21. Jahrhundert. Sie weiß, dass Litauen lange Zeit unter dem Sowjet- Regime gelitten hat und noch heute nicht alle Defizite, geschweige denn Feindseligkeiten überwunden sind. Sie weiß, dass Litauisch eine der ältesten noch gesprochenen und schwierigsten Sprachen der Welt ist. Sie weiß ebenfalls, dass Litauen die weltweit höchste Selbstmordrate hat, dazu kommen hohe Raten an alkoholverschuldeten Autounfällen, weswegen in Litauen eine einzigartig traurige Mann- Frau Verteilung von 1:3 besteht.
Aber erlebt man Litauen anders, realistischer, wahrer, wenn man all das im Hinterkopf hat? Ich bin da geteilter Meinung. Zum einen ist es sicherlich wichtig, solche Dinge zu wissen. Man bekommt schneller ein Gespür für die Menschen hier, was sie beschäftigt, wie sie denken. Aber hätte ich z.B. einem großen Reiseführer getraut, der über die Stadt Panevezys, in der ich hier mein EVS leiste, schreibt: „die Stadt hält nichts für längere Besuche bereit“, wären mir Begegnungen und Erfahrungen entgangen, die ich nun schmerzlich vermissen würde.
Kurz: ich habe mich einfach auf Litauen eingelassen und- verliebt!
Nun hatte ich ja schon erwähnt, dass sich die Prinzessin anfangs dagegen sehr gesträubt hat. Wie man normalerweise Krankheitssymptome nachschlägt, um zu erfahren, welcher Krankheit man erlegen ist, so googelte ich den Begriff „Verliebtheit“, um mir selbst klarzuwerden, was genau mich da befallen hat. So fand ich folgendes:
„Verliebtheit ist ein intensives Gefühl der Zuneigung.“ Gut, so weit erst einmal ertappt. Ich fühle mich hingezogen zu den Menschen hier, die dich nicht nur anstrahlen, wenn sie merken, dass du aus einem anderen Land kommst und doch versuchst Litauisch zu sprechen, dir geduldig den Weg erklären und meistens doch plötzlich ihre Erklärungen abbrechen, um einfach mit dir mit zu gehen. Ich fühle mich angezogen von ihren Geschichten, die alle eine ungeheure sanfte Mystik und Naturverbundenheit ausstrahlen und nicht nur Kinder in den Bann ziehen. Mit ihren Sagengestalten, alten Bräuchen und liebevoll- abergläubischen Weisheiten geben die Litauer ihrem Leben einen Hauch von mystischer Schönheit, fern von aller groben und langweiligen Realität. Da sollte man sich unterstehen, in einem Raum, in dem sich ein Kind aufhält, zu pfeifen, das lockt die bösen Geister an! Und ist einem beim Kartoffelschälen das Messer heruntergefallen, sollte man die Seele des Hauses schnell mit einer Schale heißer Milch beruhigen. Das Leben hier ist eine Fülle von Geheimnissen, und man fühlt sich so unendlich aufgehoben, wenn man in einige von ihnen eingeweiht wird. Als Gast ist man sowieso König, da bekommt man garantiert das beste und größte Stück Fleisch und wird hinterher vom Sohn des Hauses zum traditionellen Tanz aufgefordert (und danach natürlich für sein Talent gelobt, obwohl man schon nach zwei Minuten mit hochrotem Kopf und Atemnot lachend aufgegeben hat).
„Eine allgemeine Interpretation versteht Verliebtheit im engeren und Liebe im weiteren Sinn zugleich als Metapher für den Ausdruck tiefer Wertschätzung.“ Noch ein Symptom, das zutrifft! Zum Beispiel schätze ich es hier so sehr, dass man noch „ehrliche“ Berufe finden kann. Marktfrauen preisen schreiend ihre Waren an, zetern und feilschen, aber sie haben Ahnung von dem, was sie dir anbieten! Kauft man fern von den großen Supermarktketten, beraten einen echte Beeren- und Pilzkenner, auf Nachfrage gibt es noch einen Geheimtipp für die eigene Käse- oder Schnapsherstellung.
Auf Äußerlichkeiten wird, mit Ausnahme der Mode, kaum Wert gelegt. Für den Westeuropäer ist es immer wieder ein Schnitt ins eigene Fleisch, wenn er erkennen muss, dass selbst im heruntergekommendsten Büro mit schiefen Schranktüren und veralteten Geräten gute Arbeit geleistet wird, die dem westlichen Standard in Nichts nachsteht.
„Verliebtheit äußert sich in Gefühlen wie Sympathie, Vertrauen, außerordentlichem Glück und Sorge um den anderen.“ Aber jetzt sehen wir mal von den Momenten ab (ich gebe zu, es waren viele), in denen ich einfach nur tiefe Zufriedenheit und Glückseligkeit empfunden habe, hier zu sein: Wer würde sich nicht sorgen um ein Land, dass sich selbst so herab wertet? Wie oft werde ich gefragt, warum in aller Welt ich mir gerade Litauen ausgesucht hätte, es wäre doch so klein, unbedeutend, zurückgeblieben! Dieser ungesunden Bescheidenheit, die schon in Richtung peinlichem Unwohlseins ausufert, kann ich nur kopfschüttelnd entgegentreten. Warum nur neigt die Menschheit immer dazu sich selber zu bemitleiden? Warum erkennen sie nicht, dass genau das- ein kleines Land, ein unbekanntes Land zu sein- so große Schätze in sich bergen kann? Wahrscheinlich, weil es zu wenig Menschen gibt, die ihnen sagen: ich liebe dein Land! Gerade, weil es so ist, wie es ist! Weil ich es mag, dass bei dir im Winter minus 23 Grad keine Seltenheit sind! Weil ich es mag, dass man bei euren drei Millionen Einwohnern andauernd berühmte Persönlichkeiten trifft! Weil ich euer Essen mag, egal ob fettig, kalorienreich oder deftig. Weil ich es mag, dass die Lebensmittelverpackungen bei euch in der Originalsprache gedruckt werden und die Kinofilme in der Originalsprache laufen und ihr deswegen ein viel besseres Gespür für andere Länder und deren Eigenheiten habt.
In diesen Momenten bekomme ich Wut auf große Industrienationen, die den Menschen hier das Gefühl vermittelt, etwas Niederes zu sein. So verdrängt Halloween Allerheiligen, ein riesiges Kaufhaus wird 40 Meter neben das letzte gesetzt, Karaoke lässt die alten Volkslieder vergessen, überall wird versucht, dem Westen in nichts nachzustehen. Warum?
Litauen, ich liebe dich so, wie du bist! Weil „Liebe im letzten Verständnis ein Gefühl oder mehr noch eine innerer Haltung positiver, inniger und tiefer Verbundenheit zu einer Idee ist, die den reinen Zweck oder Nutzwert einer Beziehung übersteigt und sich in der Regel durch eine tätige Zuwendung zum anderen ausdrückt. Liebe wird hier als bedingungsloses Öffnen verstanden.“ Litauen, ich bin offen für Dich, denn Du machst mich glücklich, und dafür liebe ich dich - wider allen Zweifel.
Die Prinzessin
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