Leben zwischen den Heimaten
Markus Malek, 19, weiß nur zu genau, wie sich ein zusammen wachsendes Europa anfühlt, denn er lebt es in persona. Als Wanderer zwischen deutschen und polnischen Welten erlebt er jeden Tag aufs Neue, was es heißt, Europäer mit zwei Heimaten zu sein.
Wenn ich einen neuen Kursus belegt habe, oder mich bei irgendeiner Firma bewerben möchte, sei es wegen eines Praktikums oder wegen meiner Arbeit, die ich in Zukunft ausführen will, bekomme ich immer die eine Frage gestellt. Und die ist mir garantiert. Woher kommen Sie? Oftmals sehr offen direkt zu Anfang oder eben sehr charmant am Ende des Gesprächs verpackt, möchte man doch in Erfahrung bringen, woher meine, für einen Deutschen eher ungewöhnlich harte Aussprache stammen könnte. Meine Eltern kommen aus Polen, antworte ich, wie jedes Mal noch mit einem Lächeln. In diesem Moment kann ich den Leuten ihren Aha-Effekt geradezu von der Stirn ablesen.
Es ist etwa 25 Jahre her, da kam erst meine Mutter hierher, um ihrer Tante, die schon lange in Deutschland lebte, Beistand zu leisten. Wenige Jahre darauf aber kehrte auch mein Vater, ihre so genannte Sandkastenliebe, ein. Es dauerte nur fünf Jahre und meine Wenigkeit war bereits unterwegs. Geboren in einem typischen Krankenhaus in einer der typischsten Städte, und zwar Düsseldorf, der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens. Langsam aber sicher bahnte ich mir den Weg. Ich begann zu sprechen. Ich begann zu laufen. Beides war lediglich zu Anfang eine Freude für meine Eltern, denn entscheidend wird erst später, was man spricht und wohin man läuft.
Genau das aber war ein wichtiger Punkt den meine Mutter und mein Vater bei meiner Erziehung beachtet hatten. Sie erzogen mich gegen den Willen meiner Familie nur einsprachig. Ich lernte also wie jeder andere im Kindergarten und auch in der Grundschule Deutsch und entfernte mich deutlich von meinen Wurzeln aus dem Osten. Egal wie sich meine Eltern wirklich entschieden hätten, ohne Folgen wäre beides nicht geblieben, und ich wäre auch so nie zufrieden damit gewesen.
Diese Folgen spürte ich aber erst viele Jahre später. Erst im Alter von sechs Jahren fuhr ich das erste Mal in das Land, aus dem ein großer Teil meiner Familie stammte. Von Düsseldorf aus sind es gute 600 Kilometer, die zurückgelegt werden müssen, um in die Gegend um Breslau (Wroclaw) zu kommen.
Dort, als ich das erste Mal auf neue Familienmitglieder traf, erkannte ich den Kulturschock, von dem ich lang verschont geblieben war. Kein einziges Wort Polnisch konnte ich sprechen. Wie also sollte ich mich mit diesen Leuten verständigen? Lange Zeit brauchte ich, um mir die wichtigsten Begriffe anzueignen, geschweige denn sie auch so auszusprechen, dass man verstand worum es ging. Und dennoch war ein Ruf hinüber zu meiner Mutter der Regelfall. Ich musste schließlich fragen, was dies und jenes auf Polnisch bedeutete. Ein Wörterbuch konnte ich schließlich nicht lesen. Es vergingen also die Jahre, bis ich mich an die völlig andere Grammatik und Aussprache gewöhnt hatte und lernte so die polnische Sprache wie ich auch die englische lernen musste.
Dreizehn gute Jahre sind seitdem vergangen und einem konnte ich wohl seither nicht entkommen. Aus meiner Aussprache entstand ein deutlich hörbares „R“ das mich jederzeit identifizierte, selbst wenn ich es nicht wollte. Was mir Bewerbungsgespräche nicht unbedingt vereinfacht hatte. Ich hatte zwar nicht das Gefühl, anders behandelt und als Ausländer abgestempelt worden zu sein. Allerdings fühlte ich mich durchaus ein wenig von den Leuten belächelt, als sie auf den Gedanken kamen, dass ich nicht von hier stammen könnte. Am schlimmsten fand ich es allerdings erst, wenn ich auch noch für mein gutes Deutsch belobigt wurde, dass ohnehin meine Muttersprache war. Ich wusste manchmal selbst nicht, was schlimmer war: Die Tatsache, dass andere mich für einen Ausländer halten könnten, oder der Gedanke, dass ich es vermutet hatte.
Lange Zeit scheute ich mich sogar davor, sehr viel Deutsch zu sprechen und überlegte wohl, welche Worte ich benutzte und wie viele R’s darin wohl vorhanden seien. Beispielsweise tauschte ich das Wort „sprechen“ durch „sagen“ aus. Viel half dies allerdings nicht.
Das gleiche Problem aber behielt ich auch in Polen. Dort war mein vermeidlicher Akzent nicht hart genug, um wirklich polnisch zu wirken. Und wieder war ich gebrandmarkt. Damit hätte ich vermutlich leben müssen. Doch irgendwie war der Gedanke unangenehm geworden. Denn je mehr ich alleine darüber nachdachte, desto schwieriger wurde es für mich zu verstehen, wohin ich im Grunde hineingewachsen war.
Gebürtig war ich Deutsch und auch jene Mentalität habe ich gerne angenommen und lebe sie auch heute noch. Andererseits aber bin ich durch meine Wurzeln verbunden und habe auch die Sprache meiner anderen Heimat angenommen. So wuchs langsam ein zweites Zuhause heran. Und obwohl ich es als ein zweites Zuhause ansehen konnte, fühlte ich mich nicht wirklich zu einem dieser beiden Orte dazugehörig. Denn: egal wo ich war und mit wem ich sprach, ich war immer irgendwie anders.
Dieser Gedanke zehrte bald an meiner Substanz. Viele Stunden verbrachte ich damit, mich einerseits meiner Abstammung hinzugeben und andererseits meinen Akzent zu verlieren. Allerdings blieb auch das lange Zeit erfolglos.
Es hätte mich vermutlich noch viele Jahre gekostet, bis ich tatsächlich den erhofften Erfolg ergattert und meinen Akzent ausgebessert hätte. Doch auch das wäre, überlegte ich darüber nur lange genug, nicht wirklich das gewesen was ich wollte. Denn auch ohne Akzent würde sich meine Unruhe zwischen den beiden Heimaten nicht legen.
Heute aber bin ich fast 20 Jahre alt, lebe immer noch zwischen dem ständigen Hin und Her und den 600 Kilometern, die meine beiden Heimaten trennen. Meine beiden Sprachen haben sich deutlich verbessert und es sind noch ein oder zwei dazu gekommen, die ich lernen wollte. Und auch immer noch bleibe ich nicht von meinen Akzenten verschont und auch immer noch werde ich gefragt, woher ich bloß stammen mag.
Eine Sache aber hat sich seither verändert. Ich habe meine beiden Heimaten aufgehört in eine Art Konkurrenz zu stellen und erkannt, dass ich kein Deutscher oder Pole sein kann und das auch vermutlich nie gewollt habe.
Wie über 700 Millionen anderer Menschen bin ich kein Deutscher, Pole, Franzose, Engländer oder Spanier mehr. Seit einiger Zeit habe ich gemerkt, dass meine Heimat nicht getrennt von hunderten von Kilometern ist, sondern auch diese mit zu meinem Europa gehören. Denn ich bin Europäer. Nicht erst geworden, sondern als einer geboren und aufgewachsen. Und an diesen Gedanken sollte ich mich langsam gewöhnen. Ebenso wie alle anderen um mich herum. Egal wo ich bin, ob auf der Straße, zu Hause oder in welchem Land auch immer. Denn Europa wächst zusammen.