Kulturschock
Mein bester litauischer Freund zeigt mir sein Zuhause. Mein erster wirklicher Kulturschock in Litauen.
Möchte mich dringend jemandem mitteilen.
Gestern hatte ich den größten Kulturschock - oder Schock an unterschiedlicher Lebensweise - hier in Litauen.
Vor allem, war es so eine Überraschung, so ein Schock, weil ich es einfach nicht erwartet hätte, zumindest nicht in so einem Ausmaß.
Am Mittwoch ist Matas zurück zu seiner Mutter gezogen, und gestern hab ich ihn zum ersten mal dort besucht.
Schon davor hatte Matas gesagt, dass die Wohnung seiner Mutter unordentlich ist, ich hatte also etwas an Vorwarnung, doch damit habe ich nicht gerechnet.
"Living here can be depressing - but also you get used to it after a while", ja das kann ich verstehen, doch ist es gut sich daran gewoehnen zu koennen?
Seine Mutter ist Zahnärztin, wie kann sie weniger als 3000 Lt verdienen? Ja, ich weiß sie arbeitet in einer Poliklinika, aber andere Zahnärzte in Litauen verdienen bis zu 10 000 Lt.
Wie kann sie so leben?
Sie muss sehr depressiv sein, sehr große Probleme haben, wenn sie seit Jahren keine Kraft aufbringt, diesen Zustand zu ändern.
"Matas, has your mother ever tried to get some help?" - "What help do you mean?".
Psychological help!, i want to say, aber ich traue mich nicht. Das ist doch nicht normal. Normal? Ja, was ist normal, was ist interessant... sehe schon die nächste philosophische Definitionsdebatte vom Zaun brechen, und eigentlich habe ich Angst ihn zu verletzen, wenn ich das sagen.
Ich steige aus dem Bus und rufe ihn an, um wie versprochen weitere Wegbeschreibungen zu erhalten.
"Geh zu der grossen Strasse - ja ich seh dich schon. Du hast deine Kamera dabei, oder?... ich bin auf dem Balkon. Folge der Frau mit dem weissen Mantel und der Handtasche. Jetzt geh ueber die Strasse, rechts, rechts - das beige Haus, das dritte, ja. Das zweite von links, fuenfter Stock, ich winke dir, siehst du mich?"
Ein paar Plattenbauten am Ende von Užupis. Keine Tuerklingel unten, ich kann einfach reingehen. Das Treppenhaus ist weit, wie in einer alten Schule, gruen gestrichen, ueberall mit Graffiti beschmiert.
Es ist ein Dorm, ein Bendrabutis, ein Wohnheim. Wie? Ein Wohnheim? Studenten?
Eher wie sozialistische Sozialwohnungen. Ueberbleibsl aus der UdSSR, der Tarybų Socialistinų Republikų Sąjunga, der TSRS. Ein langer Gang mit vielen Tueren, die zu Zimmern oder kleinen Wohnungen (zwei Zimmer mit Bad) fuehren. Eine gemeinsame Kueche pro Gang, ein Balkon.
Ich stehe mit Matas am Balkon, die Sonne scheint ueber Užupis, ueber den Plattenbauten, die auf der anderen Seite der Strasse stehen. Alles ist weiss und strahlt. Minus 10, minus 15 Grad?
"Komm, lass uns reingehen."
Auf den Weg durch seinen Gang, ein Blick in die Kueche, die nach seinen Angaben "ganz normal" ist.
Ein Herd, ein Tisch, eine Liege, auf der etwas das auf den ersten Blick aussieht wie die litauische Bildzeitung aufgeschlagen liegt, und zwei Waschbecken. Ja, "ganz normal", sehr kaerglich, doch in Ordnung. Im Moment ist der Raum mit Licht geflutet und sieht leer und verlassen, doch nicht trostlos aus. Doch dann sehe ich die Waschbecken genauer an. Eines ist "normal" (da ist schon wieder dieses Wort), ich meine es ist sauber, es wird wohl benutzt - das andere ist mit einer schwarzen Kruste ueberzogen.
Ich sage nichts. Was koennte ich sagen.
Wir kommen zu seiner Wohnung, wo er seit er 7 Jahre alt war bis vor 4 Monaten gelebt hat und wo er nun wieder wohnt.
Man tritt ein in einen kleinen Raum. Kabel haengen von der Decke, Putz blaettert ab. Drei Tueren fuehren in andere Raeume.
Eine Tuer in ein kleines Bad, welches letzte Woche renoviert wurde und ganz "normal" (ganz normal, ganz sauber, meinen Vorstellungen von einem Bad entsprechend) aussieht. So "normal" und so sauber, dass es eigentlich wie ein Wunder scheint, es hier in dieser Umgebung anzutreffen.
Eine weitere Tuer fuehrt in ein kleines Zimmer, welches Matas Zimmer war und nun wieder ist.
Ein Schrank, die Tuere haengt in der Angel, eine Kommode, ein kleines Regal an der Wand, von dem Matas stolz berichtet, dass er es letztes Jahr selbst gebaut hat, ein Bett unterm Fenster und eine Matratze auf dem Boden. Ein kleiner Computertisch, mit einem unbequemen rollbaren Buerostuhl davor, dess Lehne zu fehlen scheint.
Und ueber all - was ist es?
Ist es Muell?
Ist es Geruempel?
Ist es Grusch?
(Verstehen Nicht-Bayern dieses Wort?)
Ueberall: Dinge.
Kisten, riessige Ikeatueten, Plastiktueten, vollgestopft mit Dingen, ein Foto vom Eiffelturm, Buecher, Kabel, Handtuecher und Jacken haengen kreuz und quer an Hacken hinter der Tuer.
Das Bett ist vollgestellt.
Die Kommode ist vollgestellt.
Das Regal ist fast vollgestellt.
Die Hacken hinter der Tuer sind so voller Dinge, dass sich die Tuer nicht richtig oeffnen kann.
Auf dem Schrank tuermen sich Kisten, doch man kann nicht hineinsehen, ob auch innen drinnen alles voll ist - die Matraze liegt davor im Weg, so dass er sich nicht einfach oeffnen laesst, ohne davor die Matratze wegbewegt zu haben.
Der einzige Platz, der nicht voll von Dingen ist, ist die Matratze - dort liegt nur Matas Decke, weil er letzte Nacht dort geschlafen hat - und ein kleines bisschen Raum in der Mitte des Zimmers, wo es sich gut stehen laesst.
Und ja spaeter habe ich auch auf dem Bett, nach zwei, drei Handgriffen Platz zum sitzen gefunden.
Und alles ist mehr oder weniger von Staub ueberzogen.
Matas gehoeren in diesem Zimmer nur wenige Dinge: eine Tuete mit Klamotten, die er nun wieder in den Schrank zu stopfen versucht, der Computer, noch mehr Elektrosachen, wie Foto- und Videokamera samt Zubehoer, und einige Buecher.
"Krieg und Frieden" von Tolstoi liegt da, ein Buch ueber Kommunikation, das er gerade liest, das Rudolf-Steiner-Buch, das ich ihm aus Deutschland mitgebracht habe und natuerlich einige Werke von Hesse, unteranderem ein Essayband, aus dem er mir spaeter an diesem Abend noch einige Abschnitte ueber Jugend und Alter vorlesen wird.
Ein Blick in das Zimmer von Matas Mutter. Ploetzlich erscheint mir Matas Zimmer nicht vollgestopft und sauber und hell und ordentlich.
Die ehemals weisse Tuer hat viele Flecken.
Der Tuergriff fehlt, stattdessen ist an dieser Stelle ein Loch, durch das ein helllilanes Band gezogen ist, das scheinbar zum Oeffnen und Schliessen benutzt wird.
Das Zimmer ist mit einem grossen Regal in zwei ungleiche Haelften geteilt, auf der einen Seite ein Kuehlschrank, eine Mikrowelle - scheinbar ist das der Ort, der eher Esszimmerartige Bereich.
Im Moment steht auf einem Tisch - ist es ein Tisch? eine Kommode? ich kann es nicht erkenne, hier sind so viele Dinge, ich bin so abgelenkt - ein Teller und eine Pfanne mit Nudeln. Matas Mittagessen.
Dahinter mehr Dinge, mehr Tueten, mehr Kartons, mehr Kisten.
Alles voll mit Dingen.
Es ist schwer sich auf etwas genaues zu konzentrieren.
Nur in Mitten des Ganzen steht ein Sofa (?)/ ein Bett (?) mit Decke.
Ein kurzer Pfad fuehrt dorthin.
Ausgerichtet ist der Blick, den man vom Bett (?)/ Sofa (?) haben muss auf einen kleinen verstaubten Fernsehen, der auf einer Kommode steht.
"Most of the time when she s home, she just lies here and watches TV".
Matas hat sich inzwischen auf das Bett (?) seiner Mutter gelegt und sieht mich an.
Ich stehe da, unfaehig mich zu ruehren.
Wie ich jetzt wohl dreinblicke.
Normaler weise bin ich fuer Matas "leicht zu lesen".
Sieht er meinen Schock, meine Ueberrachung?
"And this is my painting.", er deutet auf ein paar violette Striche und Kreise auf der ehemals weissen Wand hinter dem Fernseher.
"Tell me more about it" fordere ich ihn auf.
"It shows how angry and depressed I can get when living here."
Yes, I can understand.
Oh Matas, wie kannst du hierher zurueck gezogen sein?
Auch wenn dich dein expressiver italienischer Mitbewohner mit seinen ewigen Gespraechen ueber Frauen aufgeregt hat und du nie deine Ruhe hattest. Du musst es wirklich sehr gewohnt sein, hier zu leben, wenn du es nur fuer Ruhe und Geldsparen in Kauf nehmen kannst.
Und ich dachte schon die Wohnung von dir und dem Italier sei unordentlich und hygienisch bedenklich.
Ich kann ploetzlich verstehen, was mich am Samstag noch so verwundert hat.
Matas rief seine Mutter an, ob er kurz nach Hause kommen koennte, um etwas abzuholen. Seine Mutter sagt ihm, er koenne allein kommen, aber mich duerfe er nicht mitbringen, die Handwerker haetten er das Bad renoviert, es sehe noch so aus.
"You are the fourth friend of mine, that is visiting my home." Nur zwei gute Freunde und seine Exfreundin waren jemals zuvor bei ihm gewesen.
Spaeter kommt seine Mutter nach Hause. Sie ist ueberrascht ueber meine Anwesenheit - ich habe sie erst einmal vorher getroffen - doch laut Matas ungewoehnlich freundlich zu mir.
Bietet mir Tee an, fragt ob es mir nicht zu kalt ist und schimpft Matas, dass er meine Jacke nicht aufgehaengt hat.
Sie scherzt sogar mit mir, fragt mich ob ich nicht eine Schere habe. "Eine Schere? Hier?" Mit ein paar Handbewegungen deutet sie hinter seinem Ruecken an, Matas Haare zu schneiden.
Lachend erklaere ich bedauernd, dass ich leider keine Schere habe, ihr aber ob der Notwendigkeit voellig zu stimme, nur leider stehe das nicht in meiner Macht.
Matas scheint von den Socken, dass seine Mutter sich mir gegenueber so gibt, sich zwingt so gut gelaunt zu sein.
Unterhalten sie sich auf Litauisch verstehe ich nur teilweise, aber ich kann die aufgesetzte Liebenswuerdigkeit aus ihrem Blick verschwinden sehen. Das gibt etwas frei, dass ich nicht genau deuten kann: Ratlosigkeit, Traurigkeit, ein bisschen Wut, viel Ueberraschung. Matas Stimme wird tonloser wenn er mit ihr redet. Es scheint ihm egal. Resigniert, aussichtslos.
Wie koennen die Unterschiede zwischen den Welten, in denen wir aufgewachsen sind, so gross sein? Zwischen mir und ihm, mit dem ich so viel Zeit verbringe und der mir in den letzten fast drei Monaten so ein guter Freund geworden ist? Ich wusste, dass seine Familie anders ist, dass seine Beziehungen anders waren - doch so anders haette ich es nicht erwartet.
Ich denke, nun sein eigentliches Zuhause gesehen zu haben, kann mir viel helfen ihn zu verstehen - denn oft ist das nicht so einfach.
Einerseits kann dies vielleicht einiges an seinem Verhalten, seinem Charakter erklaeren - doch zur selben Zeit scheint es mir raetselhaft, wie er hier zu dem Philosophie und Kunst-Interessierten, intelligenten jungen Menschen hat werden koennen, der er ist.
Es erscheint mir genauso raetselhaft, wie die Tatsache, dass eine Zahnaerztin so leben kann.
(Doch ich sehe ich muss nun endgueltig raus aus meinem von Stereotypen und Vorurteilen gepraegten Denken).
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