Kleines Land ganz groß
Beim Geld überweisen, Videochatten mit Freunden und bald vielleicht auch beim Taxi fahren, estnische Erfindungen finden sich häufiger in unserem Alltag wieder, als man vermuten mag.
Internationale Erfolge
Die bis heute erfolgreichste und bekannteste Erfindung Estlands, welche die wenigsten Nutzer jedoch auch mit dem kleinen baltischen Staat in Verbindung bringen, ist vermutlich Skype. Der im Jahr 2003 eingeführte und kostenlose Messenger- und Videochatdienst wurde von den Esten Ahti Heinla, Priit Kasesalu und Jaan Tallinn entwickelt. Trotz neuer Konkurrenten wie Whatsapp, Facebook oder Instagram wird Skype noch immer von knapp 300 Millionen Menschen monatlich genutzt und hat in vielen Sprachen seinen festen Platz in der Alltagssprache gefunden. Aus dem Markennamen Skype wurde das Verb skypen, welches zwar noch nicht seinen Weg in den Duden, doch aber in die deutschen Wohnzimmer gefunden hat. Im Mai 2011 wurde das Unternehmen von Microsoft für 8,5 Milliarden US-Dollar aufgekauft, was bis zu Microsofts Übernahme von LinkedIn in 2016, die teuerste Übernahme des US-Konzerns darstellte. Das in Estland entwickelte Programm ist somit heutzutage eine 100% Tochtergesellschaft der Microsoftgroup.
Auch die Gründer des Geldtransferservice Transferwise mit mehr als 2000 Mitarbeitern kommen ursprünglich aus Estland. Kristo Käärmann und Taavet Hinrikus, welche beide inzwischen in London leben, störten sich an den hohen Transfer- und Bankgebühren, wenn sie Geld in ihre Heimat überweisen wollten, weshalb sie das Problem kurzerhand selbst in die Hand nahmen. 2011 konnten sie mit der Einführung von Transferwise ihre Lösung dann international vorstellen. Das Unternehmen mit Sitz in London wirbt mit kostenfreien Geldtransfers, auch in Fremdwährungen.
Wer nun aber glaubt, dass estnische Erfindungen erst seit den 2000er die ganze Welt erobern können, irrt sich, was mit Blick auf die 1939 entworfene Minox-Miniatur-Kamera deutlich wird. Zwar handelt es sich bei Minox um eine deutsche Firma mit Sitz in Wetzlar, doch wurden die ersten Entwürfe und Ideen für die ungefähr fingergroße Kamera von dem Deutschbalten Walter Zapp in Tallinn notiert. Die winzige Kamera hatte sogar 1969 einen Auftritt in dem James Bond-Film „Im Geheimdienst ihrer Majestät“, durch welchen sie an Popularität gewann. Bis heute ist die Minox-Miniatur-Kamera bei Sammlern und James Bond-Fans sehr beliebt.
Internationale Durchbrüche auch für andere Unternehmen?
Doch in Estland schlummern noch weit aus mehr Unternehmen, die nur auf ihren Durchbruch auf dem internationalen Markt warten. Bolt beispielsweise ist aus dem estnischen Alltag und Städten wie Tallinn oder Tartu gar nicht mehr wegzudenken. Das 2013 unter dem Namen Taxify in Tallinn gegründete Unternehmen funktioniert ähnlich wie der bekannte, amerikanische Taxianbieter Uber. Per App können gewünschter Fahrer und Auto, die sich in der Nähe befinden, angefordert werden, durch eine Verknüpfung von Kreditkarte und App läuft das Bezahlen nach dem Transportservice völlig bargeldlos ab. Derzeit ist das Unternehmen zwar bereits in 35 Ländern aktiv, dabei unter anderem auch in Südafrika oder Tansania, Deutschland fehlt jedoch noch auf unbestimmte Zeit. Der deutsche Markt ist zwar äußerst attraktiv, jedoch durch rechtliche Hürden für Bolt schwer zu erobern. Erst Ende 2019 geriet Konkurrent Uber in Deutschland nämlich aufgrund des Personenbeförderungsrechts in einen Rechtsstreit mit dem Landgericht Frankfurt. In Deutschland gilt nämlich die sogenannte Rückkehrpflicht, wodurch Ubers oder theoretisch auch Bolts Wagen nach einem Auftrag erst in den Betriebssitz zurückkehren müssen, bevor sie einen neuen Auftrag annehmen dürfen. Dies schränkt die Unternehmen, welche auf eine schnelle und kostengünstige Transportvermittlung setzen, massiv ein. Bolt setzt daher derzeit vermehrt auf andere internationale Märkte oder seit August 2019 auch auf den Lieferservice von Essen. Bolt Food, welches überwiegend in Estland aktiv ist, arbeitet mit verschiedenen Restaurants zusammen, Kuriere liefern das vom Kunden – natürlich per App - bestellte Essen mit Fahrrädern, Motorrädern oder Autos aus.
Eine weitere Erfindung, die unbedingt im Zusammenhang mit Estland erwähnt werden muss, ist Kohuke. Zwar lässt sich heutzutage nicht mehr sicher zurückverfolgen, ob der Quarkriegel nun zuerst in Lettland, Litauen oder Estland aufgetaucht ist, beliebt ist er aber trotzdem im gesamten Baltikum. Im Supermarkt ist der Snack im Kühlregal neben Kinder Pinguin oder Milchschnitte auffindbar, der Geschmack lässt sich dennoch nicht vergleichen. Der Quarkriegel ist normalerweise von einer Schokoladenglasur umhüllt und beinhaltet Füllungen von Marmelade über Karamell bis hinzu Schokolade. Den Variationen sind dabei heutzutage keine Grenzen mehr gesetzt. Die bekanntesten estnischen Kohukemarken sind derzeit Tere und Saare. International ist Kohuke derzeit nur im Baltikum und westlichen Russland bekannt. Es bleibt also abzuwarten, ob einer der Produzenten es wagt, in der nahen Zukunft in andere Länder zu expandieren.
Warum Estland?
Mit Blick auf diese Erfindungen stellt sich die Frage, weshalb gerade Estland als kleinster baltischer Staat und mit gerade einmal 1,4 Millionen Einwohnern, so viele internationale Erfolge für sich zu verbuchen hat. Knapp die Hälfte des Landes ist von Wald bedeckt, die größte Stadt, Tallinn, hat noch nicht einmal eine halbe Million Einwohner. Trotzdem lässt sich beobachten, dass die meisten erfolgreichen Erfindungen, die aus Estland stammen, digital und technologisch hochanspruchsvoll sind, wie beispielsweise Skype oder Transferwise beweisen. Dies ist möglich, da der estnische Staat sich selber als digitalen Staat versteht, in dem Bürger online wählen können und Internetzugang seit dem Jahr 2000 ein Grundrecht ist. Für junge Erfinder mit einer Idee und Vision, die gute Netzverbindungen und technische Mittel braucht, sind das perfekte Ausgangsmöglichkeiten. Nicht umsonst wird Estland schließlich auch als Silicon Valley Europas bezeichnet. Auch ausländische Unternehmer werden immer häufiger aufmerksam auf die Vorzüge Estlands, seit dem der Staat die kostenlose e-Residency anbietet. Mit dieser digitalen estnischen Identität können Entrepreneure unabhängig von ihrem Standort ein EU-Unternehmen gründen und von den Onlinediensten Estlands profitieren, sodass ganze Unternehmen nur noch online organisiert werden. Die e-Residency ist für jeden Bürger der Erde zugänglich, unabhängig von Geburts- oder Wohnort. Seit September 2016 ist sogar Angela Merkel im Besitz der e-Residency, was für großes Aufsehen in Estland sorgte. Eine Anerkennung, die dem kleinen Staat im Alltag oft verwehrt bleibt, aber aufgrund herausragender Erfindungen, die unser Leben verändert haben, mit Sicherheit angemessen ist.
Quellen:
https://www.visitestonia.com/de/uber-estland/top-estnische-technologien-die-die-welt-verandern
https://de.wikipedia.org/wiki/Skype#Geschichte
https://de.wikipedia.org/wiki/TransferWise
https://en.wikipedia.org/wiki/Bolt_(company)
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/uber-aendert-sein-vorgehen-in-deutschland-16551040.html
https://en.wikipedia.org/wiki/Curd_snack
https://e-estonia.com/german-chancellor-angela-merkel-becomes-estonias-e-resident/
https://e-resident.gov.ee/