Kielce: Philantropie im Schnee
Johannson besucht über das Wochenende die Stadt Kielce. Die soll zwar von Touristen gemieden werden, aber er erlebt außergewöhnliches: Die wohl freundlichste Stadt Polens.
Wie lange wollte ich schon nach Kielce? Seit meine Freunde mir damals in England sagten, da kämem sie her. Und weil es eines der Zentren der östlichen ärmeren Regionen ist. Und seit ich weiß, dass es von Touristen gemieden wird – da erwacht sofort der Snob in mir. Bekannt ist es nur für zwei Dinge: erstens für seinen Bischofspalast, da die Stadt mal komplett den Krakauer Bischöfen gehörte. Zweitens für ein Pogrom an Juden 1946. Ich habe Kielce als freundlichste Stadt in Polen kennen gelernt.
Freitag
Schon im Zug merkte ich, dass da etwas nicht stimmt: die Karten waren billiger als im Internet stand, die Schaffner ausgesprochen freundlich, die Züge warteten aufeinander. Die Ankunft war der Traum eines Touristen: man hört immer wieder, das Kielce letztens renoviert wurde, und tatsächlich – direkt vor dem Bahnhof geht die schnurgrade Fußgängerzone durch das gesamte Zentrum los. Fast wie die Piotrkowska, nur dass auch am Samstag lediglich vor McDonals Leben herrscht. Ach wie hat sie gleich mein Herz erobert: noch bevor ich in die Herberge ging, fand ich eine wundervolle Kneipe, die Preise maximal halb so hoch wie in Warschau, die Stimmungs mindestens zweimal besser.
Lange konnte ich nicht bleiben, denn die Schuljugendherbergen machen grundsätzlich um 22 Uhr zu. Im Dunkeln fand ich sie gerade rechtzeitig. Dort arbeitete ich mich mit Kamillentee und ganz viel Mitleid sofort ins Herz der kranken Rezeptionistin. Dafür musste ich für zwei Nächte einen Preis bezahlen, für den man in Warschau nichtmal ein gebrauchtes Kopfkissen kriegt. Der allgemeinen Nächstenliebe nicht genug: Kielce hat wenig Touristen, daher waren in der Herberge v.a. Studenten dieser Wochenendkurse, die in Polen außerordentlich beliebt sind. Die sind alle in einem vernünftigen Alter, wollen lernen und früh schlafen. So war es angenehm ruhig, die Leute kennen sich scheinbar, jedenfalls begrüßen sie neue gleich und suchen mich morgens extra um sich zu verabschieden. Nicht wie sonst in diesem Land, wo man keinem Fremden traut. Ich habe noch viel gelesen und kam trotzdem früh ins Bett, was so alles geht sobald man kein Internet hat.
Samstag
Beim letzten Blick in den dunklen Schulgarten hatte ich noch gedacht, Mensch noch ziemlich weiß hier. Am nächsten Morgen fallen vor dem Fenster dicke weiße Flocken ohne Ende. Der Winter kam zurück, und das massiv. Keine Sorge, ich hatte Wintersachen dabei.
Anfang
Aufgrund des Rufs der Stadt hatte ich ein ruhiges Wochenende ohne viel Gerenne vorgesehen, insbesondere nicht wenn man durch Schnee stapft. Besuch, Kaffee, Besuch, Buch lesen, so der Plan. Das lief noch glatt auf dem Basar, auf den ich zuerst traf. Die Hauptstraße zeigte sich bei Tageslicht als Klassizismus aus dem 19. Jh, dreistöckig Häuser plus einige Socreal Einfügungen, viele Fassaden renoviert, Hinterhoefe erinnern an Lodz.
Im Stadtmuseum jedoch schon blieb ich zwei Stunden in der erkennbar frisch modernisierten Ausstellung hängen, sehr zur Freude der durchweg freundlichen Mitarbeiterinnen. Wieder draußen hatte sich der Schnee inzwischen in Matsch verwandelt und auch in der Touristeninformation wartete nur Enttäuschung: das hochmotivierte und wie immer superfreundliche Mädchen malte zahllose unvermutete Attraktionen auf meine Karte von Stadt und Umgebung, empfahl mir ihr Lieblingscafe, gab mir Nummern von Priestern und Frauen mit Schlüsseln zum jüdischen Friedhof. In der Verzweiflung nie und nimmer den Gesamtbesuchsanspruch umsetzen zu können schleppte ich meine vielen neuen Broschüren zum Bischofspalast, um wenigstens die wichtigsten Dinge zu sehen.
Kloster Karczówka
Jedoch teilte mir der extrem freundliche Wachmann (!) mit, dass der Hauptgrund Kielce zu besuchen langfristig für Renovierung geschlossen ist. Gott sei Dank! So konnte ich im empfohlenen Cafe die Mönche im Kloster Karczowka anrufen. Zum Glück war mir die Nummer gegeben worden, denn ich erfuhr, dass ich gleich hinkommen müsste, weil später eine Hochzeit stattfinden. Das ist auf einem Hügel grad an der Stadtgrenze. So lief ich eine langsam ansteigende, mit Kreuzwegstationen gesäumte Straße hinauf, langsam aus Kielce raus. Oben wurde ich tatsächlich eingelassen und schnell rumgeführt, während ein weiterer Bruder Orgel und Gesang einstimmte. Vom Klosterhügel sah ich Kielce zum ersten Mal komplett: ziemlich grau und viele Fabrikschlote umgeben von den Bergfüßen eines beginnenden Mittelgebirges. Der Schnee fiel immer dicker.
Deutsches Ghetto, polnisches Pogrom
Im dichten Treiben und den Hochzeitsautos entgegen stieg ich wieder ab und lief zurück ins Zentrum. Nach einem kurzen Blick in die ehemalige orthodoxe Kirche wollte ich vor der Dämmerung v.a. die Spuren des Pogroms finden. Das hat Kielce (fast so sehr wie der Paradefall Jedwabne) und Polen als ganzes einen bleibenden schlechten Ruf eingebracht und wurde erst nach einer langen Kontroverse überhaupt öffentlich diskutiert. Ich war fast überrascht, wie selbstverständlich und ungenervt man auf die Erwähnung reagierte und wie klar der Ort gekennzeichnet ist. Am Haus sind mindestens drei Plaketten und ich glaube noch Einschusslöcher. Nicht weit ist ein Mahnmal, was aber mehr an ein gekacheltes Bad erinnert.
Die Straße rüber ist eine halb im Bordstein versenkte Menora. Das ist eigentlich das erste Mahnmal, für die Opfer des unvermeidliche Ghettos, mit Erinnerungen an seine Räumung inklusive einiger besonders teuflischer Details, was die SS bei der Räumung des Krankenhaus mit Chirurgiemessern gemacht hat. Umso erstaunlicher, dass die Straße hoch die Synagoge komplett erhalten ist, wenn auch in stark veränderter Form als Stadtarchiv.
Ende
Da es langsam dunkel wurde sah ich mir noch die älteste Kirche der Stadt an, St. Wojciech. Dann erkundete ich eine Kneipe, die mir Joanna empfohlen hat. Später kam ich in ein Cafe, wo ich in ein langes Gespräch mit Zuza der studentischen Verkaufskraft geriet, die natürlich ausgesprochen freundlich war und sich mit mir bis lange nach Ladenschluss unterhielt. Sobald ich mich hingesetzt hatte, merkte ich, wie fertig ich eigentlich war und ließ andere Ausgehpläne fallen um früh nach Hause zu fahren. Ich war so erledigt, dass ich nichtmal ein schlechtes Gewissen bekam, den Tag so konservativ zu beenden.
Sonntag
Sonntagmorgen trieb noch mehr Schnee vor dem Fenster. Die gesamte Herberge packte ihre Sachen, und ich machte mich auf die vergebliche Suche nach einigen Punkten der Besucherroute vom Flugblatt der jüdischen Gemeinde. Halb zehn ging ich in die Basilika vor dem Bischofspalast, die ist offen und dort haben die Katholiken innendekorationstechnisch nichts anbrennen lassen. Aufgrund des Schnees strich ich den außerhalb liegenden jüdischen Friedhof von der Liste zugunsten von trockenen Zielen.
Da kam zuerst das Museum der Schuljahre von Stefan Zeromski, seines Zeichens einer der bekannteren Poeten dieses Landes. Andere Museen wurden noch renoviert, deshalb ging ich doch noch in den neueste Zugang: das Spielzeugmuseum. Das hat mich ursprünglich nicht interessiert, ich war aber sehr schnell sehr eingenommen. Erst ein paar Jahre alt und in mehrere nicht zu lange Themenbereiche gegliedert haben mich besonders der Abschnitt zu Spielzeug aus der Zeit des Sozialismus, die elektrische Eisenbahn sowie die Theaterpuppen nostalgisch lächeln lassen.
Zurück in Warschau
Dann rang ich mich durch, endgültig Schluss zu machen und zum Bahnhof zu gehen. Auch vor meinem Warschauer Wohnheimfenster finde ich jetzt ein Winterwunderland. Dicker Schnee auf jedem Ast und Busch. Das Fahrrad wird wohl die nächste Woche zuhause bleiben.