„Kafija ar politiķem“
Diese Reportage soll die sozialpolitische Lage in Lettland schildern. Wie steht es um die soziale Inklusion der Randgruppen, wie zum Beispiel Menschen mit Behinderung?
Es ist ein wunderschöner Herbsttag und vielleicht zum letzten Mal erstreckt die Sonne ihre herrlich warmen Strahlen auf die Straßen von Rēzekne. An diesem Tag zieht es mich in die Aula des Jugendzentrums von Rēzekne, das „Zeimuls“, in welchem ich nun für ein Jahr als Freiwilliger tätig sein werde. Der Geruch von Kaffee steigt mir in die Nase, als ich den großen Saal betrete - um mich herum versammeln sich Menschen aller Altersklassen. Hübsch gekleidete Jugendliche, Männer im Anzug und sogar ältere Damen und Herren zieht es hier her. Das Event, an welchem ich teilnehme nennt sich „Kafija ar politiķem“- Kaffee mit Politikern. Auf meinem Tisch registriere ich ein gelbes Schildchen mit der Aufschrift „soziale Inklusion“. War es Zufall, Absicht oder Glück? Ich weiß es nicht, doch mit dem Thema soziale Inklusion habe ich mich in Deutschland schon oft beschäftigt. Durch meinen körperlich eingeschränkten Bruder gewann ich Kontakt zu vielen Menschen mit Behinderung und so kam es, dass ich an vielen Projekten teilnahm, welche sich mit der Stellung von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft beschäftigten.
Wie auch immer - an diesem Tag finden sich also Politiker der gesamten Provinzhauptstadt im „Zeimuls“ ein um mit Jugendlichen über verschiedene Themen zu debattieren, ihre Meinungen zu hören und Wünsche zur Kenntnis zu nehmen. Doch wie stehen die Politiker dem Thema soziale Inklusion gegenüber und wie denken sie über Menschen mit Behinderung?
Eine kurze Ansprache, noch schnell einen Kaffee geholt und dann kann die Diskussion beginnen. Schon die erste Runde lässt mich kräftig Schlucken. Mein Kaffee läuft kurz über und breitet sich auf dem kleinen Unterteller aus. Es ertönt die Behauptung, dass Menschen mit Behinderung von Geburt an in psychischer Behandlung gehen sollen um zu akzeptieren, dass sie etwas anderes sind. Der ältere Herr spielt energisch mit seinem grauen Bart herum und steht sehr selbstverständlich und selbstbewusst hinter seiner Aussage. Doch das ist nicht genug. Ohne die Antworten der anderen Teilnehmer zu registrieren fährt er fort, beide Arme vor dem Bauch verschränkt, indem er anfängt von der Geschichte zu schwärmen. Er äußert sich: „Heutzutage sehen ich so viele Menschen mit Behinderung, damals in der Sowjetunion gab es sowas nicht“. Ich spüre das Blut, welches stark in meiner Hauptschlagader beginnt zu pulsieren, und eine Wut und Diskussionsfreudigkeit baut sich in mir auf. Erneut vergieße ich Kaffee. Nach einer kurzen Zeit schaffe ich es mich zu beruhigen, denn eine nächste Diskussion wartet auf mich. Meine Augen erstarren. Erneut darf ich ähnliche Argumente zur Kenntnis nehmen - dieses Mal jedoch von einem relativ jungen Politiker. Wieder richten sich Aussagen gegen die soziale Inklusion von Menschen mit Behinderung. Meine Argumentation findet wenig Gehör und noch weniger Verständnis. Der junge Politiker richtet selbstbewusst seine blaue Krawatte, erhebt sich und Erleichterung erfasst mich als er den Platz wechselt. Zu empfindlich bin ich, wenn es um das Thema Menschen mit Behinderung geht. Geschockt und äußerst deprimiert verlasse ich den Raum.
Die Situation von Menschen mit Behinderung in den ehemaligen Sowjetstaaten war schon immer eine kritische Sache. In der Zeit der Sowjetunion gab es folgende ideologische Grundregel: Im Kommunismus existieren keine behinderten Menschen. Sie sollen ihre Anzahl in der „richtigen“ sozialistischen Gesellschaft kontinuierlich verringern. Die Realität sah folgendermaßen aus: Nicht die Ideologie trug zu einer geringeren Anzahl von Menschen mit Behinderung bei, wie der ältere Herr im Gespräch standhaft betonte, sondern man versuchte die Geburt behinderter Kinder von Anfang an zu verhindern. Eltern wurden gedrängt bei geistigen und schweren Behinderungen ihre Kinder in Heime, hier „Internate“ genannt, abzugeben. Hier erwartete die Kinder ein menschenunwürdiges Leben. Keine Förderung, keine Bildung, kein Kontakt zu den Eltern. Die Lebenserwartung liegt bei 16 Jahren. Entscheiden sich die Eltern dafür das Kind zu behalten, stoßen sie im Alltag auf viele gesellschaftliche Barrieren. Es fehlt den Eltern an nötigem Wissen und an finanziellen Mitteln, das Kind darf nicht zur Schule gehen, also muss eine Betreuung gewährleistet werden und Freunde und Familie wenden sich ab. Spott in der Gesellschaft war die Folge.
Durch die Teilnahme am Projekt „Du Down“, gefördert bei Conduco e.V., welches sich mit der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung speziell in Russland beschäftigt, erhielt ich einen genaueren Einblick in die Situation vor Ort. Ich machte Bekanntschaft mit einem älteren russischen Mann, welcher mir seine Geschichte berichtete: 16 Jahre zuvor wurde bei seiner Tochter das Down Syndrom festgestellt - ein Syndrom, bei dem aufgrund einer Genommutation das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach vorhanden sind, welches sich in unterschiedlichen Maßen auf die Gesundheit des Kindes auswirkt. Für die Ärzte gab es sofort nur eine Lösung: das Kind nicht austragen. Es würde die Familie zerstören und kein schönes Leben haben. Falls es dennoch ausgetragen werden sollte, solle es in ein „Internat“ geschickt werden. Doch der Mann wollte, bevor er seine Tochter abgibt, einen Einblick in so ein „Internat“ bekommen. Was er sah: Erschreckend! Ein menschenunwürdiges Leben auf engstem Raum, schlechte Lebensbedingungen, Gestank und überfordertes und unfreundliches Hilfspersonal. Von Therapie, Förderung und Beschäftigung keine Spur. Für Windeln, Füttern und Waschen bleiben pro Kind nur wenige Minuten. Die Lebenserwartung ist nicht hoch. So wenig Geld wie möglich möchte der Staat an diese Internate verlieren.
Die Behinderung - eine Gottesstrafe? Ein altes Vorurteil, was sich bis heute festhält. Da zur Zeit des Kommunismus wenige Erfahrung im Zusammenleben mit Menschen mit Behinderung gemacht wurden - was ich äußerst schade für eine Gesellschaftsform finde, in der doch alle gleich seien sollen - halten sich bis heute viele Vorurteile in Ländern der ehemaligen Sowjetunion. So auch zum Teil in Lettland, was meine Begegnungen zeigen. Glasnost und Perestroika haben damals durch eine Öffnung zu Informationen aus dem Westen eine Änderung herbeigeführt - doch keinesfalls flächenüberdeckend. Ein neues Denken machte sich punktuell breit: Menschen mit Behinderungen brauchen ein Leben in Würde und Selbstbestimmung. Mit dem Ende der Sowjetunion haben viele Staaten mittlerweile ihre eigene demokratische Verfassung, in welcher alle Menschen gleiche Rechte haben sollen und somit auch Menschen mit Behinderung. Das hat viele Eltern in ihrem Kampf für die Zukunft ihrer Kinder ermutigt, wie auch später den russischen Mann. Doch dem entgegen steht wenig Verständnis in den staatlichen Behörden und eine schlechte wirtschaftliche Lage, denn die soziale Inklusion erfordert hohe finanzielle Mittel. Die Situation ist gekennzeichnet durch eine Angst um die finanzielle Existenz. Eltern haben Angst ihre Arbeit zu verlieren, die Sozialhilfe ist zu gering und zudem sind viele Mütter alleinerziehend. Gründe, warum die Zukunft von schwerbehinderten Kindern noch immer besonders unsicher ist.
Doch mit dem Beitritt Lettlands zur europäischen Staatengemeinschaft 2004 haben sich viele Dinge geändert. Lettland wird moderner und somit auch das Denken in Bezug auf Menschen mit Behinderung, jedenfalls bei der jungen Generation. Ein Beispiel dafür durfte und darf ich auch im Laufe meines Auslandsaufenthaltes miterleben: Das Projekt „Eņģeļi ar mums“- „Engel mit uns“. Hier haben Eltern von Menschen mit Behinderung die Möglichkeit ihre Kinder für eine gewisse Zeit in professionelle Betreuung zu geben. Zwei sehr engagierte Mitarbeiterinnen arbeiten in vielerlei Hinsicht mit den Kindern zusammen und trainieren mit ihnen die Bereiche der Motorik, Akustik und Artikulation. Außerdem beraten sie gerne die Eltern. Meine Aufgabe ist es sie dabei zu unterstützen, was mir eine große Freude bereitet. Dieses Projekt ist ein großer Schritt im Bereich der Bildung und Förderung von Menschen mit Behinderung. Nicht der Mensch mit Behinderung hat sich, wie der ältere Herr es bei „Kafija ar politiķem“ fordert, zur Wahrung seiner Rechte anzupassen, sondern das gesellschaftliche Leben Aller muss von vornherein für alle Menschen ermöglicht werden, wie es auch in der UN-Behindertenrechtskonvention niedergeschrieben ist.
Mit meinen Erlebnissen vom „Kafija ar politiķem“ verlasse ich also nicht nur mit hängendem Kopf den Raum, denn es war eine riesen Erfahrung wert.
Mit dem Öffnen der Tür fallen die Sonnenstrahlen auf mich ein, ich gucke entschlossen nach oben und bin bereit als Freiwilliger etwas an dieser Situation zu ändern. Ich möchte einen kleinen Schritt gehen in eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung und ohne Barrieren, in welcher Alle miteinander leben und wirklich Alle gleich sind, auch wenn diese Gesellschaft wohl vorerst ein weit entfernter Traum bleibt.
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