Im Vorübergehen I
Ein paar Anekdoten, Impressionen und Einblicke in den Alltag in Litauen.
Ich bin Sonntagabend im Iki, einer litauischen Supermarktkette. Draußen hat es gerade angefangen zu regnen und ich weiß, ich muss noch etwa fünfhundert Meter bis zur nächsten Bushaltestelle Richtung Wohnung laufen. Etwas schlecht gelaunt hole ich mir ein sūrelis mit Mohn aus dem Regal, eine hier typische Süßigkeit. Wenigstens ist die Schlange an der Kasse kurz, nichts ist schlimmer als lange Schlangen. Ich stelle mich an und versuche die sechsköpfige Gruppe pubertierender Halbstarker vor mir zu ignorieren, bis ich höre, wie einer von ihnen mich anspricht. Ich hebe den Kopf, "hm?", und sehe nur, wie er die Nase hochzieht und irgendetwas daherbrabbelt, dabei mit dem Kinn auf mich zeigt und nicht gerade freundlich guckt. Angst habe ich zwar nicht, aber besonders wohl fühle ich mich auch nicht, zumal ich die Gruppe schwer einschätzen kann. "Entschuldigung, ich verstehe nicht sehr viel", sage ich ihm auf Litauisch. Daraufhin dreht er sich zur Verkäuferin, erklärt ihr etwas in ähnlich unfreundlichem Ton, macht kehrt und zieht die anderen Jungen wie magisch mit sich. Während die Kassiererin mir auf Englisch übersetzt, dass sie mir sagen soll, der Junge fände meine Haare schön, dreht er sich nocheinmal zu mir um und grinst mich mit Zahnlücke an. Auch ich muss grinsen.
Nachdem ich den gesamten Tag zuhause in meinem Zimmer war, ich weiß nicht mehr warum, vielleicht hatte ich einfach frei, wurde es mir zu eng zwischen den vier Wänden. Wie immer, wenn ich schlechte Laune habe und die Zeit es mir erlaubt, nehme ich den Bus in die Altstadt und versuche mich unter die Leute zu mischen, um neue Eindrücke zu sammeln. Ich tiger von hier nach dort, kaufe mir an einem Obststand eine Banane für 50 Centas und lerne dabei, was fünfzig auf Litauisch heißt (penkiasdešimt), schaue mir den kleinen Park neben der Unterführung an und stoppe dann vor einem gemütlich wirkenden Wollladen. Ich hatte schon seit längerer Zeit vor, mir rote Wolle in mein Haar zu flechten, doch wollte ich mir keinen ganzen Ballen kaufen, da sich das nicht gelohnt hätte. Nur mal so zum Preisvergleich gehe ich in das Geschäft und schaue mich bei den roten Farbtönen um. Die Verkäuferin gesellt sich sofort zu mir, fragt mich, wo ich denn herkäme, als sie mitbekommt, dass ich nicht von hier bin, und fängt an, in etwas gebrochenem deutsch mit mir zu quasseln, über ihre Kinder, ihren Mann, ihre zwei Hunde. Sie sucht vier Rottöne für mein Haar aus und schneidet mir so viel ab, wie ich möchte. "Wieviel soll ich dafür bezahlen?", frage ich. Die Frau lächelt: "Natürlich nichts. Für dein schöne Haare. Und dass du einmal wiederkommst!"
Immer wieder gerne.
Wir sitzen in einer winzigen Bar aus Holz und Qualm, trinken dunkles Fassbier und spielen Schach auf einem überdimensionalen Brett das aussieht, als hätte es die letzten Kriege um haaresbreite überlebt. Ein riesiger Bär von Mann kommt durch die Tür direkt auf uns zu und setzt sich an die Tischkante. "Was ist los?", fragt Fjodor ihn auf Litauisch. "Nichts, nichts", antwortet der Mann und schaut uns weiter zu. Nach etwa zehn Minuten spricht er ihn erneut an, diesmal auf Russisch, und ich verstehe nicht, worüber sie reden. Er zeigt auf mich, ich höre "Germania", und in fließendem Deutsch erklärt der Mann mir, wie ich meine Figuren setzen soll, um die Partie zu gewinnen. Dem einen in russisch, der anderen in deutsch Ratschläge erteilend spielen wir die Runde zuende, teilen uns ein Bier, werden herzlich umarmt und wieder allein gelassen. "Wo kam der denn jetzt eigentlich her?"
Es ist zu kalt, um meine Hände aus den Jackentaschen zu nehmen, und zu schwitzig, um sie drinnen zu lassen. Ich spiele mit den paar Münzen, die ich in der rechten Taschen umherklimpern lasse. Ich mag es nicht, wenn meine Hand bleiern riecht, wenn ich Münzen anfasse. Meine Schuhe klackern leicht auf dem Betonboden der Unterführung, ich nehme die erste Treppenstufe zur Straße hinauf und lasse ohne weiter nachzudenken die paar Kleingeldmünzen in die Mütze der alten Bettlerin an der Stufe fallen. Nur zufällig treffen sich unsere Augen für eine halbe Sekunde und nur zufällig gerade in dem Moment, in dem die ihren wie in unverhofftem Glück aufstrahlen.
Paulina und Urtis begleiten mich durch die Kastanienallee nach Hause, es ist etwa neun Uhr abends, außer einem Jogger und einem Pärchen sehen wir niemanden mehr auf der Straße. Wir gehen an einem Friedhof entlang, auf dessen Eingangstor ein Davidstern prangt. Später setzen wir uns auf die Mauer vor Urtis´ alter Schule, und wie nebenbei fragt Paulina mich: "Hasst du eigentlich Juden?"
"Bitte was?"
"Ich mein nur, du kommst ja aus Deutschland. Und das wär ok, ich mag dich ja auch so, du kannst ruhig Juden hassen."
Normalerweise rauche ich nicht alleine. Und gerade an diesem einen Spätnachmittag, nachdem ich nach einem achtsündigen Arbeitstag in der Laisvės Alėja herumschlendere, erscheinen vor mir die großen Stufen der Kirche und ich entscheide mich spontan dazu, die letzten Sonnenstrahlen bei einer Zigarettenrauch zu genießen. Die Menschen kreuzen den Platz vor mir wie fleißige Ameisen, hier mal zu zweit, zu dritt, dort alleine auf dem Fahrrad. Ein Mann mit einer großen Fernsehkamera kommt mir entgegen und klettert neben mir die Stufen hoch. Nach kurzer Zeit schaue ich hoch udn sehe die Kamera auf mich gerichtet, drehe mich aber sofort wieder weg und denke mir nichts dabei. Direkt vor mir ist ja die Stadtmitte, die er bestimmt anvisiert. Nach weiteren fünf Minuten schaue ich erneut hoch und doch, die Kamera ist auf mich gerichtet. "Entschuldigung...filmen Sie mich?", frage ich. "Nein, nein", bekomme ich als Antwort, "nur deine Hand."
Ohne Anstalten zu machen, sich zu entschuldigen oder wenigstens seinen Film zu stoppen erklärt er mir, dass er eine Studie übers Rauchen drehe, und an Plätzen wie diesen hier Hände aufnähme. Dass ich ihm daraufhin erkläre, dass es ein Unding sei, einfach so Leute zu filmen, ohne deren Erlaubnis oder wenigstens deren Wissen zu haben, scheint ihn wenig zu scheren, denn er packt nur seine Dinge zusammen, geht seelenruhig davon und sagt mir zuletzt, er habe ja nicht mich gefilmt, nur meine Hand. Ich verkneife mir ein Schimpfwort.
Ich bin mit einer der Freiwilligen aus Kaunas auf einen Kaffe verabredet. Da ich noch eine Karte kaufen und schreiben will, bin ich schon eine Stunde früher in der Altstadt, setze mich bei dem noch recht warmen Wetter auf die Bank und mache mich ans Schreiben. Mit einem Mal merke ich, wie sich rechts und links von mir zwei Männer niederlassen, näher an mir heran, als es sich für Fußgänger gehören würde, die eine Pause und einen Sitzplatz brauchen. Etwas unsicher schaue ich hoch und werde von beiden Seiten von bärtigen Männern in neongelben Jacken angegrinst. "Was ist los?", frage ich ein bisschen nervös.
Die Männer merken das und fange gleichzeitig an zu lachen. Der eine von beiden pfeift nach hinten und ruft einen weiteren Mann heran, der auf seiner anschaulichen Plautze etwa dreißig verschiedene Namen und Telefonnummern stehen hat. Litauischer Junggesellenabschied! Ich soll meinen Namen, meine Nummer und einen Wunsch auf den Bauch schreiben, denn der Bauch hier sie ein Wunderbauch, verrät mir der eine Jackenträger. "Nächste Woche Samstag wird gefeiert, mit Polka, du bist eingeladen!", wird mir von der anderen Straßenseite zugerufen, als ich die Truppe später noch einmal wieder sehe.
Es ist morgens halb elf im Büro. Es sieht so aus, als sei bis Mittag nicht viel zu tun außer ein paar Studienarbeiten zu lesen, Kaffee zu trinken, und mit meinen Kolleginnen Pläne für nächste Woche zu erstellen. Jolita, meine Mitarbeiterin, kommt mit einer Pralinenschachtel in den Raum und bietet auch mir etwas an. Ich nehme mir eine heraus, woraufhin sie mir eine zweite in die Hand drückt. "Wir sind hier in Litauen, da muss man immer zwei nehmen! Das bedeutet, dass man nicht alleine sein möchte." Dan bückt sie sich zu mir runter und flüstert mir wie ein Schulmädchen ins Ohr: "Lithuania ist the country of looove."
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