Ich habe so ein Glück
Es gibt Momente im Leben, die einem zum Nachdenken bringen. Ein solcher Moment war die Rückfahrt vom comeback2014 von Berlin nach Passau.
Ich sitze mit vier weiteren ehemaligen Freiwilligen im Zug nach Passau. Auf der Rückfahrt vom Comeback2014. Wir haben uns am Wochenende kennengelernt und freuen uns jetzt auf das Ankommen in Passau.
Ich habe so ein Glück, denke ich.
Hinter uns sitzt ein Ausländer und spricht auf Englisch mit dem Polizisten, der im Zweier nebenan sitzt. Er bedankt sich bei dem Polizisten, betont immer wieder, dass er so ein Glück hat. Jedes Mal, wenn er Zug fährt, ist ein Polizist anwesend. Ich höre dem Gespräch zu und stelle mir sein Herkunftsland vor. Er hat einen osteuropäischen Akzent. Vielleicht kommt er aus der R. Moldau? Oder Rumänien? Vielleicht auch aus der Ukraine oder Russland. Wie schön es doch wäre, wenn ich jetzt durch die Straßen in Chisinau liefe. Noch vier Wochen. Dann geht mein Flieger nach Chisinau.
Ich habe so ein Glück, denke ich.
Ich beteilige mich wieder an unserem Gespräch. Wie toll das Wochenende war, wie das Studium läuft, was wir gerne in Passau machen und dass wir uns auf jeden Fall in Passau weiterhin treffen müssen! Alltägliche Gesprächsinhalte. Nichts allzu besonderes.
Plötzlich läuft der Mann, der mit osteuropäischen Akzent, an uns vorbei, gefolgt von einer Schaffnerin. Sie sieht genervt aus, gereizt, und treibt den Mann vor sich her, bis zum Ende des Wagens.
Es ist nur ein kurzer Aufruhr. Was mag wohl passiert sein? Wir stellen Vermutungen an, erzählen uns Geschichten von Schwarzfahrern, die wir früher schon einmal mitbekommen haben. Vielleicht hat auch er kein Ticket. Unser Gespräch wird nicht lange unterbrochen und wir knüpfen wieder da an, wo wir zuvor aufgehört haben.
Was für ein Projekt könnten wir in Passau machen? Brainstormig über die Zukunft. Der Nachklang des Comeback-Seminars.
Der Zug hält an und laute Stimmen klingen dumpf durch die Türen des Wagens. Ich verstehe nichts, aber es gibt offensichtlich eine heftige Diskussion. Wohl zwischen der Schaffnerin und jenem Mann.
Nur kurze Zeit später stürmt der Mann zurück in unseren Wagen, zielstrebig auf den Polizisten zu.
„Officer, officer! You need to help me! Please! They took my ID. Someone took my ID and got off the train. I have no ID. Without ID I am lost. I am nothing without my ID. I have to make a new one and it takes 7 - 8 months. They will kick me out of Germany. Please, officer, I need your help!“
Der Polizist legt sein Buch weg und versucht den Mann zu beruhigen. Er geht folgt ihm aus dem Wagen heraus. Mehr bekomme ich nicht mit. Der Polizist, der Mann und zwei Schaffner stehen noch lange vor der Tür und versuchen das Problem zu lösen.
Ich habe so ein Glück, denke ich. Nicht, weil ich immer wieder aufs Neue so wunderbare Menschen kennenlernen darf, wie an diesem Wochenende. Nicht, weil ich bald wieder nach Chisinau fliegen werde. Nicht, weil ich studieren darf und im Moment das Gefühl habe, alles richtig gemacht zu haben.
Ich habe Glück, weil ich noch nie, an keinem Ort der Welt, Angst haben musste. Angst davor, was passieren würde, wenn mein Pass weg wäre. Egal, ob in der R. Moldau, Brasilien oder Australien. Ich könnte zur Botschaft gehen und mir zumindest ein vorläufiges Reisedokument ausstellen lassen. Und falls nicht, würde ich mich trotzdem sicher fühlen können.
Und was, wenn ich ausgewiesen würde? Ich würde zurück nach Deutschland kommen und in mein altes Leben zurückkommen. Einige bürokratische Angelegenheiten regeln.
Doch ich müsste keine Angst davor haben, dass ich zurück in ein Land kehren müsste, das ich, aus welchen Gründen auch immer, verlassen musste. Denn ich habe das Glück aus einem Land zu kommen, in dem die wirtschaftliche Situation gut ist, welches sicher ist und in welchem ich mein Leben so gestalten kann, wie ich es möchte.
Der Polizist kehrt zurück, setzt sich auf seinen Platz, nimmt sein Buch und liest weiter. Es scheint alles geklärt zu sein. Der Zug fährt weiter und ich schaue aus dem Fenster.
Ich habe so ein Glück.