Ich gebe erste Englischstunden für Flüchtlinge
Seit dieser Woche lernen die anderen Freiwilligen und ich nicht nur Russisch, wir haben auch mit unseren eigenen Projekten begonnen. Für mich heißt das Englischstunden für die tschetschenischen Flüchtlinge jedes Alters zu geben.
Seit dieser Woche gebe ich mit einer anderen Freiwilligen Englischunterricht für die Tschetschenen. Im Kindergarten zu sitzen und ein paar der Flüchtlinge aus der Ferne zu sehen, ist etwas wirklich völlig anderes als jetzt mit ihnen zu arbeiten.
Endlich weiß ich, WER hier eigentlich lebt, bekomme ein Gefühl für diese Menschen. Für ihre Wünsche, ihre Ideen - und ihre Geschichte. Heute hat uns ein Mann (mit den Namen tue ich es mir etwas schwer…) ein selbst gedrehtes Video auf seinem Handy gezeigt. Die tschetschenische Armee gegen die Russen, auf tschetschenischem Boden natürlich. Er bedeutet uns, dass einer der Soldaten auf dem Bildschirm ein paar Meter weiter von uns am Tisch sitzt. Dann verändert sich das Bild, Russen dringen in ein Haus ein, stellen die Familie an die Wand. Alles ist mit tschetschenischer Musik unterlegt, offensichtlich nicht ohne Mühe zusammengestellt und aufs Handy geladen.
Während die Frauen vor Angst kaum ein Wort über ihre Vergangenheit herausbringen, will dieser Mann erzählen. Und da er keine Sprache spricht, die wir verstehen (obwohl er wie viele andere dreisprachig ist und damit, glaube ich, auch drei-alphabetig), zeigt er uns das Video. Was würde ich darum geben, einmal wirklich mit einem von ihnen sprechen zu können!
Aber das wird wohl noch dauern, wir verstehen gerade mal was sie von uns wollen - meistens. Wenigstens kann ich inzwischen zwischen Polnisch, Russisch und Tschetschenisch unterscheiden. =D
Überhaupt scheinen diese Menschen nicht ungebildet zu sein. Sie erzählen von Moskau, Deutschland und anderen Orten, die sie gesehen haben. Sie lassen Fetzen von Englisch und Deutsch durchblicken und lernen schnell - Aussprache ist für sie bei einem Alphabet von 44 Buchstaben sowieso kein Problem.
Überraschenderweise sind die Männer viel interessierter an sämtlichen Kursen, die wir anbieten, als die Frauen. Wir hatten es andersrum erwartet. Aber die Frauen, obwohl sie extra nach einer gesonderten Stunde ohne Männer gefragt hatten, erscheinen gar nicht erst. Die Männer, ca. im Alter von 24-50 Jahren, können dagegen gar nicht die nächste Stunde erwarten. Sie haben eben echt nichts zu tun, arbeiten dürfen sie ja nicht, Haushalt machen die Frauen. Do jutro? Mamy angielsko jutro? Bis morgen? Haben wir morgen Englisch?, fragen sie jedes Mal. Dann kommen aber doch immer andere von ihnen. Gesichter, die ich noch nie gesehen habe und welche, die ich nur flüchtig in Erinnerung habe. Gesichter, die nun endlich freundlich zurücklächeln.
Die Kinder bei der Stange zu halten ist noch schwieriger und bleibt nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Ich bin einfach nicht zur Erzieherin geboren. Sie wollen dieses und jenes nicht? Gut, solange sie nicht stören, dann eben nicht. Und wenn sie stören und nach einiger Zeit nicht aufhören, bin ich ganz gut darin das zu ignorieren.
Mit Spielen kann man noch ein paar Kids gewinnen, aber mit stillsitzen und abschreiben ist es nicht weit her. Woher auch? Viele gehen ja noch nicht mal zur Schule. Wo soll das dann herkommen?
Heute hatten wir schnell nur noch zwei Mädchen im Klassenraum sitzen. Eigentlich sollte es die Stunde für Kinder sein. Vorher hätte die Stunde für Frauen sein sollen und es waren nur Männer gekommen. Das ist wohl die größte Herausforderung für uns: irgendwie im Stoff voranzukommen, obwohl jeder kommt und geht, wann er will. Vor allem weil es für uns so unverständlich ist.
Ich hatte keine von beiden Mädchen je gesehen, was kein Wunder ist. Sie waren Schwestern, vielleicht 19 und 24 Jahre alt und damit in einem Alter, in dem man irgendwas in der Wohnung macht. Beide waren sehr eifrige Schülerinnen. Während Greta sich um das fortgeschrittene Englisch der Älteren kümmerte (wo hatte sie nur Englisch gelernt?), brachte ich der jüngeren bei, die Uhr zu lesen.
Kein Witz, ich bin mir ziemlich sicher, sie konnte es nicht. Sie konnte Zahlen sagen, hatte kein Problem mit "What time is it?" und so weiter, aber als ich ihr auf der Uhr die Zeit zeigte und sie bat, mir selbige auf Englisch zu sagen, hatte sie große Schwierigkeiten, mir zu folgen. Als sie fragte, ob die Zeiger Minuten oder Stunden zeigten, war ich mir dann sicher, dass sie es nicht konnte. Sie konnte im Gegensatz zu ihrer Schwester auch kein Polnisch, was hier ausgesprochen selten ist und nur bei Frauen mit einem Haufen Kinder vorkommt. Die bleiben nämlich standardmäßig im Center. Dieses Mädchen trug aber kein Kopftuch und schien mir damit nicht zu dieser Generation Frauen zu gehören.
Sie fragte, ob sie eine Zeichnung von der Uhr mitnehmen könne. Sollte sie nochmal zum Unterricht kommen, werde ich ihr meine Uhr geben. Sie ist eh nicht mehr schön und ich wollte mir eine neue kaufen. Vielleicht bekommt sie dann ein Gefühl für Zeit, auch wenn das hier nicht wichtig ist.
Das Witzigste für mich ist zu sehen, wie sie die englischen Wörter in russischer Lautsprache aufschreiben und dabei mich selbst im Kopf zu haben, wie ich noch am selbigen Tag die russischen Wörter in deutscher Lautsprache aufgeschrieben habe. Doppel o wie u gesprochen? Dafür hat niemand Verständnis, ebenso ein b wie ein b auszusprechen - sie sagen dazu nämlich etwas wie "weh".
Zusammen mit Anna Politowskajas Buch, diversen Filmen und den Trainings, die wir jede Woche über Tschetschenen haben, fängt sich an eine Vorstellung von dieser Kultur und ihrer traurigen Vergangenheit im Kopf zu bilden.
Ich hoffe sehr, dass ich die Chance haben werde, sie zu verstehen und ihnen weiterhelfen zu können. Das Center wird am 15. November geschlossen. Dann heißt es, die Flüchtlinge zum Unterricht in die Foundation zu bekommen. Ob sie darauf eingehen werden, steht in den Sternen. Ich kann darüber nicht nachdenken.